Jugendliche Straftäter

Das Ende der Unschuld

30:05 Minuten
Vermummter Jugendlicher mit Schirmmütze und Sonnenbrille hält ein Butterflymesser in die Höhe.
Schwere Körperverletzung oder Raub machen statistisch gesehen nur einen kleinen Teil der Straftaten von Jugendlichen aus. © imago / Steffen Schellhorn
Von Georg Gruber  · 09.09.2021
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Aufsehenerregende Fälle von Körperverletzung und Totschlag, gewaltverherrlichende Videos - wird die Jugend immer krimineller? Und was passiert mit jungen Tätern? Experten und Statistiken verraten, wie es um die Jugendkriminalität steht.
"Eine Gewalttat erschüttert die Menschen in Augsburg. Dort waren vorgestern in der Innenstadt zwei Ehepaare und eine Gruppe Jugendlicher in Streit geraten. Dabei wurde laut Polizei ein 49-Jähriger so zu Boden geschlagen, dass er später seinen Verletzungen erlag."
Berichtet die Tagesschau am 8. Dezember 2019. Der 49-jährige Roland S. war mit seiner Frau und einem befreundeten Paar auf einem Weihnachtsmarkt. Auf dem Weg nach Hause treffen sie auf eine Gruppe Jugendlicher. Es kommt zum Streit, als einer der Jugendlichen nach einer Zigarette fragt. Videokameras zeichnen den Vorfall auf: auch den heftigen Schlag in Gesicht, der den 49-Jährigen tötet. Er stirbt an einer Hirnblutung.
"Heute Nachmittag wurden sechs Verdächtige festgenommen. Mindestens zwei von ihnen sind polizeibekannt. Das Opfer war Mitglied der Augsburger Berufsfeuerwehr, die heute am Tatort ihres toten Kameraden gedachte."
Die sieben Tatverdächtigen im Alter von 17 bis 20 Jahren sind alle im Raum Augsburg geboren. Sie waren zur Tatzeit angetrunken. Halid S., der Haupttäter, besitzt neben der deutschen auch die türkische und libanesische Staatsangehörigkeit. Er ist der Polizei bereits bekannt, auch wegen Körperverletzung.

"Das Gefängnis, die Jugendstrafe und der Jugendstrafvollzug können immer nur das letzte Mittel sein", betont der Rechtswissenschaftler und Kriminologe Frank Neubacher bei uns im Interview. Denn die Strafe allein würde nichts besser machen. Die Rückfallquote sei beträchtlich.


Auf seinem Handy finden sich zahlreiche gewaltverherrlichende Videos. Ihm wird Totschlag und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen, den übrigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen Beihilfe zum Totschlag und gemeinschaftlich begangene gefährliche Körperverletzung. Die Gruppe hatte auch den Begleiter von Roland S. verprügelt und schwere Verletzungen im Gesicht zugefügt.

Wird die Jugend immer krimineller?

Eine Zufallsbegegnung, die mit dem Tod endet. Immer wieder kommt es zu solchen Gewalttaten. Was aber hier auch erschreckt, ist das Alter des Hauptverdächtigen: 17 Jahre. Wird die Jugend immer krimineller? Wenn ja, warum? Und was passiert mit den jungen Tätern?
Besuch bei einem, der es wissen muss. Ludwig Kretzschmar ist Leiter des Jugendgerichts am Amtsgericht München, es ist eines der größten in Deutschland. Rund 350 Verfahren werden hier jeden Monat verhandelt, mehr als 4000 im Jahr. Es sind die unterschiedlichsten Fälle.

