Justizakte M.

Die Geschichte eines Fälschers

30:43 Minuten
Herr M. in der Justizvollzugsanstalt.
Von 2013 bis 2016 war Herr M. als verurteilter Urkundenfälscher in der Berliner JVA Plötzensee inhaftiert. © Lukas Heibges
Von Jule Hoffmann und Lukas Heibges · 09.12.2019
Audio herunterladen
In den 70er-Jahren kommt Herr M. nach Berlin. Beim Finanzamt lernt er die bürokratischen Tricks. Von seinem Neuköllner Büro aus versorgt er die Menschen mit gefälschten Dokumenten. Sich selbst sieht er als guten Helfer. Dann fliegt alles auf.
"Hallo Erkan, bist du das? …Ich wollte wissen, wann bist du im Laden? Ja! Dein Hans ist das. Ach so, gut. Mal sehen… Weil das so schwer ist, mit der S-Bahn hin und her zu fahren, weißt du."
Ein Café im Berliner Stadtteil Charlottenburg.
"Ok, ja, dann mal sehen, dass ich am Samstag zu ihm komme. Ja? Gut. Dann bestell ihm ‘n schönen Gruß, wenn du ihn hörst. Und wir sehen uns. Gut, danke schön. Tschüss, tschüss."
Hans M., Jahrgang 1944, ist ein kleiner, zierlicher Mann, keine 1,60 cm, aber stets gut gekleidet. Das zu große Hemd schlägt Falten über seiner hageren Brust. Die Beine überschlagen, das schüttere Haar über den Kopf gekämmt, sitzt er vor einer Tasse Kaffee.
"Der hat überhaupt keine Lust, der Junge. Weißte, er will Geld haben und Geld verdienen, aber nichts tun."
Herr M. ist Urkundenfälscher. Von 2013 bis 2016 war er in der Berliner Justizvollzugsanstalt Plötzensee inhaftiert. Inzwischen ist er 75 Jahre alt.
Aus der Urteilsbegründung:
"Der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 69-jährige Angeklagte ist ledig und hat keine Kinder. Nach dem achtjährigen Besuch der Volksschule absolvierte er eine drei Jahre dauernde Ausbildung zum Betriebselektriker und arbeitete ein halbes Jahr in diesem Beruf. Sodann war er zwei Jahre in der Computerfirma von Konrad Zuse in Bad Hersfeld tätig, wo er mit der Entwicklung von Schaltungen befasst war. Anschließend erstellte er mit einem Bankkaufmann, der Kleinkredite vermittelte, die Buchhaltung für dessen Kunden. Das hierfür erforderliche Wissen hatte ihm zuvor ein befreundeter Sachbearbeiter eines Finanzamtes beigebracht."

Die Frau, die ihm alles beibringt

"Dann hab ich gesagt, ich muss richtig lernen, wie die Kleinunternehmer, wie die bearbeitet werden. Das kann man nur beim Finanzamt. Die Frau, bei der ich gelernt habe, war die Frau des Direktors vom Finanzamt. Sie hat alle Kniffe, alle Tricks gekannt. Das alles hat sie mir beigebracht, war nicht schlecht! An und für sich nicht schlecht."
"Im Jahre 1973 ging der Angeklagte nach Berlin, wo er durch den Kauf, der Restaurierung und der anschließenden Verpachtung von Gaststätten seinen Lebensunterhalt (verdiente). Im Zuge der Euroeinführung und der damit verbundenen Umrüstung von Spielautomaten in den Gaststätten auf die neue Währung erlitt der Angeklagte hohe finanzielle Verluste, weshalb er fortan wieder die Buchhaltung für Kunden aus dem Gaststättengewerbe erstellte und hierfür ein Büro in der Karl-Marx-Straße mietete."

