Judith Schalansky: "Verzeichnis einiger Verluste"

Die Welt, ein unüberschaubares Archiv

"Verzeichnis einiger Verluste" von Judith Schalansky
In den Erzählungen von Judith Schalansky geht es auch um so unterschiedliche Personen wie den Ruinenmaler Hubert Robert oder die griechische Dichterin Sappho. © Suhrkamp/imago
Von Carsten Hueck · 25.10.2018
In "Verzeichnis einiger Verluste" beschäftigt sich Judith Schalansky mit lang Vergessenem oder Verschollenem wie die griechische Dichterin Sappho oder ein Album von John Coltrane. Zwölf lebensbejahende Erzählungen, die man lesen muss, so unser Kritiker.
Der Blick auf Hinterlassenschaften lieb gewonnener Menschen löst oft ein seltsames Gefühl von Schmerz, Trauer, Bedauern und Rührung aus. Plötzlich herrenlos, aus funktionalen Zusammenhängen gelöst, wird etwas, das eben noch in Gebrauch war, zu einem Objekt der Erinnerung. Manches hebt man auf, anderes wird fortgegeben, abgelegt auf dem Müllhaufen der Geschichte, vergessen, unwiderruflich vernichtet.
Judith Schalansky, vielfach ausgezeichnete Buchgestalterin und Autorin, berichtet in ihrem neuen Buch von solchen Verlusterfahrungen im umfassenden Maßstab. Nicht nur im privaten Bereich kann plötzliche Leere eintreten, sondern auch beim Blick auf vergangene Epochen, auf untergegangene Kulturen und zerstörte Zeugnisse der Menschheitsgeschichte. Schalansky stellt vielstimmig die Frage nach unserem Umgang mit Abwesenheit und Tod, Erbe und Erinnerung.

Ein Verlustverzeichnis von den Atollinseln bis zu Raumsonden

Zwölf Erzählungen fügt sie zu einer Art ausgewählter Geschichtsbetrachtung zusammen. Vergangenheit und Zukunft sind darin – wie in Walter Benjamins "Thesen über den Begriff der Geschichte"– fragil, dynamisch und offen. Es geht um so unterschiedliche Personen wie den französischen Ruinenmaler Hubert Robert, die griechische Dichterin Sappho, den Schweizer Enzyklopädisten Armand Schulthess oder den persischen Religionsgründer Mani. Wichtig auch die Topographie: ein versunkenes Südseeatoll namens Tuanaki, die Walliser Alpen, die Gegend um Greifswald, aus der die Autorin stammt.
Judith Schalansky lässt keinen Zweifel daran, dass die Welt als unüberschaubares Archiv aufgefasst werden kann, heimgesucht von Phänomenen der Zerstörung und Zersetzung. Schon in ihrer Vorbemerkung listet sie buchhalterisch nüchtern auf, was während der Arbeit an ihrem Buch unter anderem verloren gegangen ist: eine Raumsonde verglühte, ein Drittel der Chinesischen Mauer fiel Erosion und Vandalismus zum Opfer, Tierarten starben aus, in Palmyra wurde der 2000 Jahre alte Tempel des Baal gesprengt.

Ein Brevier des Eigenartigen und Abseitigen

Gleichzeitig aber weiß die Autorin auch vom Finden zu berichten: in derselben Zeit tauchten Haarbüschel George Washingtons auf, ein verschollenes Album von John Coltrane, Hunderte Zeichnungen Piranesis, ein Himmelskörper, auf dem menschliches Leben möglich ist.
"Das Verzeichnis einiger Verluste" ist kein melancholischer Abgesang, sondern ein Brevier des Eigenartigen und Abseitigen, das man lesen muss. Und nicht zuletzt ein überzeugendes Beispiel für die Kunst des Erzählens. Judith Schalansky lässt im Erzählen Abwesendes auf beindruckende Weise präsent werden. Kraft ihrer akribischen Recherchen und des schwungvollen Gebrauchs ihrer Fantasie, werden die Ruinenlandschaften, die sie durchstreift, zu utopischen Orten, ihre Verlustanzeigen aufgehoben in Literatur. Nur in Form von Geschichten ist Vergangenes zugänglich: "Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden."

Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste
Berlin, Suhrkamp, 2018
251 Seiten, 24,00 Euro

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