"Betäubungsmittelverfahren, Diebstähle, Körperverletzungen, Raub, Vergewaltigungen, querbeet, durch das gesamte Strafrecht."
2019 wurden laut Polizeilicher Kriminalstatistik insgesamt fast 430.000 Kinder, Jugendliche und Heranwachsende bis zum Alter von 20 Jahren einer Straftat verdächtigt. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um Ladendiebstahl, Sachbeschädigung, Schwarzfahren und einfache Körperverletzung. Schwere Körperverletzung oder Raub machen dagegen statistisch gesehen nur einen kleinen Teil der gesamten Jugenddelinquenz aus.
Leiter des Jugendgerichts am Amtsgericht München, Ludwig Kretzschmar, am Schreibtisch in seinem Büro
Ludwig Kretzschmar ist Leiter des Jugendgerichts am Amtsgericht München, es ist eines der größten in Deutschland. © Deutschlandradio / Georg Gruber
Worin sieht Ludwig Kretzschmar die Gründe für kriminelles Verhalten? Als Jugendrichter urteilt er nicht nur über die Taten von Jugendlichen, sondern auch über Vergehen von jungen Erwachsenen im Alter von bis zu 20 Jahren. Denn auch sie können noch nach Jugendstrafrecht verurteilt werden.
"Schwierig wird es schon mal zum Beispiel, wenn die Leute in einer schwierigen Familie aufwachsen, sogenannten 'broken homes', wenn zu Hause Gewalt erfahren wird, wenn sie in eine Peer Group kommen, wo immer wieder Straftaten begangen werden, wenn sie Drogenmissbrauch haben", sagt Ludwig Kretzschmar.
"Das sind alles sogenannte kriminogene Faktoren, das heißt also landläufig, dass, wenn die verstärkt auftreten, die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass sie auch Straftaten begehen. Was naheliegt. Wobei man auch sagen muss, es können alle Faktoren zusammenkommen und jemand führt ein wunderbares, straffreies Leben. Also man kann es nie runterbrechen wie in der Naturwissenschaft, sondern das kann man halt allgemein feststellen, dass das schwierigere Faktoren sind."

Keine steigende Jugendkriminalität

In den vergangenen Jahren konnte Ludwig Kretzschmar keine steigende Jugendkriminalität beobachten, im Gegenteil.
"Mein Eindruck ist, und der ist meines Erachtens statistisch belegbar, dass die Zahlen eher sinken, was die Kriminalität betrifft, dass sie seit etwa zehn Jahren jedenfalls in der Tendenz rückläufig sind. Also gelegentlich steigen sie für ein Jahr in einem Deliktsbereich wieder. Aber im großen Ganzen gehen Sie doch zurück und auch spürbar zurück, meine ich."
Eine Ausnahme bildet der Rauschgiftbereich, also der Besitz und Erwerb von Drogen sowie das Dealen. Hier sind die Zahlen gestiegen.
Allerdings wird die Mehrzahl der Jugendlichen und Heranwachsenden nur ein oder zweimal polizeilich auffällig. Der Großteil wiederholter und schwerwiegender Straftaten wird durch eine kleine Gruppe verübt: Intensivtäter, die irgendwann dann auch im Gefängnis landen. Die Taten dieser Intensivtäter sorgen oft für große mediale Aufmerksamkeit und bestimmen dann meist auch die anschließende politische Debatte.
"Um die fünf Prozent unserer Angeklagten werden sogenannte Intensivtäter sein, die einfach innerhalb eines kurzen Zeitraums viele Straftaten begehen, darunter auch Gewaltstraftaten begehen. Und das ist die schwierige Klientel, um die wir uns kümmern müssen. Und wo wir unser Herzblut reinstecken, dass die auf einen richtigen Weg kommen. Bei den anderen, ganz salopp gesagt, die werden mit und ohne Jugendrecht vernünftig."

Jugendstrafgefangene erzählen im "Podknast"

"Wenn Du bald in den Knast kommst, erwartet Dich eine unangenehme Zeit. Es gibt einige ungeschriebene Gesetze und Regeln. Deshalb unsere Botschaft an euch."
"Podknast" - so heißt ein Projekt verschiedener Jugendstrafanstalten, in dem Jugendliche und junge Heranwachsende aus ihrem Gefängnisalltag erzählen.
"Kennste Durak? Knastkasino? Das beliebteste Knastkartenspiel, bei dem Du auch einige Schulden machen kannst. Schulden sind hier nicht gut, denn wenn Du Schulden hast, wirst Du von den Jungs benutzt, das heißt, Du musst einige Sachen machen, die Du gar nicht tun willst", erzählt ein Jugendstrafgefangener im Video.
"Bevor Du reinkommst, deck Dich mit Briefmarken ein, um den Kontakt nach draußen zu halten. Du denkst jetzt, Briefmarken wären uncool, aber Du irrst Dich, hier gibt es kein whatsapp, Briefe schreiben und bekommen, sind hier der Renner", so ein anderer.
"Podknast" entsteht in Teamarbeit der jungen Häftlinge, die sich dabei auch mit ihren eigenen Taten auseinandersetzen. Und sie sorgen für seltene und wichtige Einblicke: Denn wer weiß schon, wie der Alltag in einem Gefängnis aussieht.
"Auch im Knast sind gute Gesprächspartner sehr wichtig. Such sie Dir sorgfältig aus. Lass Dir nicht alles von Jungs gefallen, sag nicht immer zu allem ja, tret immer selbstbewusst auf und zeig nicht Deine Unsicherheit. Bleib stark. Sei ehrlich, aber zu viele Informationen über Dich können von Nachteil sein."