"Karl-Marx-Straße, da war wirklich die Hölle los."
In diesem Büro in Neukölln arbeitete Herr M. nicht nur als Buchhalter für verschiedene kleine Firmen, sondern erweiterte seine Tätigkeit um ein Nebengeschäft: Er fälschte Gewerbeanmeldungen, forensische Gutachten und Aufenthaltstitel für Ausländer; außerdem Kontoauszüge, Schufa- und Mietschuldenfreiheitsbescheinigungen – Dokumente, mittels derer seine "Kunden" zum Beispiel einen Kreditvertrag oder den Zugang zu einer Wohnung bekamen. Sein Angebot sprach sich schnell herum.
"Von den anderen Kunden waren schon nicht mehr viel. Waren nur noch die! Alle in Neukölln haben Probleme. Ist immer noch so."
Aus dem Bericht des Landeskriminalamts am 19.02.2013
"Im alltäglichen Betrieb herrschte in den Räumlichkeiten des Beschuldigten M. reger Publikumsverkehr. Die Kunden / Auftraggeber kündigten ihren Besuch entweder telefonisch an oder erschienen ohne Termin zu den Öffnungszeiten. Die Räumlichkeiten waren in einen vorderen, öffentlich zugänglichen Büro- und Empfangsbereich und hintere, dauerhaft abgeschlossene Büro- und Privaträumlichkeiten des Beschuldigten M. aufgeteilt. Erschien ein Kunde / Auftraggeber, so wartete er im vorderen Bereich, welcher durch die Auszubildende Frau X (Genanntname: ‚Mandy‘) betreut wurde und in dem sich auch das von ihr genutzte Büro befand, oder der Kunde / Auftraggeber teilte der X seine Wünsche mit, welche sie dann für den Beschuldigten M. notierte. Die Herstellung der Falsifikate erfolgte augenscheinlich in den abgeschlossenen hinteren Räumlichkeiten. Die Kunden wurden gemäß Erkenntnissen aus der Telekommunikationsüberwachung jeweils einzeln durch den Beschuldigten M. empfangen und in den hinteren Bereich der Räumlichkeiten eingelassen."
"Alles, was schriftlich war, das wurde alles vorne gemacht, dann hab ich eine Buchhalterin gehabt, die hat an und für sich gut gearbeitet. Und ich hab hinten alleine gesessen, hab die Tür zugeschlossen und hab alles alleine gemacht. Weil die Arbeit, die ich gemacht hab, war ja nicht so ...legal. Aber ich hab das als legal empfunden, weil die Arbeit, die ich gemacht habe, hätte der Staat machen müssen, nicht ich."
Herr M. in jungen Jahren. Ein Mann steht vor einer 70er-Jahre-Tapete.
In den 70er-Jahren ging Herr M. nach Berlin, wo seine "Karriere" als Fälscher begann.© Lukas Heibges

Rentenversicherung, Versicherung – alles kein Problem

Versiert im Umgang mit Zahlen und amtlichen Briefen, ließ Herr M. sich von seinen Kunden teils auch Vollmachten geben, um für sie Termine beim Finanzamt wahrzunehmen, erzählt er.
"Gibt sehr viele, die kriegen einen Brief vom Jobcenter oder Sozialamt oder sonst woher, und die wissen gar nicht, was die wollen. Ja, und wenn sie dahin gehen, die legen die rein. Also muss man doch den Brief verstehen und eine Antwort geben. Und das war mein komplettes Angebot, über Rentenversicherung, über Versicherung, eben über alles. Ja, das war ein richtig großes Paket."
Aus dem Bericht des Landeskriminalamts am 19.02.2013
"M., der über gewisse buchhalterische Kenntnisse verfügt, brachte nach bisherigen Erkenntnissen seine Erfahrungen in die Fertigung solcher Unterlagen ein, welche entsprechende Kenntnisse voraussetzen. Dazu gehörten zum Beispiel Kontoauszüge, Lohnbescheinigungen, wirtschaftliche Prüfberichte, betriebswirtschaftliche Abrechnungen, Gewinn- und Verlustrechnungen, Unbedenklichkeits- und Freistellungsbescheinigungen, Gewerbeanmeldungen, SCHUFA-Auskünfte, aber auch Freizügigkeitsbescheinigungen EU und Anmeldebestätigungen (Aufzählung nicht abschließend)."
"Die scan ich ein, dann mal ich alle Striche nach, also wie ein Formular auszusehen hat. Und dann habe ich ein Blankoformular. Kostet ein bisschen Arbeit, aber dieses Blankoformular stelle ich mir dann selber her und dann kann ich die Namen schreiben. Stempel, egal, was auch immer, Datum. Aber das kommt dann später."


