Jüdische Proletarier im Ruhrgebiet

08.09.2011
Rund 150.000 osteuropäisch-jüdische Arbeiter wurden während des Ersten Weltkriegs für den Bergbau im Ruhrgebiet angeheuert. Sie waren ein klassenbewusstes Proletariat, streikerprobt und politisch organisiert. Heid ist einer der wenigen Historiker, der über diese Minderheit in der deutsch-jüdischen Gesellschaft forscht.
Dass in Deutschland einmal tausende jüdische Arbeiter lebten, ist praktisch unbekannt. Umso wichtiger sind da die Forschungen des Historikers Ludger Heid.

Ludger Heid, 1945 in Warendorf geboren, bekennender Ruhrgebietler, in Duisburg zu Hause, bewegt seit seiner Studentenzeit die Frage nach dem Schicksal dieser jüdischen Arbeiter. Zu oft musste er hören: "Jüdische Bergarbeiter? Nie gehört!" Mit solchen Antworten wollte sich Ludger Heid nicht zufrieden geben und hatte damit das Thema seines Lebens gefunden. Jetzt fasste er in einem umfangreichen Band die Quintessenz seines Jahrzehnte langen Forschens zusammen.

Die Anfänge eines jüdischen Proletariats gehen im Wesentlichen auf die Notzeit während des Ersten Weltkriegs zurück. Deutschland suchte damals dringend "Kriegsarbeiter", da die meisten waffenfähigen Männer eingezogen waren. Das Problem: Die "Fremdarbeiter" mussten zuverlässig und deutschfreundlich sein.

Gefunden wurden sie in Polen, meist in Regionen, die einmal zu Preußen gehörten. Dort existierte ein breites jüdisches Proletariat. Nach Heids Erkenntnissen kamen seinerzeit 150.000 osteuropäisch-jüdische Arbeiter allein ins Ruhrgebiet, von denen 4000 als Bergleute unter Tage in den Zechen arbeiteten.

Sie waren ein klassenbewusstes Proletariat, streikerprobt und linksstehend. Entsprechend gründeten sie eigene Parteien: Die Poale Zion, die sich als jüdisch-sozialdemokratische Arbeiterbewegung verstand, und den "Bund", ein in Osteuropa mächtiger, antizionistischer jüdischer "Arbeiter-Bund", der zwischen Marxismus und Sozialdemokratie changierte.

Im Völkergemisch des Ruhrgebiets, das ja auch Tausende von katholischen Polen angezogen hatte, fühlten sie sich sehr bald heimisch. Zwar wanderten viele nach dem Krieg in das "Land der unbegrenzten Möglichkeiten", in die USA aus, doch etwa 90.000 blieben.

Heids Arbeit ist eine mutige und gelungene Mischung aus wissenschaftlicher Aufbereitung des Archivmaterials und von "Fallbeispielen" - Schicksalsschilderungen konkreter Menschen. Dadurch erhält der umfangreiche Band einen Spannungsbogen, der die Leser fesselt.

Jetzt geht es nicht mehr allein um Statistiken und Dokumente. Sie werden ergänzt durch die Schilderung individueller Schicksale: Die Leser erfahren von Hoffnungen und Visionen, vom Lebens- und Arbeitsalltag, von den Stationen der Verfolgung durch die Nazis.

Besonders erschütternd sind die "Fälle", die uns bis in die Nachkriegszeit führen. Beispiel: die Familie Goldfischer. Seit 1907 lebte sie in Duisburg - bis zur Deportation 1938 durch die Nazis. Nur das Ehepaar und ein Sohn überleben die Konzentrationslager: "Mitte Januar 1946 sind die Goldfischers wieder in Duisburg. Halbhysterische Flüchtlinge und Überlebende, bedrängt von Alpträumen, traumatisiert." Dass sie überlebt haben, scheint in ihrem alten Heimatort Duisburg niemanden zu freuen. "Die Goldfischers sind unerbetene, fremde Gäste, Eindringlinge und Störenfriede."

Solche Geschichten machen das Sachbuch anschaulich, manchmal aufregend – da Heid den Blick auf die kleinen Leute, die Unbekannten, die Vergessenen und Verdrängten richtet. Hier spürt man zwischen den Zeilen seine Leidenschaft und manchmal auch Wut.

Heid dehnt seine Untersuchung auch auf die "neuen Ostjuden" aus. Allerdings ist es nicht unproblematisch, diesen alten Begriff auf jene anzuwenden, die in den letzten zwei Jahrzehnten aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind. Sie unterscheiden sich praktisch in allem von jenen, die damals während des Ersten Weltkriegs hierher gelangten.

Sie sind überwiegend akademisch gebildet, haben eine fest in der russischen Kultur wurzelnde Identität, sind weder Flüchtlinge im klassischen Verständnis noch Emigranten. Nur die Hälfte der bislang zweihunderttausend hat sich den jüdischen Gemeinden angeschlossen. Mit ihnen beginnt ein gänzlich neues Kapitel ohne historische Kontinuität. Auf wenigen dutzend Seiten lässt sich dies quasi als Anhang zu einem gewaltigen Werk nicht erledigen. Das schmälert die Bedeutung des Buches nicht. Aber auf eine ähnlich präzise Darstellung jüdischen Lebens der Gegenwart werden wir sicher noch warten müssen.

Besprochen von Günther B. Ginzel

Ludger J. Heid: Ostjuden - Bürger, Kleinbürger, Proletarier. eschichte einer jüdischen Minderheit im Ruhrgebiet
Klartextverlag, Essen 2011
716 Seiten, 39,95 Euro