Statistiken sind mit Vorsicht zu behandeln

Wenn die Kriminalität der Jugendlichen zurückgegangen ist, wie der Jugendrichter erzählt, woher kommt dann der zumindest "gefühlte" Eindruck, die Jugend werde immer krimineller? Und die Täter immer brutaler?
Ein erster Blick auf die Statistiken und Kurven scheint diesen Eindruck zu bestätigen: In den Statistiken zeigt sich tatsächlich ein starker Anstieg in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch die Kurven aus dieser Zeit sind mit Vorsicht zu behandeln, warnen Experten, wie der Kriminologe Dirk Baier.
"Kriminalitätsdaten aus den 60er- und 70er-Jahren muss man sich gar nicht angucken, weil da wurde Jugendgewalt noch nicht in dem Maße angezeigt. Das Umfeld war noch nicht in dem Maße sensibilisiert."
Professor Dirk Baier leitet das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der ZHAW, der "Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften".
"Wenn in Schulhöfen was passiert ist, wenn sich da zwei Jugendliche geschlagen haben, da ist nie ein Lehrer auf die Idee gekommen, die Polizei zu holen und das anzuzeigen, da ist nie ein Jugendlicher auf die Idee gekommen, das anzuzeigen", sagt Dirk Baier.
"Diese Statistiken, die sind historisch interessant anzugucken, aber die drücken eigentlich etwas anderes aus: Nämlich, dass sich unsere Gesellschaft in ihrer Einstellung zu Gewalt und Kriminalität ändert und nicht, dass sich Gewalt und Kriminalität ändert."
Die Toleranz gegenüber Gewalt hat sich also verändert, Gewalt wird nicht mehr einfach hingenommen, nicht mehr akzeptiert. Es werden mehr Taten angezeigt und deshalb tauchen auch mehr Fälle in der Polizeistatistik auf. So lassen sich auch die steigenden Kurven in den 90er-Jahren zumindest teilweise erklären, sagt Dirk Baier.
"Da gibt es mittlerweile tatsächlich empirische Hinweise, dass das in erster Linie ein Anzeigephänomen ist, also dass in dieser Zeit die Anzeigebereitschaft deutlich zugenommen hat, weil gerade die Institutionen um junge Menschen herum viel sensibler geworden sind", so Baier weiter.
"Es gab beispielsweise 2000 in Niedersachsen einen Erlass, der die Schulen verpflichtet, Gewaltvorfälle der Polizei zu melden. Das hat natürlich enorm das Dunkelfeld aufgehellt, weil plötzlich viel mehr angewiesenermaßen der Polizei angezeigt wird."