Mehrere Vorfälle, bei denen von Herrn M. gefälschte Papiere im Einsatz waren, legten die Spur zu seinem Büro. Auf einem gefälschten Kontoauszug fand sich ein Buchstabendreher in dem Wort "Griokonto". Ein anderer "Kunde" flog mit von Herrn M. gefälschten Kfz-Papieren auf. Schließlich sagte jemand bei der Polizei über ihn und andere aus.
Herr M. unterwegs in Berlin.
Weil jemand über Herrn M. bei der Polizei aussagte, flog alles auf.© Lukas Heibges

Er habe niemandem geschadet

"Er bringt ja ein bisschen was mit. Damit meine ich sozusagen die Vorstrafensituation, und dann ist die Zahl der Fälle natürlich auch nicht ganz unbedeutend."
Sagt Hannes Honecker, Rechtsanwalt für Strafrecht und Mitglied im Vorstand der Vereinigung Berliner Strafverteidiger, nach einem Blick in Herrn M.s Akte.
"Und dass es gewerbsmäßig betrieben wurde, ist auch nicht ganz unbedeutend. Da müsste man schon ziemlich in die Beweisaufnahme einsteigen, um eine Vielzahl von altruistischen Fällen vorzubringen, um genau das zu behaupten und zu sagen: Eigentlich bin ich der Rächer der Enterbten und derjenige, der sich für die Witwen und Waisen einsetzt."
Herr M. behauptet, dass die Menschen, denen er zu Wohnungen verholfen hat oder die mit seiner Hilfe Kredite bekommen haben, ihre Mieten oder Kredite bezahlen. Er habe niemandem geschadet, sagt er.
"Wenn man diese Fälle herausarbeiten kann, dann arbeitet man sie heraus als Strafverteidiger und trägt das vor. Und dann wird es natürlich spannend, weil da stellt sich dann die Frage: Ist das denn ein Betrug? Betrug setzt voraus, dass es einen Schaden gibt. Der Schaden muss sich daran messen lassen, was wäre denn derjenige, der da betrogen worden sein soll, verpflichtet zu leisten. Und wenn das beispielsweise eine Wohnungsbaugesellschaft ist, dann muss sie ihre Wohnungen zu günstigen Konditionen an jemand vermieten. Wenn das das Jobcenter ist, dann muss sie Sozialleistungen und Mietunterstützung leisten und so weiter und so fort. Und dann gibt's vielleicht gar kein Schaden. Also das kann spannend sein, dann bleibt aber möglicherweise die Urkundenfälschung im Raum."
Aus dem Bericht des Landeskriminalamts am 19.02.2013
"Die Beschuldigten M. , B. und C. betreffend (…) wurden (…) mehrere TKÜ- und Observationsmaßnahmen umgesetzt. Hierbei offenbarte sich, dass sich Teile (…) der oben genannten Hauptbeschuldigten als Mitglieder einer Bande zusammenschlossen, um über einen längeren, nicht eingegrenzten Zeitraum hinaus, arbeitsteilig unter Zuhilfenahme mehrerer, teilweise wechselnder Mittäter, gewerbs- und bandenmäßig Straftaten im Bereich der Urkunden- Hehlerei und Betrugsdelikte zu begehen, um sich so eine dauerhafte Einnahmequelle von einigem Umfang zu schaffen. Auffällig war auch ein gewisses Maß an konspirativem Verhalten, dass die Beschuldigten an den Tag legten, um sich einer Strafverfolgung zu entziehen. Hierbei war offenkundig, dass fast alle Beteiligten um die Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden wissen und diese stets antizipierten. So nutzten die Beschuldigten gefälschte Personaldokumente, Anschriften Dritter und fiktive Firmen."
"Bei ihm war es eben so, er war clever. Also mussten die Strafverfolgungsbehörden entsprechend wesentlich mehr investieren, um ihn dingfest zu machen."
So schätzt Jens Wegmarshaus, Staatsanwalt für allgemeine Strafsachen am Berliner Amtsgericht, den Fall nach dem Lesen der Akte Herrn M. ein. Dieser wurde insgesamt sechs Monate lang nicht nur telefonisch abgehört, sondern auch polizeilich observiert.


