Jungfräulichkeit in den Religionen

Maria als Urbild und Vorbild der Kirche

12:26 Minuten
Detail eines farbigen Glasfensters mit der Jungfrau Maria mit Kind auf dem Friedhof Pere Lachaise in Paris.
Die Jungfrau Maria verkörpert Stärke und ist zugleich in den Religionen in ein festes Korsett aus Vorstellungen der "Reinheit"eingebettet. © imago images / Hans Lucas
Birgit Heller im Gespräch mit Anne-Francoise Weber · 29.11.2020
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Jungfrau und Mutter zugleich, diese Vorstellung findet sich in verschiedenen Religionen, erklärt die Religionswissenschaftlerin Birgit Heller. Die Kombination kann ein Zeichen göttlicher Macht sein – aber auch sexualitätsfeindlich wirken.
Anne Françoise Weber: Für Christinnen und Christen ist, zumindest in der westlichen Kirche, heute der erste Advent. Die Vorbereitung auf die Weihnachtszeit beginnt. Im Zentrum steht dabei natürlich nicht nur der erwartete Gottessohn, sondern auch seine Mutter Maria – die war der Überlieferung nach Jungfrau und hat ihr Kind vom Heiligen Geist empfangen. Es gibt zwar Hinweise, dass zumindest in den Prophezeiungen der hebräischen Bibel eher von einer "jungen Frau" als explizit von einer Jungfrau die Rede war, aber zumindest in späteren Jahrhunderten wurde Marias Jungfräulichkeit immer zentraler.
Warum das so ist und warum überhaupt Religionen Frauen gern bestimmte Rollen zuschreiben – sei es die der Jungfrau, die der Mutter, die der weisen Frau oder Hexe –, das will ich mit Birgit Heller besprechen. Sie ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Wien und hat viel über Religion und Geschlecht geforscht.
Warum war oder ist es vielleicht auch immer noch so wichtig, dass Maria nicht nur Jesus zur Welt gebracht hat, sondern dass sie dabei eben auch noch Jungfrau war und nach katholischer Lehre ja sogar ihr ganzes Leben lang geblieben ist?
Birgit Heller: Ja, dass sie Jungfrau war, das ist interessanterweise trotzdem zunächst nicht unbedingt eine Aussage über Maria selbst. Es geht hier eigentlich zentral immer noch um die Bedeutung Jesu, weil durch die jungfräuliche, durch den Geist gewirkte Geburt die Besonderheit Jesu hervorgehoben wird. Jungfräulichkeit ist in dem Sinn eigentlich eher zu verstehen als eine Art der vollendeten Hingabe an das Handeln Gottes.

Maria als reines Gefäß

Das heißt, Jungfräulichkeit ist in erster Linie ein Symbol für Reinheit – das geht weit über Maria hinaus, aber das ist da auch gut zu sehen. Es geht darum, Maria zu kennzeichnen als die reine Magd, sozusagen als das reine Gefäß des Gotteswillens, mit der Intention, dass dadurch die Bedeutung Jesu hervorgehoben wird, wie das auch bei anderen göttlichen Kindern der Fall ist. Es geht eigentlich um eine besondere Bedeutung Jesu, auch wenn Maria jetzt als Jungfrau bezeichnet wird.
Birigt Heller, eine Frau mit blonden, lockigen Haaren, lächelt in die Kamera.
Die Wiener Religionswissenschaftlerin Birgit Heller.© Claudia Winkler / Institut für Religionswissenschaft Universität Wien
Maria ist das nicht nur, weil sie körperlich sozusagen als Jungfrau etikettiert wird vor, während und nach der Geburt, sondern weil sie selbst bereits jungfräulich geboren ist. Wir feiern gerade im Advent jetzt am 8. Dezember die unbefleckte Empfängnis Mariens, und da geht’s nicht um Jesus, sondern es geht um die unbefleckte Empfängnis Marias selbst. Also sie selbst wurde schon jungfräulich empfangen, um sie völlig zu reinigen von jeglicher Zuschreibung irgendeiner sexuellen Unreinheit.
Weber: Und das wurde als Dogma von Pius IX. erst 1854 wirklich festgelegt. Natürlich war das eine alte Tradition, aber es ist ja trotzdem erstaunlich, dass man im 19. Jahrhundert noch mal so sehr diese Reinheit der Jungfrau betonen musste, oder?
Heller: Im Grunde genommen ist das eigentlich fortlaufend immer wieder ein kirchlicher, lehramtlicher Diskurs geblieben, der kreist um die zentrale Bedeutung Jesu, eigentlich instrumentalisiert über die Etikettierung Marias als Jungfrau, aber wie gesagt, im Zentrum steht sie dabei eigentlich nicht.