Mehr Jugendgewalt in den 90er-Jahren

Die Zahlen steigen in den 90er-Jahren allerdings nicht nur, weil die Gesellschaft sensibler wird gegenüber allen Arten von Gewalt. Sondern es gibt auch wirklich mehr Jugendgewalt und Kriminalität, wie Dirk Baier erklärt.
"Die Nachwendezeit war teilweise von Arbeitslosigkeit geprägt, von hoher Jugendarbeitslosigkeit geprägt, also da gab es tatsächlich auch Schwierigkeiten der jungen Menschen in die Gesellschaft zu finden. Und das ist auch immer ein Auslöser dafür, warum es zu Aggressionen, zu Kriminalität, zu Gewalt kommt", sagt Dirk Baier.
"Das ist so im Zeitraum '93 bis '98, das waren auch wirtschaftlich schwierige Zeiten. Und ich glaube, man sieht das beispielsweise an der Jugendarbeitslosigkeit, dass das schwierige Zeiten für junge Menschen waren, die dann ihren Niederschlag in ihrem Verhalten gefunden haben."
Doch nach der Jahrtausendwende verändert sich das Bild deutlich. Dirk Baier konnte das zusammen mit dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen in einer breit angelegten Studie zeigen.
"Wir führen im Bundesland Niedersachsen kontinuierlich Befragungen unter Jugendlichen durch, also bitten immer jeweils 10.000 Jugendliche, uns mitzuteilen, was sie selbst schon mal an kriminellen Taten begangen haben, und machen damit auch das Dunkelfeld sichtbar. Also das, was die Polizei gar nicht registriert", berichtet Dirk Baier.
"Und auch aus dieser Quelle kommt im Vergleich der Jahre 2015 zu 2017 ein Anstieg der Jugendlichen, die Gewalttaten ausgeführt haben. Sozusagen aus verschiedenen Quellen erhalte wir dieselbe Nachricht, es nimmt insbesondere die Bereitschaft zu, wieder Gewalt auszuüben."
Schuld daran könnten auch mediale Vorbilder sein, vermutet Dirk Baier. Gangster-Rapper, in deren Songs und Videos Gewalt etwas ganz Alltägliches ist, um eigene Ziele durchzusetzen oder um auf Beleidigungen zu reagieren.
Der Kriminologe geht sogar noch weiter. "Wir sehen das aber auch auf politischer Ebene. Einige Autokraten, die sich seit 2015 positioniert haben, starkmachen, angefangen von Trump über Putin und so weiter, und das ist für junge Menschen vorbildhaft, sich so rüpelhaft, auch ein Stück weit brutal anderen gegenüber durchzusetzen", meint Dirk Baier.
"Und das hat seinen Niederschlag dann im eigenen Verhalten. Das könnte ein Erklärungsansatz sein, aber ganz sicher und empirisch begründet können wir das zur Zeit noch nicht sagen."

"Wir sind noch deutlich unter dem früheren Gewaltniveau"

Was letztlich für die Zunahme von Gewalt verantwortlich ist, mediale Vorbilder oder vielleicht auch ein verändertes gesellschaftliches Klima - das lässt sich wahrscheinlich nur schwer abschließend klären.
Festhalten kann man allerdings, meint Dirk Baier: "Wir sind noch deutlich unter dem früheren Gewaltniveau. Das heißt auch die Jugend, die jetzt heranwächst, ist noch viel friedlicher als die Jugend von vor 15 Jahren. Aber sie ist eben nicht mehr so friedlich wie die Jugend von vor fünf Jahren."
Und noch etwas zeigt der Blick in die Statistik: Jugendliche mit Migrationshintergrund tauchen dort insgesamt häufiger auf. Ein Grund dafür könnte dem Kriminologen Christian Pfeiffer zufolge sein, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund zu Hause teilweise immer noch öfter geschlagen würden.
Nach dem tödlichen Vorfall 2019 in Augsburg sagte er in einem Zeitungsinterview am 10.12.2019 in "Die Welt": "Gewalt entsteht durch Gewalt."
Kriminelles Verhalten gehört zum Erwachsenwerden dazu und verschwindet auch wieder - das konnten der Soziologe Jost Reinecke und der Kriminologe Klaus Boers nun auch in einer groß angelegten Langzeitstudie belegen, die 2019 veröffentlicht wurde.
Die Studie erstreckt sich über einen Zeitraum von fast 20 Jahren. In dieser Zeit wurden 3000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zwischen dem 13. und dem 30. Lebensjahr regelmäßig immer wieder befragt - nach begangenen Straftaten, Einstellungen, Lebensstilen und dem familiären und dem schulischen Hintergrund.
Das Ergebnis: Mehr als 80 Prozent der Jungen und fast 70 Prozent der Mädchen gaben an, mindestens eine strafbare Handlung zwischen dem dreizehnten und achtzehnten Lebensjahr begangen zu haben. Zahlen, die deutlich höher sind, als die der Polizeilichen Kriminalstatistik, sagt Jost Reinecke im Zoom-Gespräch.
"Es können Gewaltdelikte sein, das ist aber ein vergleichbar kleiner Prozentsatz. Es sind Sachbeschädigungsdelikte und es können Diebstahlsdelikte sein. Und das ist in der Jugendphase das, was am meisten vorkommt, also insbesondere der Ladendiebstahl."
Im Alter zwischen 14 und 15 Jahren zeigt sich beim kriminellen Verhalten ein Höhepunkt, erklärt Jost Reinecke im Zoom-Interview. Danach nehmen die Taten deutlich ab. Diese sogenannte "Spontanbewährung" erfolgt ohne Eingreifen von Polizei und Justiz, allein durch den Einfluss von Eltern, Lehrern, Freunden oder Gesprächen in Vereinen. Rufe nach härteren Strafen für Jugendliche oder nach Null-Toleranz führen deshalb in eine falsche Richtung, betont der Soziologieprofessor.
"Wenn wir jetzt davon ausgehen würden, dass alle möglichen Delikte durch den Sanktionierungsapparat laufen würden, würde das im Prinzip zu einer völligen Überlastung des ganzen polizeilichen und Gerichtsapparats führen. Und das würde eben auch dazu führen, dass wir hier eigentlich etwas aufbauen mit hohen Effekten, womit so eine Art von Kriminalisierung eintritt. Und wir können ja nachweisen, das geht zurück und regelt sich manchmal auch vielleicht durch innerfamiliäre oder innerschulische Möglichkeiten eigentlich von selber. Das ist ein wichtiger Punkt."
Interessant ist, dass in der Langzeitstudie auch bei den Intensivtätern die kriminelle Energie mit dem Erwachsenwerden zurückgeht, durch biografische Wendepunkte, wie Partnerschaft, Ehe oder Beruf und damit stabiles Einkommen.

