Jugoslawien-Krieg

Der Schrecken in allen Facetten

Besprochen von Jörg Plath · 19.11.2013
Zwei Jahrzehnte nach den jugoslawischen Kriegen versucht David Albahari von ihrem Wahnsinn zu erzählen. Der serbische Autor lässt alle Schreckenstaten und die Auseinandersetzung mit eigenen Idealen an einem Ort aufeinandertrefen: am "Kontrollpunkt".
Überschaubar wirken die Bücher von David Albahari nur auf den ersten Seiten. Dann erhält das vermeintlich Einfache durch einen Widersacher einen doppelten Boden, und das Geschehen durchläuft immer waghalsigere Kehren bis in den Wahnsinn hinein, einen äußerst eloquenten und perfekt begründeten freilich. All das gilt zunächst auch für Albaharis neuen Roman "Kontrollpunkt": Reservisten sind zu einem Kontrollpunkt ausgerückt. Wen oder was sie kontrollieren sollen, wissen sie nicht. Niemand kommt, das Funkgerät empfängt nur eine unverständliche Sprache und verstummt dann. Der Kommandant behält seine Gedanken über Literatur und Esperanto für sich, um nicht als Wehrkraftzersetzer zu gelten. Er fordert unbedingte Wachsamkeit. Die Soldaten zweifeln bald am Krieg und wollen nach Hause. Da fällt der erste Schuss.
Es ist der Startschuss für ein zunehmend apokalyptisches Geschehen. Scharfschützen schießen vorerst daneben. Kundschafter treffen den Feind nicht, zwei von ihnen sterben aber. Eine Flüchtlingsgruppe trifft ein. Nachts strömen die Soldaten in ihr Lager und kopulieren massenhaft. Weil einer von ihnen unter ungeklärten Umständen stirbt, kommen sie kurz darauf zu einem fürchterlichen Strafmassaker wieder. Die Überlebenden werden nach einigen Vergewaltigungen am Kontrollpunkt bürokratisch erfasst und durchgelassen. Die Post trifft ein, Granaten explodieren, in der aufgeheizten Situation begeht ein Soldat Kriegsverbrechen. Im Wald scheinen drei Armeen zu kämpfen. In Häusern, die auf keiner Karte verzeichnet sind, liegen Tote herum, nicht nur Männer und Frauen, auch Kinder und Kühe, wie der Kommandant kritisch bemerkt. Er führt Listen. Als sie sich als fehlerhaft erweisen, erstellt er "eine Liste der in der Liste fehlenden Dinge". Die Hydra hat den Kopf erhoben.
Nur der Kommandant überlebt
David Albahari lässt alles, was der Krieg an Schrecken und Wundern, an Grauen und Idealen, Sinnlosigkeiten und Heldentaten bietet, auf die Soldaten am Kontrollpunkt los. Ihre Zahl vermindert sich rapide, obwohl noch immer unklar ist, wer der Gegner ist. Er spricht allerdings, als die stark geschrumpfte Einheit den Kontrollpunkt aufgibt und in den Wald flieht, dieselbe Sprache wie die Reservisten.
Zwanzig Jahre nach den jugoslawischen Kriegen versucht David Albahari, von ihrem Wahnsinn zu erzählen. Der wohl bekannteste Schriftsteller Serbiens, der auch den jüdischen Gemeinden seines Landes vorstand, emigrierte damals nach Kanada. In seiner parabelhaften, grotesk-phantastischen Erzählung räsoniert der Listen führende Kommandant insgeheim über Kultur, Sprache und Moral, während das "Wir" der Soldaten zunehmend panisch wird und dann verstummt, bevor es erneut auftritt – seltsamerweise, als kein Reservist mehr lebt. Albaharis hochentwickelte Erzählkunst, mit zwei einander widersprechenden, aber strikt aufeinander bezogenen Stimmen eine vermeintlich objektive Wirklichkeit brüchig werden zu lassen, scheitert in "Kontrollpunkt".
Die Dynamik des Geschehens scheint autonom, ist letztlich also dem allmächtigen Autor zuzuschreiben. In erzählerischer Hinsicht muss Albahari in der Antikriegserzählung vor dem Krieg kapitulieren. In stofflicher sucht er alles Bekannte zu überbieten und integriert selbst die Medialisierung des Krieges: Der Kommandant rettet sich als einziger Überlebender in sein Haus, gibt vom Sofa aus einer Fernsehmoderatorin ein Interview und legt die Sicherheitskette an der Eingangstür vor. "Draußen herrschte immerhin Krieg."

David Albahari: Kontrollpunkt
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013
179 Seiten, 18,95 Euro

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