Jürgen Wiebicke: "Zehn Regeln für Demokratie-Retter" 

Was wir für die Demokratie tun können

Jürgen Wiebicke: „Zehn Regeln für Demokratie-Retter“
Jürgen Wiebicke: "Zehn Regeln für Demokratie-Retter" © dpa / Matthias Balk / Kiepenheuer & Witsch
Von Arno Orzessek · 29.07.2017
In "Zehn Regeln für Demokratie-Retter" erzählt Jürgen Wiebicke alltagsnah und argumentiert konkret, wie uns allen eine bessere demokratische Gesellschaft gelingen kann. Ein offenherziges Büchlein, in dem es gegen rechts geht, aber auch selbstgefällige Linke gepiesackt werden.
Im großen Ganzen ist es ja so mit unserem Verhältnis zur Demokratie: Es gibt die Realisten, zum Beispiel Angela Merkel.
"Wir haben wahrlich kein Rechtsanspruch auf Demokratie und soziale Marktwirtschaft auf alle Ewigkeit."
Dann gibt es die Pessimisten. Zu ihnen gehörte bisweilen Merkels früherer Amtsvorgänger Helmut Schmidt.

"Man darf von der Demokratie nicht zu viel verlangen. Die Demokratie ist mit unsäglichen Geburtsfehlern behaftet, die unbehebbar sind."
Genauso gibt es natürlich auch Demokratie-Optimisten, dazu zählte Schmidts Amtsvorgänger Willy Brandt.
"Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an!"

"Es gibt da Leute, die wollen den Bürgerkrieg!"

Jürgen Wiebicke, der ein Kind war, als Brandt 1969 Bundeskanzler wurde, ist besorgter Optimist. Er schätzt unsere Demokratie, sieht sie akut in Gefahr, hält aber Rettung für möglich.
Die Gefahr komme von rechts, von Teilen der AfD, von den Identitären, von waschechten Rechtsextremisten, schreibt Wiebicke:
"Machen wir uns keine Illusionen. Es gibt da Leute, die wollen den Bürgerkrieg! Diese Einladung sollten wir ausschlagen."
Das einzig Ironische an Wiebickes Buch "Zehn Regeln für Demokratie-Retter" ist der flapsig-patente Titel selbst... und nicht zu vergessen: die hoffnungsgrüne Postkarte, die jedem Buch beiliegt. Darauf stehen die nummerierten Regeln, als wären es die zehn Gebote. Ein paar Beispiele:
"Regel eins: Liebe deine Stadt."
In Wiebickes Fall ist das Köln, wo der Autor und Journalist nicht zuletzt in Bürger-Foren und -Initiativen aktiv ist.

"Demonstrieren unbedingt, blockieren auf keinen Fall"

"Liebe deine Stadt! Das könnte ein Angebot zur Identifikation sein, das mit den Angeboten der radikalen Vereinfacher auf dem Marktplatz der Identitäten konkurrieren kann."
Wiebicke verknüpft die Erläuterung der Rettungs-Regeln mit Reflexionen auf seine eigene politische Biografie. Von links kommend, rechnet er sich nun dem linksliberalen Spektrum zu und plädiert für ein Verhältnis zu Anders-Gesinnten, das nicht snobistisch ist.
"Regel drei: Bleibe gelassen im Umgang mit Demokratie-Verächtern. Eine niederträchtige Meinung darf und muss man auf zivilisierte Weise verachten. Zum Schweigen bringen darf man sie nicht! Demonstrieren also unbedingt, blockieren auf keinen Fall."
Viele Überlegungen entfalten sich mit Blick auf die Flüchtlingskrise, die Wiebicke gewissen Diskurs-Polizisten zum Trotz auch genauso nennt, "Krise" eben – und dem eigenen Lager ohnehin gern den Spiegel vorhält.
"In den bürgerlichen Quartieren kann man beim Latte macchiato leicht stolze Bekenntnisse zu einem Land mit offenen Grenzen ablegen, weil man mit den sozialen Folgen nichts zu tun hat: dem harten Wettbewerb um bezahlbaren Wohnraum und dirty Jobs."

"Ich bin Teil des Establishments"

Auf ein bisschen Theorie mag Wiebicke in seinem praxisnahen Ratgeber nicht verzichten. Er führt unter Regel fünf…
"Verliere nicht den Kontakt zu Menschen, die nicht deiner Meinung sind."
...den Begriff des "schwachen Denkens" ein, der auf den italienischen Philosophen Gianni Vattimo zurückgeht.
"Wir sollten uns im 'schwachen Denken' üben. Die starken Denker von heute, die Identitären und Islamisten, sind ja gerade das Problem! Wer sein eigenes Denken als schwach begreift, weiß um die Vorläufigkeit der eigenen Position."
Bei Regel sieben…
"Verabschiede dich von der Attitüde, eigentlich gegen diese Gesellschaft zu sein."
…wird überdeutlich, dass Wiebicke auch politische Selbst-Korrektur betreibt.
Er nötigt sich das Bekenntnis ab "Ich bin Teil des Establishments". Und er vermutet gewiss zurecht, die Lethargie seines politischen Lagers habe damit zu tun, dass viele emanzipatorische Kämpfe längst gewonnen wurden.
"Es ist aber leichter, für etwas Neues zu kämpfen, als Errungenschaften zu verteidigen. Ob es uns gefällt oder nicht: Dies ist nicht die Stunde, um auf Angriff zu spielen, jetzt muss erst mal die Abwehr gestärkt werden. Das gelingt aber nur, wenn man sich wirklich als Teil dieser Gesellschaft empfindet."

Hoher Wert, in einem Rechtsstaat zu leben

Konsequenterweise stellt sich Wiebicke in Regel neun…
"Wehre dich, wenn von 'den' Politikern die Rede ist."
…schützend vor die politische Klasse und übernimmt gelegentlich sogar deren Tonfall, als sei ihm kritisches, gar staatskritisches Denken irgendwie suspekt geworden.
"[Es] verbietet sich, vom eigenen Land so zu sprechen, als sei es eine Bananenrepublik, die permanent von Skandalen geschüttelt wird. Offenbar ist vielen das Bewusstsein dafür abhandengekommen, welch hoher Wert darin besteht, in einem intakten Rechtsstaat zu leben."
Das hätte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer kaum stirnrunzelnder formulieren können.
"Zehn Regeln für Demokratie-Retter" ist ein offenherziges Büchlein. Jürgen Wiebicke zeigt sich vor dem Hintergrund seiner Wandlung vom Skeptiker zum großen Bejahenden der hiesigen Demokratie erfrischend motiviert.
Die Front ist die alte: Es geht gegen rechts. Aber selbstgefällige Linksliberale dürfen sich ebenfalls gepiesackt fühlen.
Wiebicke erzählt alltagsnah und argumentiert konkret. Inwieweit er so mithilft, die Demokratie zu retten, sei dahin gestellt. Auf jeden Fall hält sich das Buch auf sympathische Weise an Retter-Regel acht: "Warte nicht auf den großen Wurf".

Jürgen Wiebicke: "Zehn Regeln für Demokratie-Retter"
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 112 Seiten; 5 Euro

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