Aus dem Observationsbericht, Dienstag, 11. September.2012
"12.18 Uhr: Es erfolgt die Aufstellung zur oben genannten Wohnanschrift (WA) des Herrn M. Das von ihm genutzte und hier bekannte Fahrzeug, ein PKW Daimler Benz mit den amtlichen Kennzeichen X, befindet sich im Herrnhuter Weg auf öffentlichem Straßenland.
12.35 Uhr: Herr M. verlässt die Wohnanschrift. Er kann anhand hier vorliegender Lichtbilder zweifelsfrei identifiziert werden. Bekleidung (unter anderem): hellgraue Stoffhose und weißes Kurzarmhemd. Vor der Hauseingangstür hat er Kontakt zu einer unbekannten männlichen Person, die dort bereits einige Minuten gewartet hat. Personenbeschreibung: ca. 30-35 Jahre alt, kurzes schwarzes Haar, südeuropäischer/arabischer Phänotyp, ca. 1,70cm, schlank, unter anderem bekleidet mit einer schwarzen Stoffhose, einem schwarzen T-Shirt und weißen Turnschuhen. Beide unterhalten sich angeregt und gehen anschließend in den Herrnhuter Weg, zu dem oben genannten Fahrzeug des Herrn M. Dieser holt einige Unterlagen im Din-A4-Format aus dem Auto und beide betreten um 12.40 Uhr gemeinsam die Wohnanschrift."
"Guck mal, in Neukölln kennen mich alle Leute. Und der unten den Laden hat, der ist sehr schlau. Und der sieht, wenn irgendwo Polizei steht und der hat das ein halbes Jahr nicht gemerkt. So schlau waren die. Nein, nein, das hat keiner mitgekriegt. Sonst hätten die mich doch gewarnt."
Aus dem Observationsbericht, Donnerstag, 13. September 2012
"12.12 Uhr: Frau P. betritt die Wohnanschrift der Zielperson. Bei ihr handelt es sich nach Erkenntnissen des LKA um die Verlobte von Herrn M. Sie kann anhand hier vorliegender Lichtbilder zweifelsfrei identifiziert werden. Die Hauseingangstür wird von ihr mit Schlüssel geöffnet. Beschreibung der Frau P.: bekleidet mit rotem Oberteil und schwarzer Hose, dunkelbraune Haare zum Pferdeschwanz gebunden, trägt eine schwarze Handtasche.
13.50 Uhr: Die Zielperson und Verlobte verlassen die Wohnanschrift. Sie gehen die Karl-Marx-Straße in Richtung Karl-Marx-Platz, wo sie sich um 13.56 Uhr trennen. Die Verlobte wird nicht weiter beobachtet.
13.59 Uhr: Die Zielperson betritt die "Blutwurstmanufaktur", Karl-Marx-Platz 11.
14.03 Uhr: Mit einer Tüte verlässt die Zielperson diese wieder und geht zurück zur Wohnanschrift, die sie um 14.07 Uhr betritt."
Herr M. während der Haft in einer JVA. Ein Mann steht auf einer Wiese. Um ihn Herum Gefängnismauern. 
Herr M.: „Was der Staat machen musste, habe ich gemacht, und dafür bin ich bestraft worden."© Lukas Heibges

"Ein kaufmännisch begabter Künstler"

