Jüdische Kulturtage Bielefeld

Gänsehaut mit den Liedern der Jekkes

Von Elin Hinrichsen · 17.09.2021
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In Bielefeld werden Brücken ins jüdische Leben und vom jüdischen Leben geschlagen - mit Konzerten, Lesungen und Vorträgen. Neben musikalischen Auftragsproduktionen sind auch sehr alte Menschen mit deutschen Wurzeln aus Israel zu hören.
Ein Video in der Ausstellung "Jekkes in Israel". Die alte Dame in dem Video strahlt und singt aus voller Kehle dieses ihr altbekannte Lied aus Kindertagen. Sie hat es vor rund 80 Jahren aus Deutschland mit nach Israel gebracht.
Es ist Rachel Jaglinski, geboren 1931 in Fulda. Sie sitzt in einem gemütlichen Sessel in ihrer Wohnung in Israel. Sie schaut und singt in die Kamera. Und zwischendurch immer mal wieder zur Fotografin herüber. Dann, wenn sie nach Worten sucht. Dieses Kinderlied hat sie vermutlich seit Jahrzehnten nicht mehr angestimmt.
Oranit Ben Zimra hat die Auswanderer in ihrem Häusern und Wohnungen in Israel besucht. Erinnerungen aus der Kindheit hervorholen – von ganz unten, aus der allerersten Zeit in Israel. Darum geht es der Künstlerin in ihrem Projekt "Jekkes in Israel".
"Jekkes", so nennen die Israelis die jüdischen Auswanderer und Auswanderinnen aus Deutschland. Damals mussten sie wegen der Machtergreifung Hitlers ihrem Heimatland den Rücken kehren. Die Jekkes leben weit verstreut in Israel. Es sind richtig alte Leute. Die Interviews mit Fotosession dauern Stunden.
Die alten Leute, die sie aufsuchen, sind nicht daran gewöhnt, dass Fremde zu ihnen nach Hause kommen – schon gar nicht in der kontaktlosen Corona-Zeit. Moshe Beker begleitet seine Frau bei dem Foto- und Video-Projekt. Anderthalb Jahre lang reisen Künstler und Künstlerin durch Israel, spüren Jekkes auf und besuchen sie. Das Ergebnis der Reise sind wunderbare, dichte Portraits dieser Menschen und ihrer Zuhauses. Die schwarz-weiß Fotos im doppelten Din-A-3 Format sind in der Volkshochschule Bielefeld zu sehen, im Rahmen der jüdischen Kulturtage.
Beate Ehlers von der Volkshochschule Bielefeld: "Es ist eine ruhige Ausstellung und eine sehr bewegende Ausstellung, finde ich. Allein wenn man die alten Leute sieht, die auch heute noch nach so vielen Jahren, in perfektem Deutsch diese Kinderlieder singen können, da kriegt man Gänsehaut - das ist wirklich großartig."

Die Arbeit vieler Hände

Die Ausstellung ist eines von vielen Mosaiksteinchen der jüdischen Kulturtage in Bielefeld. Vier Wochen lang volles Programm zu gestalten – das war viel Arbeit für Irith Michelson von der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld.
"Nicht viele Köche verderben den Brei, sondern viele Menschen hatten Ideen oder haben Kontakte. Das ist so ein Initiativkreis, so nennen wir uns, das ist die Volkshochschule, die Deutsch-Israelische Gesellschaft, Arbeitskreis Bielefeld, das ist die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, das ist das Historische Museum, freischaffende Historiker und Künstlerinnen und natürlich die Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld. Und zwar nicht als Alibi-Funktion, sondern, damit wir was beitragen können und verschiedene Menschen treffen können in der Synagoge, im Gemeindezentrum und natürlich in diesem Jahr in der Sukka, in der Laubhütte."

