Judith Butler: "Die Macht der Gewaltlosigkeit"

Warum Gleichheit Gewalt verbietet

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Graffii von Banksy zeigt einen Vermummten, der ausholt um einen Strauß Blumen zu werfen.
Wehrt euch, seid unwiderstehlich: Der Street-Art-Künstler würdigt Gewaltlosigkeit auf seine Weise. Judith Butler hat diesem Prinzip ihr neues Buch gewidmet. © Picture Alliance / dpa / Sven Hoppe
Von Katharina Döbler · 17.01.2021
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Judith Butler, Ikone der Gender-Studies, erweitert die politische Philosophie um ein theoretisches Plädoyer für Gewaltlosigkeit. Dem inspirierenden Ansatz fehlt es jedoch an Schlussfolgerungen für die gelebte Gegenwart.
Man erinnere sich an die heftigen Debatten der 1960er-, 70er-Jahre über das Recht und die Pflicht zum Widerstand, darüber, ob und wann "Gewalt gegen Sachen", gar "Gewalt gegen Menschen", angebracht sei.
Judith Butler ist Anfang der 1990er-Jahre mit dem Buch "Gender Trouble" berühmt geworden. Darin legt Butler eine damals bahnbrechende Theorie geschlechtlich bestimmter Normierung vor. Das aktuelle Buch dagegen dreht sich um Macht, Recht und Widerstand – und um die menschliche Verfasstheit, wie sie sich in diesem Rahmen darstellt.

Fundamentalkritik am "Naturzustand"

Butler beginnt mit einer Fundamentalkritik am philosophischen Konzept des "Naturzustands", das in der politischen Philosophie von Klassikern wie etwa Hobbes, Rousseau oder Locke eine zentrale Rolle spielt, und bemerkt spitz, dass der angebliche Naturzustand eines gewaltbereiten, prä-ethischen Individuums anhand eines männlichen Erwachsenen definiert wurde.
Dass wir Menschen alle zunächst als von Fürsorge abhängige Kinder in die Welt eintreten, dieser Gedanke findet im Konzept des Naturzustandes keinen Platz.

Unterschätzte gegenseitige Abhängigkeit

Die immer schon gegebene Abhängigkeit aber, wechselseitige Interdependenz, ist Butlers stärkstes Argument für Gewaltlosigkeit, nicht nur in logisch-ethischer, sondern auch in psychischer Hinsicht. Butler bedient sich bei Freuds Entwicklungstheorie und liest diese mit Melanie Klein weiter:
Menschen leben in einem Zustand vielfach ambivalenter Verbundenheit auf dieser Welt zusammen, die durch Gewalt jedoch zerstört wird. Deshalb könne Gewalt niemals Mittel zum Zweck sein.
Judith Butler schrieb dieses Buch – basierend auf den bereits in den Adorno-Vorlesungen 2002 entwickelten Thesen zur politischen Ethik – vor dem Hintergrund der Ereignisse in den USA. Die Gedanken zur Gleichheit, philosophische Voraussetzung für das Konzept der Gewaltlosigkeit, entfaltet Butler im Kontext der Black-Lives-Matter-Bewegung: Alle Leben sind gleichwertig, schützenswert und damit "betrauerbar" (grievable).
Mag "Betrauerbarkeit" im Deutschen zwar ein Ungetüm von Wort sein, es greift doch genau da, wo "Leben aus dem Reich der Lebenden schon verschwindet, bevor es getötet wird". Butler spricht von einer Missachtung, die zum "Sterben-lassen" führt, zum Beispiel, indem Menschen die basalen Infrastrukturen des Lebens versagt werden. Das trifft auf die Flüchtlinge im Mittelmeer ebenso zu wie auf manche der Corona-Toten in den USA.

Eine radikal egalitäre Utopie

Dagegen entwirft Butler ein radikales Gleichheitskonzept, "jenseits des Horizontes unseres gegenwärtigen Denkens", und will damit nicht weniger als "den Grundstein für eine Praxis der Gewaltlosigkeit" legen: Die Anerkennung der Gleichheit und der Betrauerbarkeit steht, so die Theorie, der Ausübung jeglicher Gewalt entgegen.
Bei der Rezensentin regt sich bei solchen Worten automatisch eine – in anarchistischer Alltagspraxis erworbene – reflexhafte Abwehr gegen das Utopische darin. Butler selbst bestätigt es später sogar noch, indem das Manische (wieder nach Freud) im widerständigen Handeln zur Sprache kommt, als eine die Realität missachtende, rettende Haltung.

Mangelnde Übersetzung ins Konkrete

So anregend, fruchtbar und teilweise faszinierend es ist, Judith Butlers Gedankengebäude zu durchwandern und die eingezogenen Stützbalken aus den Werken Benjamins, Fanons, Foucaults, Kleins, Gandhis und vieler anderer zu würdigen: Man steigt höher und höher – und dann fehlt der Schlussstein.
Das Buch endet mit einer Aufzählung verschiedener Bewegungen und Netzwerke, mal sehr konkret, mal nur angedeutet, die zu seinen Thesen passen. Aber Butler bleibt die soziopolitischen Schlüsse aus den psychoanalytischen und philosophischen Erkenntnissen schuldig. Das Postulat der Gleichheit, wie radikal auch immer, reicht da nicht aus.
Am Ende, beim Ausblick vom obersten Stockwerk hinunter auf die Welt mit ihren ungelösten Fragen, steht da nur ein so bescheidener wie herzerwärmender Aufruf zur Solidarität.

Judith Butler: "Die Macht der Gewaltlosigkeit"
Aus dem Englischen von Reiner Ansén
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
250 Seiten, 28 Euro

Redaktioneller Hinweis: Wir haben den Text korrigiert, um zweigeschlechtlich codierte Adressierungen zu vermeiden.
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