Jüdische Gemeinde in Santiago de Cuba

Schabbat unter Kubas Flagge

Von Wolfram Nagel · 28.07.2017
Die Synagoge in Santiago de Cuba ist die älteste der Insel. Vor der Revolution soll auch der berüchtigte Chef der jüdischen Kosher Nostra, Meyer Lansky, hier ein- und ausgegangen sein. Heute hat die Gemeinde nur noch 30 Mitglieder. Doch das religiöse Leben blüht.
Es ist laut in der Calle Mariano Corona. Aus einer offenen Haustür dringt Musik. Ein junger Mann repariert sein Motorrad am Rinnstein. Hier, unweit der Kirche Santo Tomás, muss die Synagoge sein. Das blau-weiße Haus mit der Nummer 273 fügt sich ein in die niedrigen Häuser in der Nähe des Hafens. Auffällig sind die beiden schmiedeeisernen Gitter vor den dunklen Fenstern. Auf einer Bronzetafel ist zu lesen: Comunidad Hebrea Hatikva Santiago de Cuba.
Erst am Freitagabend, kurz vor dem Gottesdienst, steht die Tür offen. Nach und nach füllt sich der geflieste Vorraum. Neben einer bronzenen Chanukkia hängen eine Kuba- und eine Israel-Fahne an der Wand. Ein paar Frauen bereiten das Essen für den Kiddusch vor. Wir sind eine konservative Gemeinde, erzählt Elias Misrahi, der Vorsitzende. Nicht orthodox, aber traditionell.
"Gegründet wurde unsere Gemeinde 1924. Da kamen viele türkische Juden nach Cuba. Mein Name, Misrahi, ist auch türkisch. Aktuell haben wir 30 Mitglieder. Bis vor ein paar Jahren waren wir noch 100. Sie sind ausgewandert. Seit 1939 gibt es diese Synagoge. Vor der Revolution zählte die Gemeinde noch etwa 1000 Mitglieder. Die meisten haben Santiago verlassen, sind nach Panama, in die USA oder nach Israel gegangen."
Dennoch versuche die kleine Gemeinde das religiöse Leben aufrecht zu erhalten, sagt Elias. Zwar hätte sie im Augenblick keinen Minjan mehr, aber Kabbalat Schabbat wird immer gefeiert. "Wir beten auch Schacharit, feiern zusammen Purim, Pessach und andere Feste. In Guantanamo, ganz im Osten Kubas, leben noch einige jüdische Familien. Sie kommen dann zu uns nach Santiago. Das ist ja nicht so weit, hundert Kilometer. Dann sind wir alle zusammen. Eine richtige Synagoge gib es in Guantanamo nicht, aber sie haben ein Lokal, wo sie sich am Schabbat treffen."

Rabbiner-Besuch aus Chile

Einen eigenen Rabbiner hat die Gemeinde in Santiago schon lange nicht mehr. Seit 20 Jahren komme regelmäßig ein Rabbiner aus Chile nach Kuba, erzählt Elias. Der amtiere aber meist in Havanna. Die Hauptstadt sei weit weg. "Wir sind zwar nur eine sehr kleine Minderheit hier in Santiago, aber wir halten zusammen. Wir leben unsere Religion so, wie wir sie von unseren Eltern und Großeltern geerbt haben. Und wir sind offen. Wenn jemand einen Juden geheiratet hat, dann kann auch er in die Synagoge kommen. Aber ansonsten müssen alle Gemeindemitglieder jüdischer Abstammung sein."
Der Synagogen-Raum verbirgt sich hinter einer Holzwand. Ein gutes Dutzend Frauen und Männer sitzen gemischt auf einfachen Stühlen, blicken in Richtung Tora-Schrein. Auf Spanisch lesen sie die ersten Psalmen.
Nach dem Gottesdienst wartet vor der Synagoge ein moderner Kleinbus, der die Beter nach Hause bringt. Sie wohnen sehr verstreut. Ohne Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen wie den Joint könnte die Gemeinde kaum überleben. Es gab Jahre, da blieb die Synagoge ganz geschlossen, aus Geldmangel, erzählt Elias beim Abschied.
Ganz anders geht es in Havanna zu. Dort gibt es drei jüdische Gemeinden mit insgesamt etwa 1000 Mitgliedern. Im eher bürgerlichen Stadtteil Vedato mit seinen meist gut gepflegten Villen befindet sich der Templo Beth Shalom. Unübersehbar durch seinen parabelförmigen Bogen über dem Haupt- Portal. Kurz vor Purim putzten junge Leute den frisch renovierten Bau, gleich neben dem Teatro Bertolt Brecht. Erstmals wieder findet die Feier in dem großen Betsaal statt. Viele Gäste sind gekommen. Vor allem Touristen aus den USA. Und es gibt einen Kostümwettbewerb. Wer ist der schönste König Ahaschwerosch. Wer ist die schönste Königin Esther.