Die katholische Kirche weiht noch heute Jungfrauen

Weber: Es gibt bis heute in der katholischen Kirche die Institution der Jungfrauenweihe. Das wurde vor 50 Jahren erst wiederbelebt, und es soll heute mehr als 5000 geweihte Jungfrauen geben. Papst Franziskus hat zum 50. Jahrestag dieser Wiedereinführung der Jungfrauenweihe eine Botschaft geschrieben, daraus würde ich gerne mal zitieren.
Er schreibt da an diese geweihten Jungfrauen: "Möge das (also dieses jungfräuliche Leben), möge das eure Art sein, Beziehung zu leben, im Zeichen der bräutlichen Liebe zu sein, die Christus mit der Kirche, Jungfrau und Mutter, Schwester und Freundin der Menschheit vereint." Da stecken ja jede Menge Rollenvorstellungen und -zuschreibungen drin, oder?
Heller: Hier geht es jetzt eigentlich wirklich um eine etwas andere Denktradition. Da wird Maria, die hier einfach auch ganz stark angesprochen ist zwischen den Zeilen in allen diesen Rollen, zum Symbol der Kirche selbst. Maria als Jungfrau und Mutter zugleich, also in dieser Doppelqualität eigentlich, wird zum Urbild und zum Vorbild der Kirche. Die Jungfrauen, die sozusagen dann geweiht werden – übrigens im Prinzip genauso wie die christlichen Nonnen –, werden eigentlich zum Symbol der Maria.

Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch

Franziskus hat vor zwei Jahren auch einen neuen Marienfeiertag ausgerufen, den Pfingstmontag, der jetzt auch als Feiertag Mariens gilt, nämlich explizit als Mutter der Kirche. Diese Koppelung oder diese Identifizierung von Maria und der Kirche, das geht auch zurück auf die Vorlage aus dem ersten Testament, wo die Beziehung zwischen Gott und Mensch in der Metapher einer Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau dargestellt wird. Hier ist es Jerusalem beziehungsweise Israel gegenüber Jahwe – Jahwe, der männlich personifiziert wird, Jerusalem, Israel weiblich personifiziert –, und analog haben wir das im Christentum, wo praktisch die Kirche an die Stelle Jerusalems oder Israels rückt beziehungsweise dann auch der einzelne Mensch gegenüber Jesus.
Das kommt auch in diesem Zitat zum Ausdruck über die Jungfrauenweihe, eigentlich diese Beziehung, wo der einzelne Mensch zum Inbegriff des Gläubigen, zum Inbegriff des Volkes Gottes wird gegenüber Jesus. Und das ist Maria, Maria ist diese exemplarisch Gläubige, die Vorbild aller Gläubigen ist.

Jungfräulichkeit als Autonomie

Weber: Vorbild aller und gleichzeitig unnachahmbar, weil sie eben Jungfrau und Mutter zugleich ist. Wie ist es denn, gibt es in anderen Religionen auch diese Kombination, die menschlich eigentlich unmöglich ist, Jungfrau und Mutter, oder ist das eher getrennt, dass es in der einen Religion eher die Mutterrolle ist und in der anderen eher die Jungfrauenrolle?
Heller: Es gibt durchaus Beispiele dafür, dass mächtige Göttinnen – sowohl im asiatischen Raum als auch im altorientalischen Raum – durchaus auch diese Doppelbezeichnung von Jungfrau und Mutter erhalten, wobei Jungfräulichkeit hier eigentlich weniger assoziiert wird mit Reinheit als vielmehr mit Unabhängigkeit, mit Macht, mit Autonomie, also diese Unabhängigkeit von einem männlichen Gegenüber sozusagen, das wird hier stärker in den Blick genommen.

