Junge Migranten in Paris

Ohne Obdach, ohne Geld, ohne Papiere

Junge Migranten vor der Rot-Kreuz-Behörde in Paris
Täglich sprechen etwa 50 Jugendliche beim Roten-Kreuz in Paris vor. Sie wollen als minderjährig Flüchtlinge anerkannt werden. © Bettina Kaps
Von Bettina Kaps · 05.02.2019
Etwa 40.000 unbegleitete minderjährige Ausländer sind vergangenes Jahr in Frankreich eingetroffen. Größe, Bartwuchs, Auftreten und Geschichte entscheiden, ob sie als minderjährig, also schutzbedürftig anerkannt werden. Doch das kann dauern.
Ein Wohnviertel im Pariser Stadtteil Belleville. Boubou wartet geduldig vor einer Zweigstelle der Rot-Kreuz-Organisation. Der hochgeschossene Junge in Anorak, Jeans und Turnschuhen steht auf dem Bürgersteig, die Pforte im Zaun ist zugesperrt. Er blickt sehnsüchtig über Gitter und Vorplatz hinweg auf die gläserne Eingangstür.
"Ich habe niemanden in Frankreich, ich bin minderjährig. Ich will wissen, ob sie mich nehmen können."
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Junge Ausländer demonstrieren vor der Rot-Kreuz-Behörde in Paris. Sie wollen in die Schule gehen und beherbergt werden.© Bettina Kaps
Durch die Scheiben erkennt man eine Eingangshalle. Dort drängeln sich schon andere Jungen. "Demie", steht neben der Tür, das ist das Kürzel für "Dispositif d’évaluation des mineurs isolés étrangers" - auf Deutsch: "Einrichtung zur Beurteilung von unbegleiteten minderjährigen Ausländern". Die Clearingstelle ermittelt, ob sie einen Jugendlichen oder einen Erwachsenen vor sich hat.