Informatiker und Vorbeter

Vorbeter der Gemeinde ist Alberto Bear, von Beruf Informatiker bei der staatlichen Telefongesellschaft ETECSA. Seine Ausbildung alsVorbeter bekam er in Israel. Die Gemeinde hat ihn delegiert. Seine Eltern wurden bereits in Kuba geboren, aber die Großeltern stammten aus der Türkei, erzählt Alberto. "Meine Geschichte ähnelt genau den Geschichten der Einwanderer aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Da kamen viele Juden nach Kuba: aus Syrien oder aus der Türkei."
Und natürlich aus Europa, wie seine eigene Familie, erzählt Alberto. Obwohl nur der Vater halachischer Jude sei, hätten sie immer jüdisch gelebt. Aber so sei das bei vielen Mitgliedern. Nach dem Giur, dem Übertrittsverfahren, habe er vor gut 20 Jahren angefangen Hebräisch zu lernen. Denn schon damals begann die Generation auszusterben, die noch alle Gebete beherrschte. Und nun bilde er selbst junge Leute aus.
"Man brauchte junge Leute, die Tora lesen und auch den Gottesdienst leiten können. Ich habe etliche Schüler. Früher war meine wichtigste Aufgabe, am Schabbt die Tora zu lesen. Heute ist es für mich noch wichtiger, Kinder auf die Bar Mizwa vorzubereiten."
In der Bibliothek sitzt Adela Dworin an ihrem Schreibtisch. Sie ist nicht nur Präsidentin der größten Gemeinde von Havanna, sondern auch der Föderation der jüdischen Gemeinden Kubas insgesamt. Patronato de la Comunidad Hebrea de Cuba. Auf Fotos an einer Pinwand ist sie mit Fidel, Raul Castro und Papst Franziskus zu sehen. Im Gespräch betont sie die guten Beziehungen zur Staatsführung.
"Wir erfahren tatsächlich sehr, sehr viel Respekt von Seiten der Regierung. Wir sind niemals eine Second-Class-Minderheit gewesen. Unsere Kinder gehen an die gleichen Schulen, wie der Rest der Bevölkerung. Unsere Synagogen sind immer offen. Wir wurden nie von der Regierung behindert. Wir hatten immer die besten Beziehungen zur Regierung."

Aushalten als Lebensmotto

Ursprünglich wollte Adela Dworin Rechtsanwältin oder Diplomatin werden. Das sei noch vor der Revolution gewesen. Dann aber habe sie gemerkt, dass sie keine gute Juristin in dem neuen Kuba sein könne, sagt sie mit einem Anflug von Sarkasmus. Sie sei erst Bibliothekarin geworden, dann Sekretärin, Schatzmeisterin und schließlich Vorsitzende der Gemeinde. Sie habe ausgehalten.
"1959, nach Beginn der Revolution, verließen 15.000 Juden das Land. Wir hatten fünf Synagogen in Havanna und kleinere Synagogen in anderen Teilen der Insel, aber auch eine jüdische Highschool, das war eine wirklich große jüdische Community. Die meisten Juden sind von Kuba emigriert, waren doch viele im privaten Business tätig. Als die privaten Unternehmen nach Beginn der Revolution konfisziert wurden, verließen 90 Prozent der Juden das Land."
Wie prächtig das jüdische Viertel in der Altstadt von Havanna einmal war, kann man heute nur noch ahnen. An der schmalen Calle Acosta stemmt sich zwischen mehrgeschossigen Wohnhäusern ein großer Betonbau gegen den allgemeinen Verfall. Sinagoga Adath Israel steht über dem Eingang. In diesem Viertel gab es koschere Geschäfte und Restaurants. Und auch der berüchtigte Chef der jüdischen Kosher Nostra, Meyer Lansky, soll hier vor der Revolution ein- und ausgegangen sein.
"Wir waren einmal über 100 Familien. Jetzt erzählt die Gemeinde noch 159 Personen", sagt Salomon Sarfati, der schon hochbetagte Vorsitzende, im neonbeleuchteten Kellerraum des großen Gebäudes. Dort gibt es neben dem Büro auch einen kleinen Betraum. Die Gemeinde sei in den letzten Jahren sogar wieder gewachsen. "Wir haben jeden Tag einen Minjan: am Morgen und am Nachmittag, zu Schacharit und Mincha. Das ist für uns kein Problem."
Aber die Gemeinde sei arm, sagt der Vorsitzende. "Si, weil viele Leute alt sind, Rentner sind, die meisten Personen. Wir leben von Spenden. Und es ist gut, dass uns so viele Leute besuchen, viele Touristen."

