"Jungen lesen keine Mädchenbücher"

Regina Pantos im Gespräch mit Andreas Müller · 17.10.2011
Das Buch, das in diesem Jahr mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, hat einen männlichen Protagonisten. "Typisch", werden da viele sagen, denn Kinderbücher transportieren aus Sicht von Feministinnen viel zu viele Rollenklischees. Kinderbuch-Expertin Regina Pantos ist anderer Meinung.
Andreas Müller: "Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor", das ist in der Sparte Bilderbuch der Gewinner des Jugendliteraturpreises 2011, geschrieben und gemalt hat dieses Buch Martin Baltscheit – und da sind wir dann schon wieder bei der Problematik: Es ist ein Fuchs, also ein männlicher Fuchs, der, so schön diese Geschichte auch sein mag – es ist eine Geschichte über Demenz – eben keine Frau ist, kein weiblicher Fuchs. Forscherinnen haben festgestellt, es gebe in den Bilderbüchern, die für den Jugendliteraturpreis nominiert würden, zu viele Rollenklischees à la Männer und Jungs handeln, Frauen und Mädchen, die schauen zu. Bei mir ist jetzt Regina Pantos, Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur e.V., der den Jugendliteraturpreis organisiert und ausrichtet. Schönen guten Tag!

Regina Pantos: Guten Tag!

Müller: Ja, in der Fabel ist der Fuchs schlau, hinterlistig, wild auf Gänse, Hasen und Hühner, fürchtet nur den Jäger und den Hofhund. Und so war es bei dem Fuchs in Martin Baltscheits Bilderbuch "Der Fuchs, der seinen Verstand verlor" früher mal, jetzt ist er alt und er erzählt hier eine Geschichte für Kinder, in der es um Demenz geht. Was gefiel der Jury, oder was gefiel Ihnen so an diesem Buch?

Pantos: Der Jury gefiel an diesem Buch, dass es sich einmal einem sehr aktuellen Thema widmet, denn Kinder erfahren heute eben auch in ihren Familien, dass die Älteren dement werden. Und es ist schwierig für Kinder, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, weil natürlich das Verhalten der dementen Menschen völlig im Gegensatz steht zu dem, was sie sonst erfahren haben über Erwachsene, also, was man tut, wie man sich verhält. Das irritiert sie natürlich, wenn die sich zum Beispiel, ja, manchmal so ein bisschen wie Kinder verhalten. Das kann einerseits ganz charmant sein, andererseits belastet es jede Familie und stellt sie vor schwierige Aufgaben.

Müller: Natürlich, also der Fuchs, der hier früher so ein tollkühner Hecht war und Vorbild auch für die Kleinen, der wird wunderlich, also, der vergisst Dinge, der weiß teilweise nicht mehr, wer er selbst ist. Das kennen die vielleicht auch vom Opa. Und nach dieser Jurybegründung gibt es dann noch eine schöne Auflösung, dass die Kinder merken, sie können auch was tun. Also, auch der Fuchs bekommt zwar seinen Verstand nicht mehr zurück, aber man kann ihm helfen, das ist ja auch eine gute Botschaft. Kommen wir nun aber zur Kritik an nominierten beziehungsweise Gewinnern, es geht jetzt nicht um dieses Buch, sondern die Fachgruppe Frauen in der psychosozialen Versorgung der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie hat eine Untersuchung durchgeführt, das waren Professor Ruth Jäger und Diplompsychologin Elisabeth Jürgens. Die untersuchten zwölf Bilder- und Kinderbücher mit einer Altersempfehlung bis zu sechs Jahren, die in den Jahren 2007 und 2008 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert worden waren. Und Ende September äußerte sich Elisabeth Jürgens bei uns hier im "Radiofeuilleton" zu den Ergebnissen so:

O-Ton Elisabeth Jürgens: Das Ergebnis dabei ist leider nicht sehr ermutigend, das ist sehr eindeutig, nämlich Frauen und Mädchen kommen sehr schlecht weg dabei, sie tauchen sehr viel seltener überhaupt auf. Es geht so weit, dass es zwei Bilderbücher gibt, da tauchen weibliche Figuren überhaupt nicht auf, aber kein einziges Bilderbuch, wo männliche Figuren nicht auftauchen. Insgesamt ist es auch so, dass sehr viel mehr Männer und Jungen oder männliche Tiere abgebildet sind, und es ist auch so, dass, wenn man sich anguckt, was tun sie, die Männer eigentlich immer diejenigen sind, die die spannenden Abenteuer erleben, die im Mittelpunkt stehen, die irgendwelche Probleme lösen, also, die irgendwo attraktiv und interessant sind, während die weiblichen Figuren das nur extrem selten sind, in der Regel sind sie tatsächlich passiv, sie machen irgendwie nach, was die Jungen vormachen, gehen irgendwie mit, schauen zu oder sind ziemlich grauselige, dumme Gestalten, die als Identifikationsfigur überhaupt nicht taugen.

