"Junge Menschen nicht verantwortungslos in doppelte Staatsangehörigkeit treiben"

Seyran Ates im Gespräch mit Ulrike Timm · 02.04.2013
Die Herzensangelegenheit, sich zwei Kulturen verbunden zu fühlen, könne man nicht mit einem Pass regeln, sagt die türkischstämmige Anwältin Seyran Ates. Stattdessen solle man sich vor der Wahl fragen: "Unter welchem politischen System will ich leben?"
Ulrike Timm: Ab diesem Jahr müssen sich junge Leute, deren Eltern aus einem Nicht-EU-Land stammen und die bislang zwei Pässe haben, einen deutschen und einen türkischen Pass in den meisten Fällen, diese Menschen müssen sich mit 23 Jahren endgültig für die eine oder die andere Staatsbürgerschaft entscheiden. Wie sinnvoll oder wie wenig sinnvoll das ist, darüber spreche ich gleich mit der Rechtsanwältin Seyran Ates. Erst einmal hören Sie von Dorothea Jung, Radiofeuilleton, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio) wie es zwei junge Menschen erleben, sich auf einen Staat festlegen zu müssen.

Timm: Und über das Für und Wider der Entscheidung für eine Staatsbürgerschaft sprechen wir jetzt mit der Rechtsanwältin Seyran Ates. In Istanbul geboren, in Deutschland zu Hause. Sie setzt sich vor allem für die Rechte von Migrantinnen ein und wird dabei immer wieder von türkischen Extremisten so sehr bedroht, dass sie unter Polizeischutz leben muss. Seyran Ates hat auch ein Buch vorgelegt: "Warum ich Deutschland lieben möchte". Frau Ates, herzlich willkommen!

Seyran Ates: Vielen Dank, herzlichen Dank!

Timm: Zwei junge Menschen, denen man anhört, dass sie es irgendwie als Zumutung empfinden, ihren türkischen beziehungsweise russischen Pass aufgeben zu müssen, um den deutschen zu behalten. Was würden Sie ihnen sagen, wenn Sie mit ihnen einen Tee trinken würden?

Ates: Ich würde sie fragen, inwieweit sie aufgeklärt wurden, bis dahin, bis zu dem Zeitpunkt, wo sie sich entscheiden müssen. Ob sie tatsächlich sich eindringlich Gedanken darüber gemacht haben, was es bedeutet, beide Staatsangehörigkeiten zu besitzen, von zwei sehr unterschiedlichen Ländern wie Türkei und Deutschland – bei Aserbaidschan sieht das nicht anders aus –, und dann würde ich sie auch wirklich fragen, mit wem sie darüber geredet haben, wer sie vielleicht geführt hat und begleitet hat bei diesem Nachdenken. Man muss ja darüber nachdenken, das hat die junge Frau ja gesagt, bis man sich entscheidet. Ob sie genug Zeit hatten.

Timm: Es gibt ja einen Zweifel, weil das eine Herzensangelegenheit ist: Wohin gehöre ich, wohin gehöre ich näher? Welchen Pass will ich letztendlich haben? Nun können Herzensangelegenheiten nicht gesetzlich geregelt werden. Sie sind aber stark. Ist es wirklich klug, die Loyalität junger Deutsch-Türken und Deutsch-Russen noch mal extra zu prüfen? Wenn Italiener und Griechen und Schweizer ihren doppelten Pass in aller Regel auf Wunsch doch behalten dürfen?

Ates: Ja, da machen wir hier einen Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Das geht nun mal nicht, dass wir Nicht-EU-Staaten gleich behandeln wie EU-Staaten. Dann würde dieser EU-Pakt keinen Sinn machen. Also, wir haben leider noch nicht die Situation, dass wir alle Weltbürger sind und dass wir einen Weltpass bekommen. Das wäre das Ideal. Da würde ich mir wünschen, wir haben keine Grenzen mehr in dem engen Sinne wie jetzt.