Ein Fitnesscenter im Keller

So schicken kanadische Juden jeweils vor Pessach einen Container mit koscheren Lebensmitteln nach Havanna. Auch die sephardische Gemeinde war einmal groß und wohlhabend. Die Sinagoga Centro Sefardi befindete sich jenseits der Avenida de los Presindetes, ebenfalls im Stadtteil Vedato, inmitten großer Villen und Gärten. Der riesige Bau mit dem schlichten Säulenportikus stammt aus den 50er Jahren, wie die anderen beiden Synagogen von Havanna. Der große Saal ist vermietet. Im Keller befindet sich ein Fitnesscenter und im Foyer eine Ausstellung über die Geschichte der Juden in Kuba.
"My name is Simon Goldsztein- Rosenfeld, my mothers side… Das ist die Ausstellung. Der große Raum dahinter gehört eigentlich auch zur Synagoge. Aber das ist jetzt ein Theater." In dem kleinen Museum wird auch an die Tragödie des Passagierdampfers St. Louis erinnert. Den über 900 meist deutschen Juden an Bord verweigerten die kubanischen Behörden im Juni 1939 die Einreise. Auch die USA und Kanada lehnten deren Aufnahme ab. Simon Goldszteins Eltern lebten da schon auf der Insel. Sie waren as Polen gekommen.
"Meine Eltern kamen schon 1926 hier an, lange vor dem Holocaust, sie heirateten, bekamen Kinder und arbeiteten in einer kleinen Fabrik. Ich habe in verschiedenen Berufen gearbeitet. Als Guide, als Verkäufer in einer Fabrik, vier Jahre im Kapitalismus, als ich noch jung war. Dann nach der Revolution studierte ich Elektroingenieur. Ich begann für die Regierung zu arbeiteten. Und seit ich sechzig bin, kümmere mich um die vielen Besucher der Gemeinde."

Radikal zu seinen Wurzeln stehen

Stolz zeigt Simon Goldsztein auf ein großes Foto. Darauf ist er mit weiteren neun Männern zu sehen, alle mit dem Tallit auf der Schulter. "Das ist der Minjan von Männern der Gemeinde im Jahr 2000. Und dieser Spruch hier unten stammt von José Marti: 'Radikal sein ist nichts anderes, als zu seinen Wurzeln zu gehen.'"
Wie sich die jüdischen Gemeinden auf Kuba entwickel werdenn, hängt nun vor allem von den jungen Leuten ab. Für Moishe und Susanna von der liberalen Gemeinde Beit Shalom ist die Synagoge ein offenes Tor zur Welt. Viele junge und gut ausgebildete Juden haben schon das Land verlassen. "Wir wollen erst einmal hier in dieser Gemeinde bleiben, und wir wollen lernen und arbeiten in diesem Land. Wir denken im Moment auch nicht daran, Aliah zu machen." "Aber wir werden bald nach Israel fahren. Wir nehmen an einem Jugendprogramm teil – fünfzehn Tage!" "Danach beginnt für mich das College."
Über die politische Stimmung im Land wollen Moishe und Susanna nur so viel sagen, dass die Situation ziemlich kompliziert sei. Auf jeden Fall begrüßen sie den politischen Wandel. Und noch etwas ist immer wieder in den jüdischen Gemeinden zu hören, ob in Havanna oder Santiago: Kuba ist eines der sichersten Länder für Juden. In Kuba gibt es keinen Antisemitismus.
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