Jüdische und islamische Feministinnen

Weiblicher Blick auf Tora und Koran

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Eine israelische Frau rezitiert Gebete, während sie die Thora im frühen Abendlicht vor ihr Gesicht hält.
Für den feministischen Blick gibt es nicht die eine richtige Lesart der Quellen wie der Tora. © Getty Images/ Paula Bronstein
Von Kirsten Dietrich · 30.08.2019
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Wenn Jüdinnen Tora lesen, haben sie ähnliche Probleme wie Musliminnen, die Koran lesen – und genauso haben sie ähnliche Möglichkeiten. In Berlin trafen sich Feministinnen beider Religionen bei einer Tagung der Organisation Bet Debora.
Der Augusttag ist heiß – so heiß, dass die extra im Garten aufgestellten Stühle nicht so verlockend sind wie die kühlen Innenräume der Synagoge am Kreuzberger Fraenkelufer. Jüdische und muslimische Frauen, jung und alt, mit und ohne Kopftuch, Theologinnen und Laiinnen diskutieren über Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
Was man denn für ein Bild von muslimischen Frauen habe – und was man im Gegensatz dazu wirklich wisse, fragt die muslimische Lehrerin Fereshta Ludin zu Beginn ihres Vortrags. Und stützt sich vor allem auf den Koran, um zu zeigen, dass es Unterordnung von Frauen vor allem gesellschaftlich und kulturell begründet ist – der Koran selbst versteht Frau und Mann als verschieden, aber vor Gott gleichwertig. Ludin: "Es ist auf jeden Fall wichtig, dass wir die Quellen nicht so verstehen, dass sie unantastbar sind. Sondern dass man durchaus eine Möglichkeit haben müsste, alles infrage zu stellen und zu diskutieren."

Interpretationen der Männer infrage stellen

Einen vergleichbaren Wunsch formuliert Rebecca de Vries fürs Judentum: "Es geht dann nicht darum, nur – in Anführungsstrichen – zu sagen: All das, was Männer dürfen in der Religion, alles, was ihnen zusteht oder alles, was ihnen an Verpflichtungen aufgelegt wird, religiös, möchten wir auch, sondern es geht um die Frage: Wer hatte in den letzten Jahrhunderten die Oberhand bei der Diskussion darum, was für Privilegien und was für Pflichten Männern und Frauen zufallen. Und das infrage zu stellen."
Zurück zu den Quellen, die es gilt, mit eigenem Wissen zu studieren – das ist ein Anliegen, das Frauen aus verschiedenen Religionen verbinden könnte, sagt Ludin. "Ich denke, wir haben alle ähnliche Anliegen, es geht darum, dass wir für eine bessere Lesart unserer Quellen appellieren, vor allem Frauen, weil durch diese Lesart mehr ihr Anliegen zur Sprache kommt", sagt sie.

Neuerdings orthodoxe Rabbinerinnnen

Wenn es also zum Beispiel in einem Vers aus der zweiten Sure des Koran, wo es heißt: Sie, die Frauen, sind ein Kleid für euch, die Männer, und ihr ein Kleid für sie: Dann lässt sich das verstehen als Aufforderung zu wechselseitigem Schutz, nicht etwa so, dass der Mann auf die Frau aufzupassen habe.
Wobei es auch für den feministischen Blick nicht die eine richtige Lesart der Quellen gibt und nicht den einen richtigen Umgang mit den Traditionen, die sich daraus entwickelt haben – auf islamischer Seite nicht und auch nicht auf jüdischer: "Viele weibliche Religionsgelehrte, die sich mit den Quellen auseinandersetzen, versuchen eben, die Tradition erst mal ein bisschen zur Seite zu stellen, zu sagen: Ok, es gibt diese Quellen, wir konzentrieren uns auf diese Quellen und versuchen, einen weiblichen Blick darauf zu entwickeln, dann eben vielleicht mit mehr Fokus auf weibliche Vorbilder, auf Interpretationen von Gesetzen, von Vorgaben, die nicht männlich dominiert sind in ihrer Sichtweise", sagt Rebecca de Vries, Jüdin, Flüchtlingsbeauftragte. "Und dann gibt es nochmal eine andere Herangehensweise mit dem Versuch, die Tradition so, wie sie sich entwickelt hat, erst mal zu akzeptieren, und dann innerhalb der bestehenden Tradition Räume zu erkämpfen für Frauen, die Gleichwertigkeit symbolisieren."
Also, als jüdische Feministin kann ich entweder sagen: Inspiration und Vorbild bekomme ich aus einer direkten Auseinandersetzung mit den biblischen Texten der Tora, jenseits der bisherigen Auslegung – oder ich sage: Religionsrecht, rabbinische Interpretation, religiöse Gewohnheiten sind nun einmal, wie sie sind – wie kann ich sie als emanzipierte Frau von heute leben.