Beherbergt und ausgebildet oder illegal und obdachlos

Falls Boubou als minderjährig anerkannt wird, ist Frankreich – im Namen der UN-Kinderrechtskonvention – für seinen Schutz verantwortlich: Dann muss der Junge beherbergt, ernährt und ausgebildet werden. Wenn nicht, drohen ihm Illegalität, Obdachlosigkeit und Abschiebung. Boubou zieht seine Kapuze enger um den Kopf. Es ist kalt in Paris, aber wenigstens regnet es heute nicht. Je länger er warten muss, desto unsicherer klingt seine Stimme.
"Vorhin war ich kurz drinnen. Der Mann dort hat meine Papiere nicht einmal angeguckt. Er hat gleich gesagt: Geh zum Richter. Dabei habe ich doch meine Geburtsurkunde und meinen Ausweis dabei."
Er zieht einen Pass aus der Jackentasche: Boubou S. steht unter dem Foto, geboren am 31. Dezember 2002 in Kayes, Mali. Der 16-Jährige erzählt, dass er seine Heimat vor anderthalb Jahren verlassen hat. Zuerst sei er ins Nachbarland Mauretanien gegangen, habe dann ein Jahr lang in Marokko zugebracht, sei schließlich über Spanien nach Frankreich gereist. Seit vier Tagen ist er nun in Paris, dem eigentlichen Ziel seiner Reise. Er möchte in Frankreich bleiben, weil ihm die Sprache vertraut ist. Rund um Boubou hat sich ein Grüppchen angesammelt.
Etwa 50 junge Migranten sprechen täglich bei der Rot-Kreuz-Behörde vor. Die meisten kommen aus ehemaligen französischen Kolonien in Westafrika, einzelne auch aus Ostafrika, Afghanistan oder Pakistan. Mädchen sind fast nie dabei.
Seit über zwei Jahren holen freiwillige Helfer die unbegleiteten minderjährigen Ausländer vor der Clearingstelle ab und spendieren ihnen in einem Pariser Stadtpark ein Mittagessen.
Seit über zwei Jahren holen freiwillige Helfer die unbegleiteten minderjährigen Ausländer vor der Clearingstelle ab und spendieren ihnen in einem Pariser Stadtpark ein Mittagessen.© Bettina Kaps
Oumar und Diallo stammen beide aus Guinea. Oumar hält die Hand auf eine geschwollene Backe, er hat heftige Zahnschmerzen. Diallo schnieft und schnattert vor Kälte.
"Wir schlafen in einem Bahnhof."
"Ein Mann hat gesehen, dass wir da seit zwei, drei Tagen übernachten. Er hat uns gesagt, dass wir hierher kommen müssen."
Die Glastür geht auf, zwei Jungen verlassen die Behörde, der Sicherheitsmann lässt neue herein. Boubou, Oumar und Diallo bleiben außen vor. Eine zierliche Frau in grauer Winterjacke biegt um die Straßenecke und begrüßt die Jungen, als ob sie alte Bekannte wären.
Agathe Nadimi will wissen, ob die Rot-Kreuz-Mitarbeiter den Jungen ein paar Fragen gestellt und sich zumindest flüchtig für ihre Situation interessiert hätten. Die 40-Jährige, von Beruf Dozentin an einer Business School, kümmert sich ehrenamtlich um die jungen Ausländer.
Eine Erfolgsgeschichte: Agathe Nadimi hat Thierno aus Guinea bei der Anerkennungsprozedur geholfen. Heute wird der 15-Jährige staatlich betreut und geht zur Schule.
Eine Erfolgsgeschichte: Agathe Nadimi hat Thierno aus Guinea bei der Anerkennungsprozedur geholfen. Heute wird der 15-Jährige staatlich betreut und geht zur Schule. © Bettina Kaps
Ein Junge im roten Kapuzenpulli hält ein Schreiben in der Hand. Er heißt Ali, kommt aus Pakistan, sagt, dass er 15 ist. Das Rote Kreuz habe ihn am Vortag befragt und heute einbestellt, um ihm eine "Lettre de refus" zu geben, einen Ablehnungsbrief. Die Begründung darin lautet:
"Sie haben Ihre Migration allein ausgeführt und unterwegs gearbeitet. Das lässt auf ein großes Maß an Reife und Autonomie schließen, die nicht im Einklang steht mit dem Alter, das Sie angeben. Der Bericht über Ihren Migrationsweg ist lückenhaft. Ihr Auftreten und Ihre Art zu kommunizieren passen nicht zu Ihrem vorgeblichen Alter. Ihre Geburtsurkunde können wir ihnen nicht zuordnen."

Drei kurze Fragen entscheiden über Minderjährigkeit

Agathe Nadimi seufzt. Diese Argumente hat sie Hunderte von Malen gelesen. Ihr gefällt nicht, wie die Clearingstelle arbeitet.
"All diesen Jungen hier sagen sie nach ein paar Standard-Fragen: Komm morgen wieder, um dir deinen Brief mit der Ablehnung abzuholen. Diese eine Nacht bringen wir dich im Hotel unter. Das nennt man eine kurze Evaluierung. Die Mitarbeiter betrachten die meisten Jungen nach drei kurzen Fragen als nicht minderjährig."
Ali hat noch einen zweiten Zettel bekommen: die Adresse des Gerichts, wo er Einspruch einlegen kann. Agathe warnt ihn und die anderen Jungen vor falschen Erwartungen. Bis sie einen Termin beim Jugendrichter bekämen, würden ein bis zwei Monate verstreichen. Die gesamte Prozedur könne sich sogar ein ganzes Jahr lang hinziehen.

Draußen schlafen im Winter

Die Jungen fragen erschrocken, wo sie denn in der Wartezeit bleiben sollen. Noch dazu jetzt, im Winter.
"Ich weiß, sehr viele von euch müssen draußen schlafen. Das macht mich ganz traurig. Deshalb schreibe ich eure Namen auf und gebe sie an alle Hilfsvereine weiter, die ich kenne".
Agathe Nadimi ist selbst Mutter eines Teenagers. Das Schicksal der "jungen unbegleiteten Migranten" treibt sie seit drei Jahren um. Damals bildeten sich erstmals in Paris große Zelt- und Matratzenlager, wo Flüchtlinge und Migranten im Freien kampierten.
Die Suppenküche im Park ist ein Treffpunkt für viele ausländische Jungen, die in Frankreich zur Schule gehen und arbeiten möchten.
Die Suppenküche im Park ist ein Treffpunkt für viele ausländische Jungen, die in Frankreich zur Schule gehen und arbeiten möchten. © Bettina Kaps
Um den Jüngsten unter ihnen zu helfen, hat Agathe mithilfe von Facebook eine Menschenkette ins Leben gerufen. Sie und ihre Mitstreiterinnen – es sind überwiegend Frauen – gehen nun täglich bei der Clearingstelle vorbei und laden die dort wartenden Jungen zum Mittagessen ein.