Erziehungsgedanke als oberstes Leitprinzip bei Bestrafung

"Ja, ich bin wegen mehreren Körperverletzungsdelikten und Einbrüchen hier hingekommen, was ich auch sehr bereue. Man überlegt, ob das das Richtige war, einem aufs Maul zu hauen oder irgendwo einzubrechen, um den Kick zu kriegen. Das ist es nicht wert, dafür hier zu landen."
Timo B. ist im Jugendarrest, der maximal vier Wochen dauert und einen ersten Eindruck vom Gefängnis vermitteln soll. Im Podcast "Podknast" erzählt der 18-Jährige von seinen Erfahrungen.
"Ich überlege mir jeden Tag hier, was meine Freundin macht und was meine Kollegen machen. Am Wochenende ist das besonders hart, wenn Du weißt, die haben ihren Spaß, trinken sich ein paar und Du sitzt dann hier in der Zelle – das ist schon hart. Bist jeden Tag hier eingesperrt, 23 Stunden, wenn Du Pech hast, eine Stunde raus. Das Einzige, was Du machen kannst, ist lesen, bisschen nachdenken und schlafen, mehr nicht."
Der Leiter der Düsseldorfer Jugendarrestanstalt, Edwin Pütz (l.), und Mirko sitzen in Düsseldorf im Jugendarrest hinter doppelt vergitterten Fenstern an einem Computer, aufgenommen am 10.09.2009
Von seinen Erfahrungen berichten: Ein "Podknast"-Teilnehmer im Jugendarrest in Düsseldorf.© picture-alliance/ dpa / Achim Scheidemann
Wenn Jugendliche vor Gericht landen, dann geht es dort in erster Linie nicht darum, sie zu bestrafen. Oberstes Leitprinzip für die meisten Richter und Richterinnen ist der Erziehungsgedanke, der auch Eingang in das Jugendgerichtsgesetz gefunden hat. Der Begriff ist eng gefasst.
"Es geht jetzt nicht um einen umfassenden Erziehungsauftrag in allen Lebensbereichen, sondern es geht um, wenn man so will, Erziehung zur Straffreiheit", sagt Theresia Höynck. Sie ist Professorin für Recht der Kindheit und Jugend an der Universität Kassel. Und sie ist Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen.
"Es gibt nicht besonders viele Menschen, die in ihrer ganzen Jugend nicht eine einzige Straftat begangen haben. Nie schwarzgefahren sind, nie was geklaut haben, nie jemanden beleidigt haben, nie was kaputtgemacht haben. Die meisten sind nicht erwischt worden, und wenn sie erwischt worden sind, dann ist das Verfahren zügig eingestellt worden, weil man zu der Erkenntnis kam, dass es da keinen besonderen Interventionsbedarf gibt."
Gefängnisstrafen sind deshalb äußerst selten, betont Theresia Höynck.
"Unter allen Straftaten, die der Polizei bekannt werden im Jugendbereich, ist es ja ein klitzekleiner einstelliger Prozentbereich, der hinterher in einer zu vollstreckenden Jugendstrafe endet. Und das ist nicht Fehler, sondern Programm."
Denn es gibt ein breites Spektrum an Reaktionsmöglichkeiten unterhalb der Jugendstrafe, um gezielt auf die Jugendlichen einwirken zu können, damit sie keine weiteren Straftaten mehr begehen. Gemeinnützige Arbeit, auch Sozialstunden genannt, ist vielleicht eine der bekanntesten Maßnahmen.
"Es gibt soziale Trainingskurse, wo in Kursform bestimmte Problemlagen von jungen Menschen bearbeitet werden, Sucht, Gewalt, Konfliktlösungsfähigkeit und derlei Dinge. Es gibt Einzelbetreuungen durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die angeordnet werden können", sagt Theresia Höynck.
"Es gibt manchmal auch sehr kreative Ideen im Bereich der Wiedergutmachung, dass also bestimmte Dinge gemacht werden, um die Tat wiedergutzumachen, dass Aufsätze geschrieben werden müssen, was auch immer. Der Fantasie, die die Staatsanwaltschaft und Gerichte da aufwenden können, der sind nicht besonders viele Grenzen gesetzt, weil in diesem Bereich der Weisungen insbesondere es keinen abschließenden Katalog gibt, dessen, was da gemacht werden kann."