Ein vielfältiges Programm

Eine Einführung in die jüdischen Hohen Feiertage; ein Vortrag über die jüdische Gemeinde Bielefeld nach 1945; eine historisch-kulturelle Podiumsdiskussion mit Persönlichkeiten aus Religion und Politik – aber auch eine szenische Lesung für Kinder, aus einem Kinderbuch einer zeitgenössischen jüdischen Autorin, in der Synagoge, jetzt direkt an diesem Sonntag Vormittag. Es ist ein buntes, vielfältiges Programm entstanden, finanziert unter anderem im Rahmen des Jubiläumsjahres "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". Die Fördergelder aus unterschiedlichen Töpfen machen zum Beispiel auch dieses hier möglich: eine Auftragskomposition.
"Das ist aus der ersten Nummer, das heißt "Vollmond", erklärt der Komponist Bernd Wilden. "'Leise schwimmt der Mond durch mein Blut…' Also das finde ich ein ganz großartiges Bild, das sind alles ganz normale Wörter aus unserem Alltag, aber in einer Art und Weise montiert, die auf einmal diese Explosion aus Bild und Farbe und Fantasien dann für uns bedeuten, das ist für mich als Musiker natürlich ein gefundenes Fressen."
"Mein blaues Klavier: Gedichte von Else Lasker-Schüler". Sie ist eine der bedeutendsten deutschen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Sie ist kombinationsfreudige Wortkünstlerin und auch Jüdin.
Bernd Wilden war schon als Student von ihr fasziniert:
"Ich glaube, es war auf dem Kölner Hauptbahnhof, da hatte ich Aufenthalt und fand eine Gesamtausgabe auf dem Grabbeltisch und dachte sofort: Das muss vertont werden! Diese Texte verlangen förmlich danach. Die sind schon fast selbst Musik."
Jetzt ist der Zeitpunkt da, jetzt arbeitet Bernd Wilden intensiv an dieser nicht aller-ersten, aber doch ersten Bielefelder Vertonung. Zehn Lieder auf zehn Gedichte; er hat sie ausgewählt und vertont: Für fünf Streicher und für Harfe, Klarinette und Klavier, das er bei beiden Konzerten selbst spielen wird.
"Die wenigsten Nummern gehen jetzt in einem Tempo durch, sondern das ist agogisch sehr flexibel. Das geht vor und zurück, im Grunde genommen wie die Sprache von Else Lasker-Schüler ist. Das ist ja ein einziges Auf und Ab."

Die finalen Proben mit den Streichern und Bläsern aus Bielefeld finden in den Tagen vor der Uraufführung am 26. September statt, wenn auch die israelische Sängerin angereist sein wird.
"Ja, wenn dann die Frau Goldstein noch dazu kommt, als Solistin, dann wird es sowieso noch mal viel einfacher, denn sie ist natürlich das Zentrum der Gestaltung und sie wird uns dann auch noch ein Stück weit führen."
Gedichte von Else Lasker-Schüler am 26. September. Dazu Jiddischer Tango aus Polen. Gassenhauer jüdischer Komponisten aus der Musical-, Theater- und Filmwelt und ein Workhop für Klezmer-Musik, mit öffentlicher Aufführung.
Trotz des professionellen musikalischen Programms gehören die kurzen Gesangs-Ausschnitte der früh ausgewanderten Jekkes zu den Highlights. Es sind nicht nur die vom Leben geprägten Gesichter der Deutsch-Israelis, die berühren; es sind auch die Nahaufnahmen aus ihren Zuhauses: von mitgebrachten Silberlöffeln und Porzellan; von aufgeräumten Schreibtischen und Küchenecken; von oft polierten Bilderrahmen mit Fotos von früher. Sehr vertraut, das ganze; findet Beate Ehlers vom Initiativkreis Jüdische Kulturtage:
"Ja ... einfach weil mich die Leute teilhaben lassen an ihren Kindheitserinnerungen und an dem, was sie immer noch mit Deutschland verbinden. Das Faszinierende ist eben, dass sie über viele Jahrzehnte in Israel wohnen und sich als Israelis klar fühlen, aber trotz alledem noch die Verbindung hier haben mit Dingen, die auch ich kenne aus Deutschland. Das finde ich ganz großartig, ja."
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