Suppenküche im Stadtpark

Zehn Fußminuten von der Rot-Kreuz-Behörde entfernt liegt ein Stadtpark. Dort bauen sie bei Wind und Wetter eine Suppenküche auf. Zwei Tischtennisplatten aus Beton dienen als Tische. Es ist zwölf Uhr: Nach und nach trudeln über hundert Jugendliche ein. Viele kommen aus einer Stadtbücherei, wo ihnen freiwillige Helfer Französischunterricht geben. Einige schnappen sich einen Fußball, kicken ein bisschen. Andere stellen sich zu einer Warteschlange auf. Eine Frau mit blonder Hochsteckfrisur schöpft Rindfleisch-Eintopf aus. Es duftet würzig.
"Früher habe ich oft gekocht, dann musste ich aussetzen, weil ich selbst kleine Kinder habe. Jetzt helfe ich, wenn Agathe mich braucht. Ich koche bei mir zu Hause. Diesmal habe ich über 200 Portionen mitgebracht. Meine Freunde zahlen in eine Gemeinschaftskasse ein. Von dem Geld habe ich zuerst die großen Kochtöpfe gekauft und nun die Lebensmittel. Diesmal reichte es sogar noch für Handschuhe und Schals."
Die Jungen sind begierig auf alles, was wärmt. Ein Schwarzer in einem dünnen Pulli bittet Agathe um ein Telefon. Er sei nachts bestohlen worden, auch sein Anorak sei weg. Agathe kennt die Nöte der Migranten, sie zieht ein Billig-Handy aus ihrem Rücksack.
"Das Telefon ist betriebsbereit, hier ist deine Nummer. Du hast ein Guthaben von fünf Euro drauf. Hast du schon Einspruch erhoben? Gut. Dann gehst du jetzt zum Gericht und teilst ihnen deine Telefonnummer mit, damit sie dich anrufen können, sobald dein Gerichtstermin feststeht."

"Hier in Paris ist es eine wahre Katastrophe"

Eine grauhaarige Frau gießt heißes Wasser in große Plastikschüsseln. Einmal pro Woche übernehmen sie und ihr Freund das Spülen im Park, zwei Migranten helfen mit. Die ehemalige Lehrerin schimpft über die Arbeitsweise der Clearingstelle.
"Ich weiß ja nicht, was das Rote Kreuz anderswo macht, vermutlich allerhand Gutes. Aber hier in Paris ist es eine wahre Katastrophe."
Die Rentnerin erzählt, dass sie schon vier Jungen und ein Mädchen von der Straße geholt und eine Weile bei sich zu Hause beherbergt hat. Sie weiß, was es für die Heranwachsenden bedeutet, wenn sie von der Behörde als Schwindler eingestuft und abgewiesen werden.
"Die Jugendlichen beschreiben den Leuten vom Roten Kreuz ihren Migrationsweg. Manche berichten, dass sie zusehen mussten, wie Mitreisende gestorben sind, und welche Gefahren sie selbst überstanden haben. Und was antwortet ihnen das Rote Kreuz? Sie haben große Reife bewiesen, also müssen Sie erwachsen sein. Ein Junge, der bei mir gewohnt hat, bekam daraufhin Angstzustände. Er hatte geglaubte, er sei am Ziel, und musste dann im Ablehnungsbrief lesen: Sie sind zu reif – ab auf die Straße."
"Inzwischen hat ihn ein Gericht als minderjährig anerkannt. Er war damals erst 15 Jahre und drei Monate alt. Wie kann ein humanitärer Verein so handeln? Das ist mir ein Rätsel."
Schwere Vorwürfe. Deutschlandfunk Kultur wurde es leider nicht erlaubt, sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen. Die Leiterin der Clearingstelle gibt auch kein Interview. An ihrer Stelle antwortet Thierry Couvert-Leroy. Er arbeitet am Hauptsitz der französischen Rot-Kreuz-Organisation, leitet dort den Bereich Kinder und Familien.
"2016 haben wir den Vertrag mit der Stadt Paris geschlossen. Damals waren 3500 Evaluierungen pro Jahr vorgesehen. 2018 haben wir etwa 8000 Evaluierungen abgewickelt. Bei derart steigendem Andrang müssen wir uns umstrukturieren und auch die räumlichen Kapazitäten erweitern, damit wir 50 bis 60 junge Leute am Tag angemessen empfangen können. Das sind ganz schön viele."