Müller: Frau Pantos, was sagen Sie dazu?

Pantos: Quantitativ, denke ich, stimmt das. Es gibt sehr viel mehr männliche Protagonisten als weibliche und das gilt sowohl für die Kinderbücher wie für die Jugendbücher. Ich würde mal so über den Daumen gepeilt sagen, etwa zwei zu eins, also diese Beobachtung ist vollkommen richtig. Ich kann aber nicht der qualitativen Analyse zustimmen, dass Frauen, wenn sie vorkommen, jetzt eine untergeordnete Rolle spielen. Das sehe ich überhaupt nicht so.

Müller: Dennoch, wir haben auch noch mal nachgefragt am vergangenen Freitag, das waren ja jetzt Bücher aus dem Jahr 2007/2008, die da untersucht wurden, also Frau Jürgens haben wir angerufen und sie sagte, ja, auch bei den aktuell nominierten und eben auch jetzt bei diesem Gewinner kommen Mädchen nicht wirklich als Handelnde vor, nur im französischen Buch "Oups" und auch dort nur in einer Nebenrolle. Also, das ziehe sich durch.

Pantos: Ja, das ist richtig, das stimmt für diese Bücher. Aber wenn wir zum Beispiel ein Bilderbuch ohne Text haben, wo zwei Bären vorkommen, dann fällt das schon mal raus. Und auch bei "Oups", da kommt eine klassische Familie vor, Vater, Mutter und zwei Kinder, aber es geht da gar nicht um diese Familie, sondern es geht um ein ganz anderes Thema, nämlich um die Verkettung unglücklicher Umstände. Die Familie will in Urlaub fahren, bestellt eine Tante, die das Haus hütet, und der entwischt beim Duschen die Seife. So, die fällt aus dem Fenster. Darüber stolpert der Postbote und so weiter. Und jetzt geht eine Unglückskette los, das ist das Thema des Buches. Dass da nun eine Familie von diesem Unglück betroffen ist, weil sie nämlich zum Flugplatz müssen, um in Urlaub zu fahren, das ist das Thema. Mir ist sehr wohl bewusst, dass natürlich Rollenbilder im Hintergrund immer wichtig sind und dass ach Kinder sich die aneignen, aber ich glaube, sie eignen sie sich viel weniger über Bücher an, sondern eher in dem, was sie in ihrem familiären Umfeld erfahren. Das Thema Familie, das ist wichtig.

Müller: Nun ist ja die Stoßrichtung dieser beiden Forscherinnen, die ja auch sprechen für eine ganze Schule von dem, was man Genderforschung nennt, dass sich die Geschlechteridentitäten ab dem zweiten Lebensjahr bei beiden Kindern, bei beiden Geschlechtern eben entwickeln und Bücher eben auch sehr wichtig sind bei der Identifikationsfindung, und dass Pädagogen und Eltern, aber eben auch Sie, die Juroren beziehungsweise die Juroren bei Ihrem Verein, eine ganz wichtige Verantwortung hätten. Werden Sie dieser Verantwortung nicht gerecht?

Pantos: Das sehe ich nicht so. Man muss wissen, wie der Deutsche Jugendliteraturpreis funktioniert: Ein Bilderbuch oder ein Kinderbuch entsteht bei uns so, das schreibt jemand oder zeichnet jemand, dann geht er zum Verlag, da entscheidet der Lektor, ob er dieses Buch machen will oder nicht, dann reichen die Verlage ihre Bücher für den Deutschen Jugendliteraturpreis ein. Und im letzten Jahr sind in Deutschland über 8.000 deutschsprachige Neuerscheinungen auf den Markt gekommen. Die Jury sichtet etwa 600 Bücher und diese Jury ist komplett unabhängig vom Ministerium. Denn wir leben in einem Land, wo eine Zensur nicht stattfindet, und da auch Kinderbücher Kunstwerke sind, dürfen natürlich auch sie nicht zensiert werden. Gleichwohl achtet die Jury darauf, dass in diesen Büchern jetzt nicht Dinge transportiert werden, die so selber ihren Ansprüchen und Kriterien nicht genügen.