Maria ist auch mächtige Schutzgöttin

Die Koppelung mit Mutterschaft oder mit der Anrufung als Mutter ist kein Problem, auch hier geht es eher um die Qualität, also um die Macht der Mutter, nämlich auch als eine mächtige Schutzgöttin. Das hat sich auch im Laufe der Marienverehrung wieder als eine weitere Komponente auch herausgeschält, dass Maria durchaus nicht nur diese gehorsame, demütige Magd geblieben ist, sondern dass sie in der volkstümlichen Marienverehrung, besonders eigentlich im Mittelalter, als eine mächtige Schutzgöttin entstanden ist oder wieder gewachsen ist. Das ist etwas, was stark auf dem Boden einfach auch von Göttinnentraditionen entstanden ist, die eigentlich vorchristlichen Ursprungs sind.
Weber: Sie haben jetzt immer wieder das Adjektiv mächtig gebraucht. Das ist ja tatsächlich so, dass es in vielen Religionen mächtige Frauengestalten gibt - wenn wir aber die Realität der Religionen heute anschauen, das Personal, dann ist das doch in weiten Strecken männlich. Wie erklärt sich dieser Unterschied zwischen der religiösen Symbolebene, wo Frauen ein großer Platz zugewiesen wird, und der Realität, die natürlich bei verschiedenen Religionen unterschiedlich ist, sich auch entwickelt hat, aber wo man trotzdem im Allgemeinen sagen kann: Frauen wird da ein nachgeordneter Platz eingeräumt.
Heller: Das erklärt sich am besten aufgrund der Entstehungszeit der großen religiösen Traditionen, die eben heute eigentlich unsere Gegenwart prägen. Im Grunde sind alle diese sogenannten Weltreligionen in einer Zeit entstanden, die geprägt war von patriarchalen Gesellschaftsstrukturen. Und wenn hier Göttinnen verehrt werden, dann ist das nicht unbedingt ein Reflex auf die besondere soziale Macht von Frauen, sondern eher auch das Erleben oder die Projektion natürlich auch von Männern – also gerade die Mutter, die durchaus als eine mächtige Gestalt erlebt wird, auch von männlichen Kindern, die hier vielleicht projiziert wird. So kann man sich das vielleicht auch religionspsychologisch erklären.

Frauenverachtung und Göttinnenverehrung zugleich

Die Annahme, dass allein die Tatsache, dass irgendwo Göttinnen verehrt werden, schon auf eine besondere Macht von Frauen schließen lässt, die ist insofern auch sehr leicht zu relativieren. Man muss sich nur anschauen, wie stark die Verehrung von Göttinnen oder besonders bedeutenden religiösen Symbolfrauen, wie eben ja auch die Maria eine ist, mit Frauenverachtung komplett vereinbar ist.
Wenn man nur an den "Hexenhammer" denkt, dessen Autor Heinrich Kramer, der Dominikanermönch war, Theologe, Inquisitor, der persönlich ein glühender Marienverehrer war und mit diesem "Hexenhammer" eigentlich ein Dokument geschaffen hat, das das einflussreichste Dokument der Hexenverfolgung war: das Frauen kriminalisiert hat, als gefährlich herausgestellt hat und natürlich auch ihre Verfolgung und den Mord an den Frauen legitimiert hat.

Eva als Gegenpol zu Maria

Weber: Aber war da im Grunde der Vorwurf, die Frauen sind nicht so wie Maria. Also war das sozusagen das Gegenbild, hatte das was miteinander zu tun, oder würden Sie sagen: In der Religion ist eben diese Verehrung der Maria und dann gibt es die gesellschaftlich geprägte patriarchale Struktur, die dazu führt, dass man Frauen als unwissend, als verführbar, als Verführerin, als gefährlich darstellt?
Heller: So aufteilen würde ich es nicht. Es gibt durchaus auch in den Religionen selbst die Frauenbilder, die auch wirksam wurden, also jetzt symbolisch einflussreich waren. Für das Christentum ist es natürlich die Eva, die eigentlich seit der frühen Kirche in einer Antithese zu Maria steht, also eigentlich der polare Gegensatz.

Reinheit wird mit Sexualfeindlichkeit verknüpft

Die Eva ist die Verführerin par excellence. Sie steht dieser reinen jungfräulichen Maria gegenüber und ist die sexuelle Frau im Vergleich eben zu Maria, die eigentlich durch diese Doppelung von Jungfräulichkeit und Mutterschaft als letztlich asexuell rein gekennzeichnet wird. Also hier sind eigentlich mit der Eva, die das Urbild der normalen Frau, unter Anführungszeichen, darstellt, eigentlich schon diese unversöhnlichen Gegensätze aufgemacht.
An die Maria näher ranrücken können eigentlich nur die Jungfrauen und die Nonnen, die dann eigentlich auch die moralisch letztlich höherwertigen Frauen sind, weil sie einfach asexuell sind. Im Christentum ist eben das Problem, dass sehr früh diese Reinheitsvorstellungen, die mit Jungfräulichkeit verbunden sind, eben auch mit Sexualität beziehungsweise Sexualfeindlichkeit verknüpft wurden. Reinheit und Sexualität schließen sich eigentlich aus. Von daher sind die meisten normal lebenden Frauen eigentlich nicht in der Lage, Maria in irgendeiner Form als Ideal anzustreben.
Weber: In der Jungfräulichkeit Marias steckt dann doch auch ein ganz bestimmtes Bild für alle anderen Frauen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Zum Weiterlesen:

Birgit Heller: "Weltreligionen und Geschlecht: Rollen, Bilder und Ordnungen der Geschlechter in vergleichend-systematischer Perspektive"
zu finden in: Eva Labouvie (Hg.): "Glaube und Geschlecht – Gender Reformation."
Vandenhoeck & Ruprecht, 2019.

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