Aussprache von fünf Minuten oder zwei Stunden

Das Amt führe mit jedem jungen Menschen, der vorstellig werde, ein Gespräch, beteuert Couvert-Leroy. Dabei werde der Junge nach dem Lebensweg, der Familie, dem Grund für die Migration befragt, was er unterwegs erlebt habe, wie er in Frankreich gelandet sei und was er hier tun wolle. Die Aussprache könne unterschiedlich lang ausfallen.
"Je nachdem, was der Junge zu sagen hat. Wenn er nicht reden will, kann es schon nach fünf Minuten vorbei sein. Manchmal dauert es aber auch zwei Stunden. Falls ein Junge sehr erschöpft ist, laden wir ihn zu einem zweiten Gespräch ein. Für die Zeit der Evaluierung vermitteln wir eine Unterbringung. Das ist dann allerdings nicht mehr unser Verantwortungsbereich."
Laut Couvert-Leroy sind die Rot-Kreuz-Mitarbeiter nur ein Rädchen im Getriebe. Dabei haben nur sie Kontakt zu den Jungen und verfassen den Evaluierungsbericht für das Jugendamt der Stadt Paris. Aber die Entscheidung treffe einzig und allein das Jugendamt, versichert er.
Anschließend, oft schon am Tag nach dem Gespräch, überreicht die Clearingstelle den jungen Menschen die schriftliche Antwort. Wie viele Jugendliche im letzten Jahr als Minderjährige anerkannt und wie viele abgelehnt wurden, will das Rote Kreuz nicht mitteilen – das sei Aufgabe der Stadt Paris. Aber auch das Rathaus gibt diese Information nicht preis. Fest steht: Das Jugendamt unterschreibt sehr viele Ablehnungen. Auf die Frage, warum Boubou S. aus Mali keine Möglichkeit hatte, seinen Pass zu zeigen, und warum das Amt den 16-Jährigen ohne Gespräch und ohne den notwendigen Bescheid ans Jugendgericht verwiesen habe, antwortet der Rot-Kreuz-Verantwortliche:
"Für mich ist das nicht möglich. Der Junge hat Ihnen seinen Brief nicht gezeigt. Alle werden zu einem ersten Gespräch empfangen."

Leichtfertig als erwachsen abgestempelt?

