Junges jüdisches Leben in Deutschland

Für alle Strömungen offen sein

Ein junger Mann mit einer Kippa, der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung
Ein junger Mann mit einer Kippa, der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung © picture alliance / dpa / Peter Steffen
Von Heinz-Peter Katlewski · 04.09.2015
Gemessen an anderen religiösen Jugendverbänden ist die jüdische Szene in Deutschland zwar klein – aber vielfältig. Gespräche zwischen jungen orthodox lebenden Leuten und denen, die sich zur liberalen Strömung hingezogen fühlen oder säkular leben, gelingen da nicht immer.
"Die Arbeit, die wir vorantreiben, ist die Stärkung der jüdischen Identität. Das heißt, wenn wir damit einigermaßen Erfolg haben und die Kinder aus unseren Organisationen entschwinden, also nicht mehr auf die Machanot fahren, auch nicht mehr als Jugendleiter aktiv sind, dann sind sie in der Phase der beruflichen Entscheidungsfindung, dann sind sie in der Phase der Familienbildung. Das heißt, dann fallen sie erstmal raus als aktive Gemeindemitglieder."
Spielerisch lernen
Konstantin Seidler ist für die liberale Jugendarbeit, die der Union progressiver Juden in Deutschland zuständig. Er leitet "Netzer", so heißt deren Jugendorganisation für Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren. Netzer regt örtliche Gruppen an und begleitet sie auch, vor allem aber lädt die Organisation zu Ferienlagern im Sommer und im Winter ein – sogenannten Machanot. Wer dort dabei ist, lernt spielerisch jüdische Liturgie zu Schabbat und den Feiertagen, diskutiert über jüdische Werte und Grundlagen des Judentums, hat gemeinsam Spaß und lernt eine Menge Freunde kennen. So ist es bei den Liberalen, aber auch bei der eher traditionell ausgerichteten Jugendarbeit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.
Nach dem Abitur studieren die meisten erst einmal – oft weit entfernt von ihrer Heimatgemeinde und oft ohne Kontakt zu jüdischen Kommilitonen. Seit zwei Jahren gibt es nun in bislang zehn Universitätsstädten eine Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, liberal und orthodox geprägten Juden gleichermaßen Heimat zu sein.
"Wir gestalten unsere Organisationen so, dass möglichst viele Juden und Jüdinnen dabei sein können und auch nicht ihre religiöse Identität und nicht-religiöse Identität verstecken müssen", sagt Alexander Grodensky. Der vor wenigen Tagen frisch ordinierte Rabbiner ist einer der Gründer von "Hillel" in Deutschland, einer weltweit aktiven jüdischen Studierendenorganisation.
Pluralistisch ausgerichtet
Namensgeber ist der legendäre jüdische Tora-Gelehrte "Hillel der Ältere" aus dem ersten Jahrhundert vor der Zeitrechnung. Er galt als sanftmütig und geduldig. Im Talmud wird berichtet, dass er den Kern der Tora in einem Satz zusammengefasst hat. Er entspricht der sogenannten "Goldenen Regel": "Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an". Diese Grundhaltung soll auf dem Campus die religiösen Differenzen überbrücken. "Hillel"-Gruppen sind deshalb grundsätzlich pluralistisch ausgerichtet. Auch Nina Rosenstein* hat diese Erfahrung gemacht.
"Ich glaube, dass sich alle Strömungen, die sich jetzt auch in Deutschland entfalten, sind wichtig und bereichernd. Nur so gibt es eigentlich auch jüdisches Leben in Deutschland, wenn es pluralistisch und für alle Strömungen und Ideen und Initiativen offen ist und bleibt. Und ich glaube, ja, das ist zum Teil eine große Bereicherung und auch eine große Herausforderung für jüdisches Leben in Deutschland."
"Hillel" muss man nicht förmlich beitreten, man zahlt nicht einmal Mitgliedsbeiträge. Hillel ist in erster Linie ein Netzwerk, aus dem bislang immerhin zehn lokale Gruppen, sogenannte Hubs, hervorgegangen sind, die sich zu geselligen Anlässen treffen, sich Themen stellen und miteinander Schabbat feiern. Darunter solche an kleinen Universitäten wie Bamberg oder Saarbrücken. Hilfestellung leistet das jüdische Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk ELES, nicht zuletzt auch mit seinen Stipendiaten. ELES fördert besonders begabte jüdische Studierende und bringt sie über Tagungen und Ferienakademien miteinander ins Gespräch.
Der in Russland aufgewachsene Alexander Grodensky hat seit wenigen Wochen nicht nur ein Amt als liberaler Rabbiner in Luxemburg angetreten, sondern ist nun auch Hillel-Rabbiner für Deutschland. Er plädiert für einen religiösen Pluralismus, der zu pragmatischen Kompromissen bereit ist, mit denen alle leben können:
"Ich glaube, es gibt kein Rezept. In meine Tätigkeit in Luxemburg ist einfacher, weil wir haben zwei Gemeinden, wo relativ klar ist, hier ist Orthodoxie und hier ist liberal. In der studentischen oder in Jugendarbeit in Einheitsgemeinden zum Beispiel in Deutschland oder bundesweit, nicht nur in einer konkreten Gemeinde, ist es sehr wichtig, diese Balance zu finden, dass wir können nicht anbieten einen liberalen Gottesdienst und einen orthodoxen Gottesdienst oder einen konservativen Gottesdienst, weil es gibt eine begrenzte Zahl von Teilnehmern."
Das trifft erst recht für Hochschulen und Universitäten in Deutschland zu. Oft sind kaum mehr als zwanzig bis dreißig jüdische Studierende am Ort. Die Grenzen für den Kompromiss müssen ausgehandelt werden. Liberalen Juden ist zum Beispiel die Gleichberechtigung der Frauen im Gottesdienst wichtig. Orthodoxe bestehen vielleicht stärker auf der strikten Einhaltung der Speisegesetze.
Projekt mit Zukunft
Der gerade neu gewählte Präsident der Europäischen Union jüdischer Studierender, das ist der europäische Dachverband aller jüdischen Studentenverbände, hält Hillel für ein Projekt mit Zukunft zumal es praktisch keinen aktiven Studentenverband mehr auf Bundesebene in Deutschland gibt.
"Generell als europäischen Trend könnte man beschreiben - ich glaube, das ist auch der Grund dafür, warum Hillel für Deutschland so wichtig ist und so erfolgreich sein wird. Der Trend geht Richtung Poststrukturalismus. Was wir in den Gemeinden beobachten, das beobachten wir auch in den Studentenverbänden. Die Leute wollen nicht mehr unterschreiben, sie wollen nicht mehr irgendwo gelistete Mitglieder sein. Sie kommen, wenn es ihnen passt, und sie gehen, wenn es ihnen passt. Die Frage ist nur, wie geht man damit um."

*An dieser Stelle weicht der Text von der Audiofassung ab, da versehentlich ein falscher Name verwendet wurde.
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