Gefängnisstrafe beeinträchtigt Zukunftschancen beträchtlich

Eine Gefängnisstrafe ist nur die Ultima Ratio, denn die Zeit hinter Gittern kann beträchtliche Nebenwirkungen mit sich bringen. Denn die Zukunftschancen von jungen Menschen werden stark beeinträchtigt, wenn im Lebenslauf ein Gefängnisaufenthalt auftaucht, betonen Theresia Höynck und auch Ludwig Kretzschmar.
"Es ist in hohem Maße stigmatisierend, es ist desintegrierend. Es ist schwer, Leben in der Gesellschaft zu lernen, während man außerhalb der Gesellschaft ist", sagt Theresia Höynck.
"Die negativen Einflüsse im Gefängnis kann man nicht wegdiskutieren, das ist klar", sagt auch Ludwig Kretzschmar, "da sind auch wieder Peergroups. Und da muss viel Personal ran, um denen wirklich gute Perspektiven zu geben, um ihnen wirklich zum Leben ohne Straftaten dann zu verhelfen."
Der Leiter des Jugendgerichts in München, verweist auch auf die hohe Rückfallquote nach einem Gefängnisaufenthalt.
"Leute, die ein Jugendgefängnis kommen, werden zu 60 Prozent wieder rückfällig und ungefähr davon die Hälfte, vielleicht 30, 40 Prozent kommt wieder ins Gefängnis. Also man muss da schon sehr vorsichtig sein, wenn man junge Leute wirklich einsperrt, auch wenn man dazu sagen muss, dass es jetzt in der Jugendhaft durchaus auch gute Maßnahmen gibt und die Leute schon auch in der Regel beschützt werden. Aber zu einer vernünftigen Entwicklung ist es in der Regel besser, wenn sie in Freiheit sich entwickeln können."
"Wenn es Dir abends scheiße geht und Du an Deine Familie oder draußen denkst und Angst vor Deiner Zukunft hast, darfst Du den Glauben an Dich und bessere Tage nicht verlieren", heißt es im "Podknast".
"Das waren unsere Tipps an euch. Für die, die tatsächlich in den Knast kommen, hoffen wir, dass ihr euch die Tipps zu Herzen nehmt. Lasst euch nicht entmutigen, mit unseren Tipps schafft ihr das schon. Und für die, die am Knast noch mal vorbei schreddern – Knast ist nicht cool, Knast ist ein Zeichen von Schwäche, Knast heißt: Nächste Woche Party! Nicht mit Dir!"
"Wenn junge Menschen töten" - so heißt ein Buch des Kinder- und Jugendpsychiaters Helmut Remschmidt. Er hat sich als Gutachter für Jugendgerichte über Jahrzehnte mit besonders grausamen Taten beschäftigt.
Da ist der Fall eines 15-jährigen Mädchens, das plant, seine ältere Schwester zu ermorden. Der eines 14-jährigen Jungen, der zum Doppelmörder wird. Oder der Fall eines 18-Jährigen, der zusammen mit zwei Freunden von einer Fußgängerbrücke Steine auf die Autobahn wirft: Zwei Menschen sterben. Wie kann es zu solchen Taten kommen?