Thierry Couvert-Leroy weist Vorwürfe zurück, wonach das Rote Kreuz den jungen Menschen generell mit Misstrauen begegne und sie leichtfertig als erwachsen abstemple. Oft sei es so, dass die Jungen sich jünger machten, auch auf Rat von Dritten.
"Natürlich berührt es mich, dass diese jungen Erwachsenen manipuliert werden. Dass man ihnen vorgaukelt, ihre einzige Hoffnung sei der Status als Minderjähriger. Gewiss stellt sich die Frage: Warum wird ein Migrant, der in Paris Schutz beantragen will, nicht immer beherbergt? Aber wenn alle jungen Erwachsenen in ihrer Not die Jugendhilfe beanspruchen, haben wir ein echtes Problem."
Rechtsanwältin Catherine Delanoë-Daoud vertritt einen Jungen aus Burkina Faso. Aus Verzweiflung hat er sich in dieser Halle vom 4. Stockwerk in die Tiefe gestürzt.
Rechtsanwältin Catherine Delanoë-Daoud vertritt einen Jungen aus Burkina Faso. Aus Verzweiflung hat er sich in dieser Halle vom vierten Stockwerk in die Tiefe gestürzt. © Bettina Kaps
Die abgelehnten Jugendlichen können vor Gericht Einspruch erheben. Dazu müssen sie den Pariser Justizpalast aufsuchen, ein neues, weithin sichtbares Hochhaus aus Glas und Stahl. Die Licht durchflutete Empfangshalle ist sechs Etagen hoch. Rolltreppen führen nach oben. Sechs Stockwerke sind zur Halle hin nur mit gläsernen Brüstungen abgegrenzt. Rechtsanwältin Catherine Delanoë-Daoud leitet die Anlaufstelle für Minderjährige. Sie ist in zwei winzigen Büros im Erdgeschoss untergebracht. Mehrmals pro Woche übernimmt die Juristin auch den Bereitschaftsdienst. An diesem Nachmittag warten noch fünf junge Schwarze auf Einlass.
"Am 23. November hat hier ein Junge aus Burkina Faso ausgeharrt. Er dachte, nach dem Gespräch werde er sofort beherbergt. Aber die anderen Jungen haben ihm erklärt, dass es Wochen dauern könne, bis ihn der Jugendrichter anhört. Da wurde ihm klar, dass seine Irrfahrt noch lange nicht zu Ende ist. Aus Verzweiflung ist er in den vierten Stock gefahren, dort oben über die Brüstung geklettert und in die Tiefe gesprungen. Der eine Lampenschirm ist noch kaputt."

Selbstmordversuch als Film im Internet

Catherine Delanoë-Daoud hat den Selbstmordversuch nicht gesehen. Aber sie hat entsetzt festgestellt, dass die Szene gefilmt und ins Internet gestellt wurde.
"Jemand hat den Jungen am Arm festgehalten. Einen langen Moment schwebte er in der Höhe, dann ist er doch gefallen. In der Zwischenzeit haben die anderen Jungen und einige Rechtsanwälte rasch Mäntel und Pullover auf dem Boden ausgebreitet. Zum Glück ist der Junge nicht sehr schwer verletzt, er kann schon wieder mit Krücken gehen, vor allem aber: Er ist nicht tot."
Er wurde mit dreifachem Beckenbruch ins Krankenhaus eingeliefert. Die Clearingstelle hat den Verletzten evaluiert, sagt Thierry Couvert-Leroy, der den Bericht seiner Behörde gelesen hat. Das Rote Kreuz hat ihn als volljährig eingestuft. Agathe Nadimi kümmert sich regelmäßig um den Jungen. Er ist 15 Jahre alt, sagt die Helferin, sie hat seine Geburtsurkunde gesehen. Auch Rechtsanwältin Catherine Delanoë-Daoud hat den Jungen befragt. Sie ist ebenfalls von seiner Minderjährigkeit überzeugt und hat den Jugendrichter eingeschaltet.
"Mehr als die Hälfte unserer Mandanten wird vom Richter als minderjährig anerkannt. Es sind also Kinder. Manche haben ein bis anderthalb Jahre verloren, in denen sie auf sich gestellt und oft obdachlos waren. Das ist gefährlich, sie können Verfolgern in die Hände fallen."
"Im Vergleich dazu ist ein erwachsener Asylbewerber viel besser gestellt: Bis zum Ende seines Verfahrens hat er Anspruch auf Unterbringung. Auch dann, wenn er in erster Instanz abgelehnt wurde und in Berufung geht. Aber die jungen Ausländer, Kinder, die lässt man auf der Straße, solange ihr Verfahren läuft."

Warum werden gerade die Jüngsten allein gelassen?

Vor einem Jahr hat Delanoë zusammen mit Kollegen einen Protest-Brief an den Pariser Staatsanwalt geschrieben. Darin hat sie die Namen von 128 Minderjährigen aufgelistet, die damals obdachlos waren, und rasche Hilfe verlangt – es ist nichts passiert. Die Verantwortlichen vom Pariser Rathaus haben trotz mehrfacher Anfrage keine Stellung genommen zu der Frage, warum gerade die Jüngsten allein gelassen werden und sich auf der Straße durchschlagen müssen.
"Frankreich verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonvention", sagt Corinne Torre von "Ärzte ohne Grenzen".
"Frankreich verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonvention", sagt Corinne Torre von "Ärzte ohne Grenzen".© Bettina Kaps
Der Raum ist warm geheizt. Acht Jungen und ein Mädchen haben es sich auf Sofas und Sesseln bequem gemacht. Einige dösen, andere spielen mit ihren Handys. Niemand spricht. Die Jugendlichen haben eine Tagesstätte der Ärztehilfsorganisation "Médecins sans frontières" aufgesucht. Sie kümmert sich ausschließlich um Minderjährige, die das Rote-Kreuz abgewiesen hat.