Müller: Also, wenn Sie jetzt sagen, dass die Nominierungen den Markt widerspiegeln, dann heißt das ja, dass es auf dem Markt keine ordentlich gemachten Bilderbücher gibt, in denen Mädchen und Frauen interessante Rollen haben und somit im Mittelpunkt stehen können. Ist das wirklich so?

Pantos: Doch, die gibt es. Aber die Verleger haben ein ganz anderes Problem: Sie reichen diese Bücher nicht ein. Denn da Problem der Verleger heißt: Wie kriegen wir die Jungen zum Lesen? Ich habe also mit dem Börsenverein und den Verlegern auf der Frankfurter Buchmesse gerade wieder eine Diskussion gemacht zu dem Thema "Jungs, ran ans Lesen!" - denn sie sind unsere Sorgenkinder, und ich glaube, dahinter steht eben auch bei den Verlagen so die Idee, wir müssen immer mehr interessante Bücher für Jungen machen, damit wir sie als Leser gewinnen. Mädchen sind als Leserinnen keine Problemgruppe, denn sie lasen immer auch Jungenbücher und tun das auch heute noch. Aber die Jungen lesen keine Mädchenbücher.

Müller: Es geht in Deutschlandradio Kultur um die Nominierungen beziehungsweise die Gewinner des Jugendliteraturpreises 2011 und da gibt es Kritik daran, da gebe es keine Bücher, in denen Mädchen tragende Rollen spielen. Und darüber spreche ich mit Regina Pantos, die ist die Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur e.V. Wir müssen vielleicht bei aller Kritik an diesen Büchern feststellen: Es gibt Jungen und Mädchen und die müssen ihre Persönlichkeit finden. Brauchen Kinder in ihrer Entwicklung vielleicht einfach auch Rollenklischees, also darf einfach auch nicht alles total offen sein in einer bestimmten Weise?

Pantos: Also, ich habe eher das Problem, dass für Kinder sehr viele Bücher angeboten werden, auch für Mädchen, mit Rollenklischees. Es fängt ja an für die Kinder bei den Allerkleinsten, dass es die Serie in Rosa und die Serie in Blau gibt, und dort werden jede Menge Klischees transportiert. Also, die Prinzessinnenbücher und die Piratenbücher, und für die Mädchen geht man ins Ballett, für die Jungen ist der Fußball da. Ich wünschte mir zum Beispiel, dass dann eine andere Sportart dran ist, Hockey zum Beispiel spielen sowohl Mädchen wie Jungen, also, es gibt ja vieles, was Jungen und Mädchen gemeinsam machen. Wir hatten mal so den Schwerpunkt darauf, diese Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen, das war ein Reflex auf die Emanzipationsbewegung der Frau in den 70er- und 80er-Jahren. Davon sind wir wieder weg, und Bücher spiegeln eben auch die Gesellschaft wider. Es gibt wirklich reihenweise diese Rollenklischeebücher, also die ganzen Feen. Aber das hat eben keine Chance, beim Deutschen Jugendliteraturpreis in die Auswahl zu kommen.

Müller: Der Jugendliteraturpreis 2011 ist vergeben, und im Bereich Bilderbuch hat gewonnen "Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor", Martin Baltscheit hat dieses Buch gemacht, und ein männlicher Fuchs spielt eine Hauptrolle, auch das könnte eben dann wieder zu Kritik führen bei Wissenschaftlerinnen, die sich mit diesen Büchern auseinandergesetzt haben und festgestellt haben, es gebe zu wenig Rollen, positive Rollen für Mädchen in diesen Büchern. Darüber habe ich mit Regina Pantos gesprochen, sie ist die Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur e.V. Vielen Dank!

Pantos: Danke Ihnen auch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Links bei dradio.de:

"Fazit" vom 14.10.2011: Applaus für den dementen Fuchs - Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises

"Bücher für junge Leser" vom 1.10.2011: Die besten 7 Bücher für junge Leser - Die Deutschlandfunk-Bestsellerliste im Oktober
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