"Hier in der Fleischerei am Karl-Marx-Platz bin ich reingegangen und mit einer Tüte bin ich rausgekommen. Was macht man da? Richtig lächerlich, was die da schreiben."
Nach seiner Verhaftung hat Herr M. die Observationsberichte über sich gelesen. Von der Tatsache, überwacht worden zu sein, zeigt er sich gänzlich unbeeindruckt. Wie er sich selbst sieht?
"Ich bin Künstler – nein… Ich bin kaufmännisch begabt. Das habe ich mein ganzes Leben gemacht, und das kann ich auch weiter. Ja, also, ich helfe Leuten, aus ihrem Dreck rauszukommen."
Herr M. lacht mit verschmitzten Augen hinter seinen Brillengläsern. Er ist stets freundlich, geradezu charmant, macht Witze und flirtet beim Bäcker mit der Verkäuferin. Er scheint zu wissen, wie er mit den Leuten reden muss.
"Und das ist das Geheimnis eines guten Betrügers: gutes Auftreten, gute Umgangsformen, auf viele Sachen vorbereitet zu sein. Und sicherlich für alles eine Erklärung zu haben."
Andreas Dietz, Richter am Amtsgericht in Berlin, hat in den Jahren seiner Tätigkeit einige Betrüger in verschiedenen Verfahren erlebt. In der Erklärung Herrn M.s, lediglich Menschen geholfen zu haben, sieht er eine klassische Bagatellisierung.
"Das sind ja Rechtfertigungsmechanismen. Die könnten ‘n wahren Kern haben, aber letztends mach ich das ja auch nicht, weil mir die Leute sympathisch sind, sondern weil ich mir damit den Lebensunterhalt verdiene. Die müssen ja auch, so wird’s ja vermutlich gewesen sein, die müssen ja auch dafür latzen. Schlicht und einfach."

Die Polizei kam am frühen Morgen

Durchsuchungsbericht, 05. Dezember 2012
Die Namen sind hier fiktiv.
"Am gestrigen Tage wurde gegen 06.00 Uhr gemeinsam mit Polizeihauptmeister Schulze, Gewerbehauptkommissar Lange, Gewerbeoberkommissar Müller, Gewerbeoberkommissar Schmidt – alle LKA, sowie Kriminalkommissaranwärterin Meyer die Anschrift X, Vorderhaus 1. Etage links aufgesucht. Da sich in diesen Räumlichkeiten gemäß vorliegender Erkenntnisse der mit Haftbefehl gesuchte Beschuldigte M. aufhalten soll. (…) Auf Klingeln und Klopfen wurde die Tür von einer weiblichen Person geöffnet. (…) Der M. wurde in den Räumlichkeiten nicht angetroffen."

"Und die Hausmeisterin, die hat gesagt, ich glaube, der ist bei der Thailänderin. Und dann haben sie erst die Wohnung gefunden. Alle Wohnungen haben sie aufgemacht und haben die Leute aus dem Bett getrommelt. Ich weiß nicht… um 5.00 Uhr."
"Daraufhin wurde gegen 06.15 Uhr die Wohnung im EG links aufgesucht. Auf Klingeln wurde die Wohnungstür durch den X geöffnet. Auf Nachfrage gab dieser an, dass sich der M. in der Wohnung aufhalte. Daraufhin wurde die Wohnung betreten und der M. konnte im Schlafzimmer auf einer Matratze schlafend angetroffen werden. Diesem wurde der Haftbefehl verkündet, und er wurde rechtlich belehrt."


