"Oasenspiel" in Niedersachsen

Wie Kleinstädter ihre Träume verwirklichen

07:42 Minuten
Drei Personen bemalen eine Holzhütte im Gemeinschaftsgarten Bad Gandersheim mit Blumen und Herzen.
Im niedersächsischen Bad Gandersheim entsteht durch Freiwilligenarbeit auch ein Gemeinschaftsgarten. © Picture Alliance / dpa / Robert B. Fishman
Von Robert B. Fishman · 17.09.2019
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Oasenspiel heißt ein Konzept aus den Favelas in Brasilien: Eine Gemeinschaft spinnt aus Träumen einen Plan – und verwirklicht ihn mit vor Ort vorhandenen Ressourcen. In Niedersachsen sind so schon eine Tramperbank und ein Garten entstanden.
Aller Anfang ist schwer. Zwei kräftige junge Männer reißen einen undefinierbaren Stofffetzen aus dem Boden. Die Wurzeln der großen Fichte am Eingang zum neuen Gemeinschaftsgarten halten dagegen. Nach einigem Zerren entpuppt sich das widerspenstige Teil als alter Teppich. Schließlich haben es die beiden geschafft. Sie werfen den verwitterten Fetzen auf einen Haufen am Zaun.
"Wir haben gestern angefangen, diesen Garten anzulegen. Die Gemeinschaft hier wünscht sich eine Feuerstelle und einen Spielplatz. Sie hätten auch gerne einen Gemüsegarten. Damit haben wir gestern angefangen und viele hier aus der Nachbarschaft machen mit."
Die junge Frau hilft wie so viele hier den Bad Gandersheimern, ihre Träume zu verwirklichen. Im Rahmen eines internationalen Projekts* sind junge Leute aus den Niederlanden, der Slowakei, Italien und anderen europäischen Ländern zum Oasenspiel nach Bad Gandersheim gekommen. Entscheidend sind jedoch die Einheimischen.

Auf Talentsuche unterwegs in Bad Gandersheim

Claudia Rische ist der Liebe wegen von Berlin nach Bad Gandersheim gezogen. In der Kleinstadt fühlt sich die freie PR-Beraterin wohl.
"An dem ersten Tag sind wir rumgelaufen und haben Leute angesprochen, haben teilweise auch an die Haustüren geklopft, wenn wir gesehen haben, da ist irgend etwas, was unsere Aufmerksamkeit gefangen hält, also etwas Schönes im Fenster oder ne Deko im Garten und haben dann so die Talente Bad Gandersheims zusammengesucht und die eingeladen, zu einem kleinen Event zu kommen und da ihr Talent vorzustellen.
Und da waren dann halt Leute, die haben gesungen, die haben Gitarre gespielt. Eine Frau macht Webarbeiten, wunderschöne, und die hat angeboten, das zu unterrichten und es gab noch jemanden, der aus Lego diese schönen Gebäude Gandersheims, also das Rathaus und den Dom nachgebaut hat, ganz wunderbar."
Eine Menschengruppe hat sich in einem Garten versammelt, an dessen Zaun ein Schild hängt mit der Aufschrift: "Hier entsteht ein Gemeinschaftsgarten. Sei dabei!"
Versammlung im zukünftigen Gemeinschaftsgarten für das sogenannte Oasenspiel.© Raphael Schmidt
Jetzt flattern die Zettel mit den Träumen der Gandersheimerinnen und Gandersheimer an der Rathausmauer an einer Wäscheleine im Wind.
Rentner Rolf Ninke hat mit gesammelt und gibt für die Passanten auf dem Rathausplatz den Traumführer.
"… zum Beispiel noch mal Basketballplatz, eine Trampolinhalle, oder ein Laden für Fahrräder, eBikes mit Reparatur, dass man da letztendlich auch mal jemanden ansprechen kann oder ein Unverpacktladen… Theatergruppe… vielleicht… zum Beispiel auch ein Platz für Frauen…"