"Diese Herzensangelegenheit bleibt bei mir"
Wir haben eine Situation, dass die Länder nun mal voneinander, wie gesagt, getrennt sind, was die einzelnen Pakte anbelangt. Und da hat das nichts mehr mit Loyalität – das hat nichts in meinen Augen mit Loyalität zu tun. Und die Herzensangelegenheit, sich zu einer Kultur, einer Heimat verbunden zu fühlen, kann man nicht richtig regeln, bedeutet aber auch in die andere Richtung, man kann es nicht per Pass gesetzlich regeln. Dass ich jetzt einen Pass abgegeben habe, bedeutet nicht, dass ich meine türkische Kultur mit abgegeben habe.

Diese Herzensangelegenheit bleibt bei mir, in mir. Und da würde ich in dem Gespräch mit den jungen Menschen genau darauf eingehen: Habt ihr lange genug darüber nachgedacht, was es bedeutet, dieses eine Papierstück zu haben, aber was es gleichzeitig bedeutet, zwei Identitäten zu besitzen und mit diesen Kulturen auch zu leben, mit verschiedenen.

Timm: Der Pass also als Papier, das man halt braucht?

Ates: Der Pass ganz praktisch als Papier, das man braucht. Wofür ich mich im Jahre 1986 entschieden habe, weil ich mit diesem Papier – deutschen Papier – besser reisen konnte als mit dem türkischen Pass.

Timm: Nun sagen ja insbesondere viele Deutsch-Türken, die es vor allem betrifft: Ja, natürlich ist Deutschland meine Heimat, ich spreche viel besser Deutsch als Türkisch, aber ich möchte eben diesen besonderen Ton in meiner Biografie auch gerne behalten. Für mich gehören meine türkischen Lebensgewohnheiten dazu. Und jetzt fühlen sie sich, ich sag mal, abgeprüft, dadurch, dass sie – schürt das nicht auch eine Bitternis, die es anders gar nicht gegeben hätte?

Ates: Sie fühlen sich abgeprüft, und da würde ich den jungen Menschen entgegenhalten und sagen, warum fühlt ihr euch nur abgeprüft von außen, bitte prüft doch auch von innen selbst. Ich würde zurzeit, habe ich eine – ich korrigiere mich da, ich habe zurzeit eine andere Haltung zur doppelten Staatsangehörigkeit als bis vor zwei Jahren noch, und deswegen würde ich die jungen Menschen fragen, wisst ihr denn tatsächlich, was es für euch praktisch auch bedeutet, rein rechtlich bedeutet, wenn ihr beide Pässe habt.

Wenn ein türkischer Staatsbürger beide Pässe hat und es passiert ihm in der Türkei etwas, es gibt einen Konfliktfall, dann ist dieser Mensch nur noch türkischer Staatsbürger dort in der Türkei, und die Deutschen dürfen diesem Menschen nicht mehr helfen. Es hat viele Situationen gegeben, wo Menschen mit dem doppelten Pass in der Türkei vor der Tür der deutschen Botschaft abgewiesen wurden beziehungsweise höflich darauf hingewiesen wurden, dass man nichts für sie machen kann.

Unterschiedliche Bewertung der Doppelpass-Angelegenheiten
Und das ist für mich ein ganz wichtiger Aspekt inzwischen, dass man diese beiden politisch sehr unterschiedlichen Staaten nun mal in der Doppelpass-Angelegenheit nicht gleich bewerten kann. All das sollen die jungen Menschen bitte auch wissen und deshalb von innen her noch mal überlegen, ist das wirklich für sie machbar, realistisch in ihrer Lebenssituation wirklich positiv und von Vorteil, beide zu besitzen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton. Wir sprechen mit der Rechtsanwältin Seyran Ates, die sich vor allem für Migranten einsetzt und dabei in den Blick türkischer Extremisten geriet, mehrfach bedroht wurde und die zuletzt ein Buch vorgelegt hat: "Warum ich Deutschland lieben möchte". Frau Ates, sie selbst haben Ihren türkischen Pass zurückgegeben. Wie einfach oder auch wie schwer war das?