"Ich wusste ja überhaupt gar nicht, was die von mir wollen... ´Wir müssen Sie jetzt mitnehmen.` ´Ja, wohin?` ´Ja, erstmal zur Polizei in der Grunewaldstraße.` Sage ich: ´Was wollen Sie jetzt von mir noch wissen.` ´Ja, Ihre Kontakte.` Sage ich: ´Sie haben doch wohl nicht alle auf dem Sender.`"

"Gegen 07.10 Uhr wurde das durch den M. genutzte Fahrzeug amtliches Kennzeichen X, welches in der Karl-Marx-Straße, zwischen Herrnhuter Weg und Uthmannstraße geparkt war, aufgesucht. Im Fahrzeuginneren konnten auf der Rückbank zwei Kontoeröffnungsmappen der Berliner Sparkasse aufgefunden werden. Der Kofferraum des Fahrzeugs war zunächst nicht mit dem Fahrzeugschlüssel zu öffnen. Der M. wurde dazu befragt, verweigerte jedoch jegliche Kooperation, woraufhin zunächst ein Schlüsseldienst zur Öffnung des Kofferraums angefordert wurde. Der M. wurde durch die Kollegen Gewerbeoberkommissar Müller und Gewerbehauptkommissar Lange erneut dazu befragt, er lenkte nun ein und gab an, wie der Kofferraum geöffnet werden könne. Dies gelang den Kollegen dann auch."
"Sie haben jetzt nur noch die Originale gefunden, die im Auto waren. Was die Leute nicht abgeholt haben, das war noch da. Alles andere war weg."
21. Januar 2013 – Auswertung der Beweismittel im Ermittlungsverfahren gegen M., Hans.
"Im Kofferraum des Fahrzeugs mit dem amtlichen Kennzeichen X, welches durch den Beschuldigten M. genutzt wurde, konnte eine schwarze Aktentasche aufgefunden werden. Die darin befindlichen Beweismittel wurden im Durchsuchungsprotokoll unter Position 11 zusammengefasst. Einzeln in der Aktentasche befanden sich folgende Gegenstände:
Herr M. legt in der JVA eine Decke zusammen.
Beamter: "Ja, Ihre Kontakte." – Herr M.: "Sie haben doch wohl nicht alle auf dem Sender."© Lukas Heibges
Zwei Stempelkissen, ein Passfoto einer dunkelhäutigen männlichen Person, eine DVD mit der Aufschrift "Alte Daten, alter Stick, Laufwerk C", eine Papier-CD-Hülle mit einem Notizzettel über PC-Programme und eine CD mit der Aufschrift "Quark xPress", eine CD mit der Aufschrift "Kassenbuch".
Box mit Deckel: zwei Stempel "sachlich und rechnerisch richtig", ein Stempel mit der Aufschrift "Finanzamt Lichtenberg/Hohenschönhausen", ein Stempel mit der Aufschrift "Bundesrepublik Deutschland"
Im Namen des Volkes
"In der Strafsache gegen M., geboren 1944 in Gladbeck/Deutschland, Z.Zt. Justizvollzugsanstalt Moabit, Gefangenen Buch Nummer X
Wegen Betruges pp. – Die 17. große Strafkammer des Landgerichts Berlin hat aufgrund der Hauptverhandlung (…) in der Sitzung vom 27. Juni 2013 für Recht erkannt: Der Angeklagte wird wegen gewerbsmäßiger Hehlerei sowie Urkundenfälschung in siebenunddreißig Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit mittelbarer Falschbeurkundung, in einem Fall in Tateinheit mit Beihilfe zum Betrug und in zwei Fällen in Tateinheit mit Beihilfe zum versuchten Betrug zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen."