Bestimmte Faktoren erhöhen Gewaltbereitschaft

Ein Anruf bei Helmut Remschmidt.
"Es gibt Bedingungen, unter denen die Wahrscheinlichkeit höher wird, dass bestimmte Jugendliche gewalttätig werden können. Dazu gehört ein gewalttätiges Milieu der Familie, zum Beispiel ein gewalttätiger Vater, dazu gehören auch häufig sozial prekäre Umstände", sagt Helmut Remschmidt.
"Dazu gehört ein Gruppenphänomen. Zum Beispiel: Es gibt ja auch delinquente Banden. Und viele Tötungsdelikte, die gar nicht so als Tötungsdelikte geplant sind, kommen durch Gruppendruck zustande, dass zum Beispiel eine Gruppe von fünf oder sechs Leuten, sich zusammentut und dass die dann irgendwelche Gewalthandlungen begehen, und jeder ist verpflichtet, daran teilzunehmen."
Der Gruppenkontext, die Peergroup, ist also ein wichtiger Faktor, wenn es um Jugendkriminalität geht. Und auch wenn es bei diesen jungen Menschen keine generellen Gemeinsamkeiten gebe, könnten individuelle Eigenschaften Gewalt begünstigen.
"Man weiß aus großen Studien, dass gewalttätige Menschen auch körperliche Eigenarten haben, statistisch gesehen, trifft nicht auf jeden zu, zum Beispiel eine niedrigere Pulsfrequenz als die der Allgemeinbevölkerung, Veränderungen im Hautwiderstand. Und das führt dazu, dass sie weniger Angst haben."
Tötungsdelikten liegen außerdem oft ganz unterschiedliche Motivationen zugrunde: Sie können am Ende einer kriminellen Karriere stehen oder aus dem Affekt geschehen. Was auch in das Strafmaß einfließen kann: So erhielt ein 17-jähriger Gymnasiast, der seinen Vater mit einer Sektflasche tötete, eine Bewährungsstrafe, weil die Tat im Affekt geschah, als der Vater zum wiederholten Male die Mutter schlug.
Der Täter fiel danach nicht mehr durch Gewalttaten auf, erzählt Helmut Remschmidt.
"Er hat dann Abitur gemacht, hat aus Schuldgefühlen heraus Theologie studiert, und als er fertig war, hat er mir einen Brief geschrieben, dass er jetzt noch Medizin studieren möchte, um seine Schuld mit Händen abzutragen. So wörtlich, aber er ist nicht Chirurg geworden, sondern ein Psychotherapeut. Hier sehen Sie ein Schicksal einer schweren Gewalttat, die aus dem heiteren Himmel, na ja aus heiterem Himmel nicht, aber aus seiner affektiv aufgeladenen Situation - Stichwort im Gesetz "tief greifende Bewusstseinsstörung" - entsteht und die später zu keinerlei Auffälligkeiten führt."