Ates: Ja also, das Buch trägt ja auch den Obertitel "Wahlheimat". Es ging um das Thema Heimat. Ich habe für mich, ähnlich wie die jungen Menschen, entschieden irgendwann, dass zu meiner Identität beide Pässe gehören, weil meine Identität, die transkulturelle Identität dann den Ausdruck im Papierformat sozusagen hat. Aber inzwischen merke ich, dass es für mich als politisch aktiver Mensch nicht die richtige Entscheidung war. Weil ich bin in einen Konflikt geraten.

Ich wollte in die Türkei reisen. Das LKA wollte mich begleiten, mit Waffen, und die türkischen Beamten haben gesagt, ja, die LKA-Beamten können gerne mitkommen, aber nicht mit Waffen. Mit der Begründung, ich sei auch gleichzeitig türkische Staatsangehörige, und dann sind sie zuständig. Aber sie haben nicht gesagt, dass sie mich beschützen würden bei der Konferenz, an der ich teilnehmen wollte. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Und das war kein leichter Gang. Das war nicht wie einfach nur den Pass verlängern lassen oder einen Führerschein beantragen. Selbstverständlich habe ich mir Gedanken gemacht, und das Ergebnis ist dieses Buch geworden.

"Unter welchem politischen System will ich leben?"
Und ich habe am Ende meiner Gedanken feststellen müssen, dass ich Jahre zuvor mehrere Takte an Gedankengängen nicht gemacht habe. Dass ich nicht darüber nachgedacht habe, was passiert denn im Konfliktfall. Von welchem Staat will ich die Bürgerin sein, und unter welchem politischen System will ich leben. Ich sage ja nicht, dass die deutsche Seite sehr viel besser ist. Ich sag ja nicht, dass Deutschland sehr viel besser ist und dass es ausschließlich gut ist, den deutschen Pass zu haben. Selbstverständlich nicht. Nur, wir haben hier mehr Freiheitsrechte. Für einen Menschen wie mich ist das sehr viel besser, sicherer, hier politisch aktiv zu sein in Deutschland, geschützt vom Staat, als in der Türkei. Und so war dann am Ende die Entscheidung einfach.

Timm: Seyran Ates hat sich entschieden, deutsche Staatsbürgerin zu sein. Nun haben die Integrationsminister gerade vor Ostern vorgeschlagen, die doppelte Staatsbürgerschaft zu erlauben. Wäre das die Lösung oder ist das jetzt gültige Optionsmodell, das ja von 1999 herrührt, als noch sehr bitter gefochten wurde um den Begriff, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, womöglich doch ein kluges?

Ates: Es wird immer noch gerungen darum, ob wir ein echtes Einwanderungsland sind. Für mich ist Deutschland noch lange kein Einwanderungsland, solange wir keine Einwanderungsgesetze haben und eine Einwanderungspolitik betreiben mit einem entsprechenden Ministerium. Das sind alles dahergesagte Worthülsen, die noch keinen Inhalte haben in meinen Augen.

Und für die doppelte Staatsangehörigkeit plädiere ich inzwischen nur dann, wenn zwischen den Ländern, die es betrifft, und hier speziell Türkei/Deutschland, nationale Verträge geschlossen werden darüber, was im Konfliktfall passiert. Wir dürfen die jungen Menschen nicht verantwortungslos in die doppelte Staatsangehörigkeit treiben oder sie dorthin einladen, ohne sie wirklich darüber aufzuklären, was passiert denn im Konfliktfall mit eurer Situation.

Timm: Die Meinung der Rechtsanwältin Seyran Ates. Und für Ihre eigene Arbeit wünsche ich Ihnen alles Gute und guten Schutz!

Ates: Danke schön, Frau Timm!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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