In Neukölln wird Herr M. immer noch erkannt

Das Büro von Herrn M. in der Karl-Marx-Straße wurde während seiner Haftzeit aufgelöst. Inzwischen ist das Gebäude, in dem sich sein Büro befand, aufwändig saniert worden; nur im Erdgeschoss ist noch wie zuvor der Karl-Marx-Shop mit seinem Angebot an Haushaltswaren, Geschenkartikeln und Schmuck. Ein paar Schritte weiter begrüßt Herr M. einen Mann vor einem Kleidergeschäft.
"Guten Morgen. / Wo ist dein Chef? Arbeiten, ja? / Anderer Laden."
Die beiden kennen sich noch aus der Zeit, in der Herr M. sein Nachbar war.
"Du hast vorher angefangen, wie ich mein Büro gemacht habe. / Ja. / Du hast vorher angefangen. / Ich bin fast acht Jahre hier. So lange und Sommer ok. Sommer geht ja, aber Winter, das ist Katastrophe. Da möchte ich hier nicht sein, nein. / Zu kalt. / Kalt hier, da friert ja alles ein. / Kein Heizung."
Die Räume des Geschäfts sind zur Straße geöffnet; der Mann trägt eine dicke Daunenjacke.
"Halt dich tapfer, pass auf dich auf. Bestell deinem Chef schönen Gruß von mir."
Herr M. sagt, er kenne die Probleme der Menschen, für die er Papiere gefälscht hat. Über die Behörden schüttelt er nur den Kopf.
"Die Beamten, die dort sitzen… Sie gucken ihre Uhrzeit, sieben Stunden, und dann gehen die nach Hause. So arbeiten die Leute, und das ist, was mir nicht gefallt. Die haben noch nie in der privaten Wirtschaft gearbeitet und wissen gar nicht die Probleme, die die Leute haben. Weil die es auch gar nicht interessiert. Die schreiben dir einen Brief, und das hast du zu machen. Machst du dat nicht, Strafe. Machst du das immer noch nicht, Strafe höher. Und wenn du nicht bezahlen kannst, sperren wir dich ein. So läuft das. Und das gefällt mir nicht. Und dagegen… Solange, wie ich lebe, kämpfe ich dagegen."

Herr M. gegen das System

"Also seine Erzählungen über die Situation, die haben immer was Wahres."
Sagt Felix Hanschmann, Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt Universität Berlin.
"Die haben immer einen Punkt, wo man sagen muss, ja, das stimmt, lange Verfahrensdauer oder Umständlichkeit der Bearbeitung von Verwaltungsverfahren oder von Anträgen. Aber letztendlich reduzieren sie das Recht und den Verwaltungsvorgang und auch die zugrunde liegende Lebenssituation der Personen radikal. Die Komplexität, die da drinsteckt, das vereinfacht er."
"Man muss diesen kriminellen Weg nicht gehen."
Sagt der Staatsanwalt Jens Wegmarshaus.
"Auch wenn er für sich selber sagt, ich tue doch nur Gutes. Aber er nimmt damit anderen, die in einer ähnlichen Situation und die einen legalen Weg gehen…, nimmt er die Chance, auf legalem Weg schneller oder gerechtfertigter zu dem zu kommen, was ist. Vielleicht kann man das vergleichen mit der Situation Organspenden: Jemand braucht ein Spenderorgan, und er fälscht jetzt die Dringlichkeit. Dann wird jemand vorgezogen, bekommt eher eine Spenderniere oder eine Spenderleber oder Sonstiges, als derjenige, der von der Wartezeit dran wäre. Wäre das gerechtfertigt?"
"Eine Frau mit zwei oder drei kleinen Kindern, warum muss ich mich darum kümmern, der Staat ist ja dafür da! Nein! Der setzt die in so ein Obdachlosenasyl und fertig! Müssen dann auf ein Zimmer hausen. Da hab ich gesagt, nö, das geht nicht. Sie hat alles! Nur Papier hat ihr gefehlt, dafür könnte der Staat sorgen, oder? Der Staat bezahlt ja sowieso. Ja? Sie haben alle von Hartz IV gelebt, alle. Und davon wurde auch die Miete bezahlt und die Kaution. Was für ein Verlust war da? Da hätten sie das Papier auch noch machen können. Aber die Hausverwaltungen wollen ja keinen Hartz IV-Empfänger. Nicht, die wollen einen richtig Beschäftigten haben, gut, das hab ich dann eben gemacht."