Gewalt lässt sich nicht ganz verhindern

Ganz verhindern lasse sich Gewalt unter Menschen nie, erklärt der Psychiater, sie gehöre einfach zum Menschen dazu.
"Aber man kann viel tun, um sie zu begrenzen, in ihrer Anzahl zu begrenzen. Und da spielt, wenn wir die Tatwaffe einmal bemühen sollten, das Messer eine große Rolle, der Alkoholkonsum, Gruppendelikte, Drogenabhängigkeit. Und wenn es gelänge, diese Dinge deutlich zu reduzieren, hätten wir auch weniger Gewalt."
Freitag, 6. November 2020. Fast ein Jahr nach der Attacke auf Roland S. endet der Prozess vor dem Augsburger Jugendgericht: Der Hauptangeklagte Halid S. wird zu einer Jugendstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, wegen Körperverletzung mit Todesfolge und gefährlicher Körperverletzung. Er hätte wissen müssen, erklärt der Richter, dass ein Faustschlag ins Gesicht massive Verletzungen bis zum Tod verursachen könne.
Der Richter kritisiert in seiner Urteilsbegründung auch seine Berufskollegen, weil sie Halid S. bei einer früheren Körperverletzung zu milde behandelt hätten. Damals war er lediglich verwarnt worden.
Zwei weitere Mitangeklagte bekommen Bewährungsstrafen wegen gefährlicher Körperverletzung. Sie hatten den Begleiter von Roland S. gemeinsam mit dem Hauptangeklagten schwer im Gesicht verletzt. Der Richter geht bei ihnen allerdings von einer günstigen Sozialprognose aus – auch wenn, wie er sagt, auch ihre Schläge potenziell lebensgefährlich gewesen seien.
Das Opfer dieser Schläge, der bis heute deswegen körperliche Probleme hat, kritisiert das Urteil und die Anwendung des Jugendstrafrechts in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk in der Sendung "RadioWelt" am 6.11.2020: "Da ist einfach irgendwo eine Lücke vom Jugendstrafrecht zum Erwachsenenstrafrecht. Das sind erwachsene Kerle, die fühlen sich erwachsen, sie tun, wie wenn sie erwachsen wären. Und dann werden sie behandelt wie Kinder."

Mord und Totschlag durch Jugendliche sind selten

Aber auch wenn Fälle wie der in Augsburg deutschlandweit für Aufsehen sorgen: Mord und Totschlag durch Jugendliche sind äußerst selten.
"Im Jahr 2019 hatten wir bundesweit insgesamt 156 junge Menschen, die wegen Mordes oder Totschlags polizeilich registriert worden sind, also bei über 3 Millionen jungen Menschen. Ich rede jetzt über die Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen, so diese Kernjugend-Gruppe, also eine enorm kleine Anzahl, die deswegen verdächtig worden ist für einen Mord beziehungsweise Totschlag", erklärt der Kriminologe Dirk Baier.
"Wir reden hier über sehr wenige Personen. Und wenn man mal in die Vergangenheit zurückschaut, so in der Mitte der 90er-Jahre, hatten wir noch doppelt so viele junge Menschen, die wegen Mordes oder Totschlags polizeilich registriert worden sind. Also auch da zeigt sich wieder, da hat sich etwas zum Positiven sogar verändert."
Und auch die Vorstellung, dass dafür die Brutalität bei Gewalttaten zugenommen hat, stimmt nicht, wie eine Untersuchung des Landeskriminalamtes Bayern zeigt. Trotzdem hält sich in der Öffentlichkeit ein anderes Bild.
"Es ist ja hinreichend untersucht, dass die mediale Überrepräsentanz schwerster Delikte zu ganz gravierenden Verzerrungen über die Wahrnehmungen von Kriminalität in der Bevölkerung führen", sagt die Juristin Theresia Höynck.
"Jede Gesellschaft muss mit Kriminalität leben. Die Frage ist nur, wie. Die Vorstellung es könnte eine Form der Intervention geben, die Kriminalität ein für alle Mal ausrottet, ist eine wirklich gefährliche Illusion, die in totalitäres Denken mündet."
Für eine Verschärfung des Jugendstrafrechts oder eine Absenkung der Strafmündigkeit auf 12 Jahre sieht sie keinerlei Anlass, genauso wie der Leiter des Münchner Jugendgerichts Ludwig Kretzschmar - auch wenn das nach schweren Taten immer wieder öffentlichkeitswirksam diskutiert wird.
"Ich sehe keinen Sinn darin, weil man kann ja feststellen, die 'Kinderkriminalität' - um ein ganz komisches Wort zu gebrauchen -, die ist ja nicht gestiegen oder sonst irgendwas. Ich seh keinen Grund", sagt er. "Außerdem ist es meines Erachtens ethisch nicht vertretbar, 12-Jährige einzusperren. Also das geht einfach nicht, meine ich, und das würde auch nichts bringen, meines Erachtens."
Und Theresia Höynck fügt hinzu: "Härte um der Härte Willen vertritt keiner, der was davon versteht."
Die Erstausstrahlung des Features war am 14. Januar 2021.

Es sprach Timo Weisschnur
Ton: Alexander Brennecke
Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Kim Kindermann

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