Materialien und Wissen kommen aus der Gemeinschaft

Nachdem rund 100 Bad Gandersheimer ihre Wünsche zusammengetragen haben, machen sie sich an die Umsetzung. Los geht es mit dem Garten. Gearbeitet wird mit dem, was die Menschen übrig haben und spenden, mit dem Material, das da ist und – nicht zuletzt – mit dem Wissen der Beteiligten und ihrer Nachbarn.
Die Organisatoren des durch das EU-Programm Erasmus+ geförderten Oasenspiels nennen die Träume der Menschen "ihre wichtigsten Ressourcen". Diese gilt es ernst zu nehmen und zu nutzen. In der ersten Phase des Oasenspiels werden diese mit Moderationsmethoden wie dem sogenannten World Café zusammengetragen. Dann wird gemeinsam geprüft, was sich wie mit den vorhandenen Mitteln und dem Wissen und Können der Beteiligten innerhalb einer Woche umsetzen lässt. Die Beteiligten gehen im Ort auf die Suche nach dem Material, das sie brauchen. Sie bitten Nachbarn und örtliche Unternehmen um Hilfe. In Bad Gandersheim hat ein Gartenbaubetrieb Werkzeug verliehen, Baumaterial und Pflanzen gespendet. Der Unternehmer packt auch selbst mit an.
Bad Gandersheimer bemalen im Gemeinschaftsgarten Holzpaletten und Rahmen.
Und nachdem der Plan gefasst ist, heißt es: anpacken.© Raphael Schmidt
Dann geht es an die Umsetzung. In zahlreichen Berichten loben die Beteiligten die positive Eigendynamik, die das Geschehen vielerorts bewirkt. Entscheidend: Einander zuhören, ein wertschätzender Umgang miteinander und der gemeinsame Glaube an den Erfolg. Mindestens so wichtig wie das Ergebnis ist die Veränderung, die das gemeinsame Bauen und Planen in der Gemeinschaft hinterlässt. Zusammen anpacken verbindet die Menschen über das Oasenspiel hinaus und verändert die Stimmung im Ort meist zum Positiven.

Entstanden in brasilianischen Armenvierteln

Mitbegründer Rodrigo Rubido, ein ruhiger, kräftiger junger Mann, etwa Mitte 30, hat das Konzept aus Brasilien mit nach Europa gebracht.
"Normalerweise warten wir überall auf der Welt darauf, dass zum Beispiel die Regierungen etwas tun, um unser Leben zu verbessern. Dabei haben Nachbarschaften und Gemeinschaften so viel eigenes Potenzial, um ihre Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Wenn wir uns zusammentun, bauen wir neue Beziehungen auf und das ist eigentlich das Wichtigste beim Oasenspiel. So entsteht ein Gemeinschaftsgeist und die Menschen stärken sich gegenseitig."
In Brasilien entstand das Oasenspiel, um die Lebensbedingungen in den Armenvierteln, den Favelas, zu verbessern. Entscheidend dabei: Die Bewohner selbst sollten bestimmen und die gewünschten Veränderungen selbst in die Hand nehmen. In den vergangenen 15 Jahren hat sich das Konzept weltweit verbreitet.
"In Brasilien ist es schon aus wirtschaftlichen Gründen klar, dass die Leute ihre Anliegen selbst in die Hand nehmen, weil sich die Regierung nicht um jede und jeden kümmern kann. Das gilt auch hier, obwohl ihr hier in Europa wirtschaftlich viel besser aufgestellt seid. Auch hier fehlt Gemeinschaft. Menschen fühlen sich alleine."
Rodrigo staunt, wie überlegt und strukturiert die Menschen in Deutschland die Dinge anpacken. Er freut sich auch darüber, wie gut Einheimische und die neu zugezogenen Flüchtlinge zusammen arbeiten.

Zwei junge Syrer packen mit an

Unter ihnen sind auch zwei junge Syrer, die vor drei Jahren in der Kleinstadt zwischen Leinebergland und Harz gestrandet sind. Beide sägen gerade Holz für den großen Gartentisch.
"Unter der Woche arbeite ich. Da habe ich nicht so viel Zeit, aber am Wochenende, da habe ich jetzt Zeit… Ich kenne Christina Mörth, Sie ist sowas wie kleine Chefin in der Diakonie. Sie hat uns so viel geholfen. Wir haben so viel Connection mit ihr, deshalb wir sind hierher gekommen", erzählt einer von ihnen.
Christina Mörth hat das Oasenspiel zusammen mit Raphael Schmidt nach Bad Gandersheim geholt.
"Das Besondere am Oasenspiel ist: Wir ziehen an einem Wochenende los und die Realisierung des Traumes ist schon am nächsten Wochenende und wir machen es mit den Ressourcen, ohne ein Budget vorher oder so, mit den Ressourcen die es an dem Ort gibt."
Christina und Raphael wohnen beide in Heckenbeck, einem 500-Seelen-Dorf vier Kilometer westlich von Bad Gandersheim. Während rundum die Orte aussterben, blüht hier das Leben. Die Dorfbewohner haben einen eigenen Bio-Laden, eine freie Schule, einen Kindergarten, eine solidarische Landwirtschaft, die den Ort mit Bio-Gemüse versorgt und eine Kulturbühne. Das Oasenspiel haben sie dort vor zwei Jahren ausprobiert.
An nur einem Wochenende haben sich die Dorfbewohnerinnen und -bewohner so am Dorfanger eine Boule-Bahn und am Ortsausgang eine Tramperbank gebaut. Wer in die Stadt mitgenommen werden möchte, setzt sich dort hin und wartet.
Am Ende dieses Arbeitswochenendes haben auch die Bad Gandersheimer ihr Ziel erreicht: Der Gemeinschaftsgarten ist fertig. Es wird gefeiert – natürlich wieder gemeinsam.

* Wir haben an dieser Stelle ein Wort gestrichen.
** Der Teaser wurde gekürzt.
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