Juri Andruchowytsch: "Die Lieblinge der Justiz"

Gerechtigkeit für schuldlose Banditen

55:56 Minuten
Ein Porträt des ukrainischen Schriftstellers Juri Andruchowytsch
Juri Andruchowytsch springt in seinem neuen Buch zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert hin und her. © picture alliance / dpa / Arifoto UG
Juri Andruchowytsch und Schamma Schahadat im Gespräch mit Jörg Plath · 26.07.2020
Audio herunterladen
Schräge Vögel bevölkern die Bücher des Ukrainers Juri Andruchowytsch. Sein neuer Roman widmet sich kriminellen Machenschaften aus vier Jahrhunderten. Seine Helden: galizische Kanaillen, Verräter und Verbrecher. Ihr größtes Unglück: Ukrainer zu sein.
"Galizien, c’est moi", hat der berühmteste Schriftsteller der Ukraine, Juri Andruchowytsch, vor einiger Zeit umstandslos behauptet: Er sei Galizien, dieses "letzte Territorium", dieser "Transitraum" voller Fragmente, Ruinen und Zitate, in dem Geschichte nur als Variante der im Übermaß vorhandenen Mythologie existiere.
Das einstige Kronland der K.u.k.-Monarchie ist heute Teil der Ukraine – und der Ort von Andruchowytschs Kindheit und Jugend, die Stätte seiner ersten Erfolge als Performancekünstler, der bevorzugte Raum seiner nicht unerheblichen Imaginationskraft und seiner Turboschwurbeleien. Kurz: das Epizentrum seiner Ästhetik. Andruchowytschs Romane, Erzählungen, Essays und Gedichte lesen sich als postmoderne Fortschreibung galizischer Mythologie.

Neun Geschichten aus vier Jahrhunderten

Sein jüngstes Buch "Die Lieblinge der Justiz" versucht, einen zu Andruchowytschs Empörung doch tatsächlich in der Ukraine erhobenen Vorwurf zu entkräften, wonach Galizien nicht einmal über ein Epos verfügt. Mit dem "Parahistorischen Roman in achteinhalb Kapiteln", so die Gattungserfindung, besitzt Galizien nun eins – und was für eins! Ein Epos voller übler Krimineller aus vier Jahrhunderten.
Die neun Geschichten in "Die Lieblinge der Justiz" springen hin und her zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert. Sie tragen sich in den Städten Galiziens zu, in Lemberg, Druhobrytsch, Iwano Frankiwsk oder Kolomea.
Die Hauptfiguren sind durchweg exzentrisch, meist Kanaillen, Schlagetots, Geschäftemacher und Verräter, und exzentrisch ist die Erzählweise. Denn Andruchowytsch erwähnt die nicht selten recht blutigen Kapitalverbrechen eher beiläufig, auch wenn ihnen Prominente wie der österreichische Statthalter in Galizien, Graf Andrzej Potocki, oder der mit den Nazis kollaborierende Unabhängigkeitskämpfer Stepan Bandera zum Opfer fallen.

Kein Platz für traditionelle Helden

Auf fragmentarische Weise erzählt er eine etwas andere Geschichte der Ukraine, in der für traditionelle Helden kein Platz ist.
Andruchowystschs Augenmerk liegt dabei auf dem Schicksal der "Lieblinge", die Justiz interessiert ihn weniger. Denn die verehrten Kanaillen müssen das Unglück ertragen, in der Ukraine geboren zu sein.
Samijlo Nemyrytsch etwa, seines Zeichens ein "zu früh verdorrter und unglücklich vergessener Spross am Baum unseres nationalen Banditentums", sei ein überaus fähiger Mann des 17. Jahrhunderts gewesen. Er hätte in "Amerika Präsident werden können, in Rom Papst, in Deutschland Bismarck oder sogar Goebbels. In der Ukraine aber hatte er nur die Wahl zwischen Bandit oder Aufrührer."
Solch bedauerliche Alternativlosigkeit, vom Erzähler auf die lange Zeit fehlende Unabhängigkeit der Ukraine zurückgeführt, gilt auch für die anderen seltsamen Helden. Ihnen widerfährt nun poetische Gerechtigkeit.

Etwas fehlt immer - einmal auch ein Kopf

Juri Andruchowytsch, wegen des Coronavirus zugeschaltet aus Iwano Frankisk, spricht mit der Tübinger Slawistin Schamma Schahadat über Galizien, Nationalepen, Banditen und einiges mehr. Etwa über einen Zirkus Vagabundo, der durch alle Geschichten zieht, oder über die Frage, wie von der Ermordung der ukrainischen Juden durch die deutschen Besatzer erzählt werden kann. Oder über die Lücken in vielen Geschichten des Buches. Denn immer fehlt etwas: mal ein Kartoffelpuffer, mal eine Frau und zuweilen auch der Kopf eines Toten.
(pla)

Aufzeichnung aus dem Literaturhaus Stuttgart vom 10.7.2020. Eine kürzere Fassung des Gesprächs ohne Lesung war am 17.7.2020 in der Sendung "Zeitfragen Literatur" zu hören.

Mehr zum Thema