Die Frage nach religiösen Ämtern für Frauen

Das wird zum Beispiel deutlich bei der Frage nach religiösen Ämtern für Frauen: Wo im liberalen Judentum Frauen seit beinahe 100 Jahren zur Rabbinerin ordiniert werden, bewegen sich orthodoxe Jüdinnen erst in jüngerer Zeit in dieses Amt. Und sie tun es, indem sie eigene Formen kreieren. So bezeichnen sie sich etwa als Rabba, als Frau, die im Amt all das tut, was männliche Rabbiner auch tun, bis auf die Dinge, die ausdrücklich nur Männern vorbehalten sind.
"Es ist wichtig, den Blick füreinander nicht zu verlieren und im Kopf zu behalten, dass wir alle der gleichen Tradition entspringen", sagt Rebecca de Vries. "Und dass es eigentlich schön ist, dass sich da so viele unterschiedliche Herangehensweisen entwickelt haben, dass es nicht eine Variante gibt, die funktioniert, sondern für jede unterschiedliche Interpretation, Lebensweise, Tradition unterschiedliche Herangehensweisen."

"Ich bin muslimisch und feministisch"

Was Rebecca de Vries hier für die verschiedenen Strömungen innerhalb des Judentums ausführt, gilt vergleichbar auch für den Islam. Auch hier gibt es zum Beispiel Debatten um Ämter – in der die einen dann auf überlieferte Aussprüche des Propheten Mohammed verweisen, in der er eine Frau mit der Leitung des Gebets in ihrem Haus beauftragt – und die anderen das Amt der Imamin auch für sich beanspruchen, sagt die Muslimin Kübra Özermiş.
"Da kommt es halt darauf an", erklärt sie, "wie ist der gesellschaftliche Kontext, unabhängig davon, was theologisch informiert worden ist, also wie positioniere ich mich als Person, die muslimisch und feministisch gleichzeitig ist, zu einer bestimmten Sache, wie zum Beispiel das Empowerment von Frauen."

Feminismus in Vielfalt

Feminismus in Vielfalt – für Rebecca de Vries liegt darin auch der Schlüssel für Bündnisse über religiöse Grenzen hinaus: "Ich fühle mich am ehesten dann mit Menschen verbunden, die meiner Herangehensweise, gerade diesem Konflikt zwischen der Liebe für die Tradition, dem, was die Familie einem mitgegeben hat, dem Respekt dafür, dem Wunsch auch, da hineinzuwachsen, in die Tradition, in das Familienerbe, und gleichzeitig seinen eigenen Weg darin zu finden, innerhalb dieser Strukturen. Und seinen eigenen Platz zu finden, das mit etwas zu füllen, was einem selbst als Individuum etwas bedeutet."
Genau nach solchen Bündnissen möchten sie suchen, sagt Tanja Berg vom Vorstand von Bet Debora. "Als Netzwerk verstehen wir Judentum eben nicht nur als Religion, sondern im jüdischen Sinne auch als Kultur, als Tradition, als Geschichte und als etwas Lebendiges, das wir gestalten wollen. Das wir auch in einem feministischen Kontext gestalten wollen. Deswegen können Kooperations-Partnerinnen sowohl aus anderen Minderheiten kommen, wenn sie sich für diese Themen interessieren, als auch aus einer Vielzahl von jüdischen Perspektiven, und immer wieder natürlich auch aus der Frauenbewegung der Mehrheitsgesellschaft."

Bündnisse und Allianzen schmieden

Wobei solche Allianzen nicht leicht zu schmieden sind, wenn frau zum Beispiel ein Kopftuch trägt und sich trotzdem als Feministin versteht, sagt Kübra Özermiş. "Als muslimische Feministin in einem deutschen Kontext ist es leider so, dass weite Teile des sogenannten weißen westlichen Feminismus mir meinen Feminismus absprechen würden. Und dahingehend fühlen wir uns als muslimische Feministinnen auch im Stich gelassen. Da, wo ich mich am ehesten verbündet fühle und Allianzen suche, sind wirklich andere Communities, die in einem ähnlichen Machtgefälle marginalisiert werden, das ist zum Beispiel aus der jüdischen Community, aber auch die schwarze Community, die LGBTQI Community oder überhaupt auch generell die Community of Colour."
Deswegen schätzt Özermiş den Austausch jenseits der Mehrheitsgesellschaft, wie eben an einem heißen Augustsonntag in einer Kreuzberger Synagoge.
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