Jugend in der Pandemie

Versinkt eine Generation in Depression?

53:43 Minuten
Ein Kind kniet auf einer Fensterbank und schaut aus dem Fenster. (Symbolbild)
Auch nach der Pandemie ist kein Ende in Sicht: Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen haben infolge des Lockdowns nach Expertenmeinung erheblich zugenommen.(Symbolbild) © imago / fStop Images / Isabella Stahl
Moderation: Annette Riedel · 12.02.2021
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Experten sind alarmiert: Ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie hat jedes dritte Kind psychische Auffälligkeiten. Doch noch sind nicht alle Folgen der Kontaktbeschränkungen für die Entwicklung der Persönlichkeit junger Menschen zu sehen.
In einem offenen Brief wandten sich in dieser Woche 180 Psychologinnen, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und Kinder- und Jugendpsychiaterinnen an die Bundesregierung und forderten die Einrichtung eines Gremiums, das sich mit der Situation von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie befasst. Die Unterzeichner fordern, die psychischen und sozialen Auswirkungen des Lockdowns sowie der Hygiene- und Abstandsregeln auf die Entwicklung junger Menschen in die politischen Überlegungen zum Umgang mit Covid-19 einzubeziehen.
Über alle Altersgruppen hinweg werde ein deutlicher Anstieg von Angststörungen, Depressionen und Schlafstörungen beobachtet. Auch Essstörungen, Substanzmissbrauch und missbräuchliche Medien- und Internetnutzung nehmen zu.

Pandemiegerechte Freizeitangebote

In der Sendung Wortwechsel beklagt Julia Asbrand, eine der Mitinitiatorinnen des offenen Briefes und Professorin für Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie und -psychotherapie an der Humboldt-Universität zu Berlin, die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen werde nicht ausreichend berücksichtigt. Sie wirbt dafür, zu prüfen, welche "pandemiegerechten Freizeitangebote" Kindern und Jugendlichen zugänglich gemacht werden könnten und fordert mehr "niedrigschwellige psychosoziale Angebote".
Auf den offenen Brief habe es bisher zwar viel mediale Resonanz gegeben. Von politischen Verantwortlichen hätten die Unterzeichner aber bisher "noch keine Stellungnahme" erhalten.

Mehr niedrigschwellige Hilfen

Melanie Eckert leitet das im ersten Lockdown gegründete Start-up Krisenchat.de. Seit die Internetseite im Mai 2020 freigeschaltet wurde, begleitete das Team von 250 ehrenamtlich arbeitenden Psychologen und Pädagoginnen rund um die Uhr und an sieben Tagen in der Woche 15.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen elf und 25 Jahren durch Krisensituationen.
Die Mehrzahl der jungen Menschen, die bei Krisenchat.de Hilfe suchen, seien schon vor der Covid-19-Pandemie belastet gewesen. Unter dem Einfluss der Kontaktbeschränkungen kumuliere aber nun eine Vielzahl von Belastungen in ihren Familien.
Eckert betont, Erwachsene hätten Kindern und Jugendlichen gegenüber einen Schutzauftrag. Da sich Kinder und Jugendliche oft nicht selbst schützen könnten, müsse dieser Schutzauftrag höher gewertet werden als andere Aspekte. Hilfe müsse niedrigschwellig angebahnt werden. "Hier ist noch ganz viel Potenzial, um Angebote zu entwickeln."

Schüler fühlen sich nicht gehört

Die Abiturientin und Sprecherin des Landesschüler*innenausschusses Berlin, Luisa Regel, betont, dass Schule in den politischen und medialen Diskussionen zu häufig nur als Lernort wahrgenommen werde. "Schule ist ein Raum für soziale Begegnung, Schule ist ein Raum, der Ausgleich schaffen sollte, der Hilfen anbieten sollte. Genau das fällt für viele Schülern gerade weg."
Regel wünscht sich, dass Schülerinnen und Schülern "niedrigschwellige Erstkontakte zu Psychologen und Betreuern" ermöglicht werden. "Viele Schüler wissen nicht, wie sie sich Hilfe holen können." Außerdem würden "alternative Lernräume" gebraucht. Bibliotheken und Computerräume in den Schulen müssten zugänglich gemacht werden für Schülerinnen und Schüler, die dort lernen und arbeiten wollen.
Die Sprecherin des Landesschüler*innenausschusses Berlin beklagte, dass politische Entscheidungsträger nicht auch Schülerinnen und Schüler in die Diskussion über eine Gestaltung des Lernens unter Pandemiebedingungen mit einbezögen. "Dadurch fühlen wir uns nicht gehört", sagt Regel.

Kontinuierliche Traumatisierung

Gottfried Maria Barth weist darauf hin, dass Jugendliche und junge Erwachsene zurzeit "ganz extrem" unter dem Fehlen von "notwendigen sozialen Kontakten" leiden, vor allem in ihren Peer-Groups. Barth leitet die Akut- und Notfallstation der Abteilung Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter am Universitätsklinikum Tübingen.
Seit Anfang Oktober seien deutlich mehr Patienten in seiner Station suizidgefährdet. Die Suizidalität sei aber nur die Spitze des Eisbergs: "Ich glaube, man muss dieses letzte Jahr eigentlich als ein Jahr kontinuierlicher Traumatisierung ansehen. Diese ständige Belastung, diese ständige Unsicherheit, wie es weitergeht, das wirkt in Tiefenschichten, die nicht gleich erzählt werden. Das, was so tief gespeichert ist, das wirkt noch Jahre. Das wird noch viele Jahre weiterwirken und wir werden noch viel damit zu tun haben."
(ruk)

Es diskutieren:
Julia Asbrand, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie und -psychotherapie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Mitinitiatorin des "Offenen Briefes" an die Bundesregierung
Gottfried Maria Barth, stellvertretender klinischer Direktor der Abteilung Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter des Universitätsklinikums Tübingen, Leiter der Akut- und Notfallstation
Melanie Eckert, Psychologin, Mitbegründerin und psychologische Leiterin des Start-ups "krisenchat"
Luisa Regel, Sprecherin des Landesschüler*innenausschusses Berlin und Abiturientin

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