Frankreich als Krisengebiet

Eigentlich sei ihr Verein ja dazu da, in Krisengebieten zu arbeiten, nicht in einem reichen Land mit kostenloser Gesundheitsversorgung, sagt Corinne Torre, Einsatzleiterin von "Médecins sans frontières" in Frankreich.
"Wir sind auf der ganzen Migrationsroute präsent: im Tschad, in Niger, in Libyen. So lange wir konnten, haben wir mit dem Schiff Aquarius Rettungsaktionen im Mittelmeer unternommen. Wir sind in Italien und Griechenland aktiv. Vor zwei Jahren haben wir beschlossen, in Frankreich zu arbeiten, weil hier täglich Hunderte von Migranten ankommen und auf der Straße sind."
Die Tagesstätte ist ein politisches Signal: Die Art und Weise, wie die Minderjährigen in Paris und vielen anderen Departements behandelt werden, verstoße gegen die Genfer Konvention über die Rechte des Kindes, sagt Corinne Torre.
"Wir wollen beweisen: Wenn man sich die Zeit nimmt, die Jugendlichen bis zu ihrem Gerichtsverfahren zu begleiten, werden sie oft sehr wohl als Minderjährige anerkannt. Wir wollen die Regierung davon überzeugen, dass die jungen Menschen vom Jugendamt betreut werden müssen, bis das endgültige Urteil gefällt ist. Es geht nicht an, dass man sie im Freien lässt."

Mädchen schaffen den Weg nur selten

"Médecins sans frontières" hat schon tausend Jugendliche empfangen. Anfangs haben die Krankenschwestern der Tagesstätte festgestellt, dass zwei Drittel aller Jungen Narben von Misshandlungen am Körper trugen. Vor allem in Libyen sind viele gefangen, gefoltert und sexuell misshandelt worden. Inzwischen verläuft die Migrationsroute oft über Marokko, auch dort geht es gewalttätig zu. Hinzu kommen seelische Verletzungen. Deshalb arbeiten auch Psychologen in der Tagesstätte. Mädchen schaffen leider nur selten den Weg bis hierher, bedauert Corinne Torre.
"Es waren höchstens 30 Mädchen im ersten Jahr. Die meisten geraten in die Fänge von Zuhältern und Menschenhändlern. Alle Mädchen, die wir betreut haben, sind vergewaltigt worden. Alle. Jungen werden auch oft sexuell missbraucht, aber die meisten wollen es nicht sagen. Wir wissen daher nicht, wie viele von ihnen Opfer wurden."

"Ich friere, aber was kann ich dagegen tun?"

Auch die junge Frau im warmen Aufenthaltsraum wird psychologisch betreut. Sie wohnt in einem Heim, das "Médecins sans frontières" in der Nähe von Paris eröffnet hat: Mit 40 Betten für Jugendliche, die auf den Entscheid des Jugendrichters warten. Sechs Betten sind für Mädchen reserviert. Auf die Frage, wer von ihnen obdachlos ist, heben vier Jungen die Hände. Unter ihnen ist Bakary. Der 16-jährige Malier sieht mutlos aus.
"Ich schlafe im Freien, bei der Metrostation Porte de la Chapelle. Ich friere, aber was kann ich dagegen tun? Ich kenne hier niemanden. Beim Roten Kreuz haben sie mich ans Gericht verwiesen. Ein Rechtsanwalt hat mir einen Brief geschrieben, das ist schon über drei Wochen her. Ich habe noch keine Antwort vom Richter."
Eine Krankenschwester ruft Bakary in ihr Untersuchungszimmer. Der Junge fiebert, außerdem juckt es ihn am ganzen Körper. Auf der Straße hat er sich mit Krätze angesteckt.
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