"Das System ist nicht per se gerecht."
Sagt der Rechtsanwalt Hannes Honecker.
"Gerechtigkeit ist sowieso ein großes Wort. Gerechtigkeit ist die große Münze, Recht die kleinere Münze. Und hier werden möglicherweise Straftaten mit der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit gerechtfertigt. Ja, natürlich hat er Recht, dass in unserer Gesellschaftsordnung Ungleichheit herrscht. Und damit will ich sagen: Ja doch, es gibt extrem viele Brüche in dieser Gesellschaftsordnung, die zu benennen, möglicherweise auch Herr M. angetreten ist. Das weiß ich nicht. ich kenne ihn nicht."
"Ich habe die Arbeit des Staates übernommen. Was der Staat machen musste, habe ich gemacht, und dafür bin ich bestraft worden. Das ist alles, so sehe ich das. Weil, natürlich habe ich Urkunden gefälscht, na, selbstverständlich. Aber das hätte ich überhaupt gar nicht machen brauchen, wenn sich der Staat für die Leute einsetzt. Ja, wenn… Guck mal, wenn ich eine Wohnung habe, kann ich in eine Wohnung einziehen. Aber es fehlen die nötigen Unterlagen. Warum kann der Staat mir nicht helfen? Er zahlt doch sowieso!"
"Das ist aber eine totale Verkennung der Leistung, die ein Rechtsstaat erbringen kann und umgekehrt auch der Leistung, die er nicht erbringen kann."
Felix Hanschmann sieht das Problem in der Argumentationsstruktur – darin, die eigenen Gerechtigkeitsmaßstäbe über geltendes Recht zu stellen.
"Das mag in dem Fall von Herrn M. sympathisch sein, weil er so ein bisschen den Gestus des Subversiven hat, weil er vielleicht auch diese Verwaltung, die keine positive Konnotation hat, unterläuft, weil er auch tatsächlich Leuten hilft… Denen, die nicht auf der Sonnenseite der Gesellschaft stehen."

Der Argumentation von Herrn M. zu folgen, würde aber letztendlich eigenmächtiges Handeln in jedwede Richtung legitimieren.
"Gerechtigkeit ist insofern eigentlich ‘ne totalitäre Vorstellung. In dem Sinne ist es eine totalitäre Vorstellung, weil er natürlich für sich beansprucht, diese Gerechtigkeit zu kennen. Gerechtigkeit ist aber nichts, was Sie feststellen können. Das ist ja kein objektiver Zustand. Das ist etwas, worüber demokratisch organisierte Gesellschaften mit unterschiedlichen Interessen, mit unterschiedlichen Gruppierungen, mit unterschiedlichen Ideologien, Politiken streiten müssen. Das ist genau das Hauptproblem, was er hat. Seine Vorstellung von Gerechtigkeit sozusagen in gewisser Weise absolut zu setzen oder als Rechtfertigung dafür zu nehmen, das, was auf einem diskursiven, auch strittigen Weg der Aushandlung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen letztendlich im Gesetz kondensiert, unterlaufen zu können."
Aus dem LKA Bericht vom 19.2.2013
"Der Vorgang wird bei diesem Sachstand abgeschlossen und der Staatsanwaltschaft Berlin zur Kenntnisnahme und weiteren Veranlassung überbracht."
"Ich habe der Frau eben geholfen, fertig. Nu gut, sie musste bezahlen, denn die Zeit, die ich dann da sitze und das mache, das muss sie natürlich bezahlen, sonst… Aber Geld hat für mich an und für sich keine, nie eine Rolle gespielt. Spielt‘s auch heute nicht. Denn Geld ist nicht alles, oder? Geld ist nicht alles…"
Herr M. sitzt an einem Tisch und trinkt eine Tasse Kaffee.
Herr M.: "Ich habe der Frau eben geholfen, fertig."© Lukas Heibges

Regie: Beatrix Ackers
Technik: Ralf Perz
Sprecher: Cornelia Schönwald; Joachim Schönfeld; Romanus Fuhrmann
Redaktion: Carsten Burtke

Die Recherchen basieren auf dem Buch:
Lukas Heibges: "Herr M.: Justizfall eines Fälschers"

Spector Books OHG, 2019
128 Seiten, 32,00 Euro

Mehr zum Thema