"Judentum ist viel, viel, viel mehr als nur Religion"

Edna Brocke im Gespräch mit Ulrike Timm · 08.03.2012
Das Judentum sei nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern an erster Stelle eine Seinsgemeinschaft, sagt Edna Brocke, die jahrzehntelang Leiterin die Begegnungsstätte der Alten Synagoge Essen geleitet hat. Sie wünscht sich heute mehr Akzeptanz, damit Brücken gebaut werden können.
Ulrike Timm: Vor 200 Jahren, im März 1812, wurde in Preußen ein Edikt erlassen, das als Emanzipationsedikt in die Geschichte eingegangen ist: Die Juden bekamen bürgerliche Rechte, sie wurden Staatsbürger Preußens. Darüber gab es unter der jüdischen Bevölkerung viel Freude, es galt als großer historischer Schritt. 1933 dann traf die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung eine deutsch-jüdische Bevölkerung, die sich eigentlich integriert und geschützt fühlte als deutsche Staatsbürger eben, allen immer bestehenden antisemitischen Tendenzen zum Trotz. Kann es vor diesem historischen Resonanzboden wirklich wieder ein sicheres Lebensgefühl für Juden in Deutschland geben? Das ist bei aller geschichtlichen Aufarbeitung immer wieder neu die Frage, die wir jetzt besprechen wollen mit Edna Brocke. Sie hat jahrzehntelang sehr praktische Verständigungsarbeit geleistet als Leiterin der Begegnungsstätte der Alten Synagoge Essen. Sie lebt heute in Deutschland und in Israel. Frau Brocke, ich grüße Sie!

Edna Brocke: Ja, hallo!

Timm: Frau Brocke, wenn Sie in Deutschland sind, Freunde treffen, mit Nachbarn reden, spazieren gehen, wie präsent ist dann für sie die deutsche Geschichte, bewusst oder unterschwellig?

Brocke: Sie ist präsent, aber in einem anderen Sinne als im Zuge dieser Frage jetzt auf 1812, sondern eher als Nachgang zu dem, was in der Geschichte 33 bis 45 war, und sie ist präsent in mehreren Weisen, die aber nicht dazu, meiner Meinung nach, führen, dass man sich sicherer oder angenommener fühlt, als es zuvor gewesen ist.

Timm: Beschreiben Sie es uns mal, wie wirkt sich das aus?

Brocke: Ja, die Mehrheitsgesellschaft ist primär damit beschäftigt, sich selbst zu bearbeiten, aber dann auch nur in einem ganz bestimmten Ausschnitt. Leider sind daran fast immer nur Historiker beteiligt, und Historiker haben so wie jede Fachgruppe immer nur einen Ausschnitt im Blick, und das viel tiefere Trauma der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist nicht in deren Blick. Sie sind auch nicht die geeigneten Fachpersonen, um es zu bearbeiten. Und an der Stelle ist, glaube ich, viel zu wenig geschehen, und das macht sich bemerkbar, direkt und indirekt.

Timm: Nun gibt es so etwas wie einen gesellschaftlichen Konsens in Deutschland, der nie wieder soll so etwas passieren heißt. Wie viel instinktives Vertrauen haben Sie in solche Sätze?

Brocke: Jetzt sage ich auch was Unbequemes: So gut wie keines, weil wenn bei den Auseinandersetzungen politischer Art gesagt wird, nie wieder Auschwitz, dann kommt es ganz drauf an, wer sagt das. Wenn das ein nicht-jüdischer Deutscher sagt, dann will er mir sagen, ich möchte nie wieder zu einem Tätersystem oder Gruppe gehören. Wenn Juden das sagen, egal ob in Deutschland oder in Israel oder sonst wo, dann sagen sie, wir wollen nie wieder Opfer werden. Und daraus folgen ganz andere Lebensentwürfe für die jeweilige Realität, in der man lebt.

Timm: Und dieser Zwiespalt äußert sich dann in einer tiefen Unsicherheit, die nicht überwindbar ist?

Brocke: Für mich würde ich nicht sagen, Unsicherheit. Ich bilde mir ein, lange genug hier zu leben und die mitlaufenden Subtexte zu verstehen und zu ergründen und dann die Entscheidung für mich treffen zu können, zwischen den Tropfen zu gehen, um nicht getroffen zu werden. Aber das ist eine sehr individuelle Sicht der Dinge. Ich glaube nicht, dass ich das für viele andere Juden, die hier im Lande leben, so auch mit sagen darf.

Timm: Ganz praktisch, was ärgert Sie im Umgang miteinander, privat, alltäglich oder auch politisch, öffentlich?

Brocke: Ärgern gar nicht. Ärgern ist für mich persönlich nicht die Kategorie, sondern die Tatsache, dass Judentum eben nicht eine Religionsgemeinschaft ist, jedenfalls nicht an erster Stelle, sondern Judentum ist eine Seinsgemeinschaft. Man ist Jude oder Jüdin automatisch, wenn man Sohn oder Tochter einer jüdischen Mutter ist. Natürlich kann man übertreten, aber da man die Mutter nicht auswechseln kann, kann der Übertritt nur über die Religionsgemeinschaft vollzogen werden.

Aber Judentum ist viel, viel, viel mehr als nur Religion. Und im Laufe der Jahrhunderte war es immer so, dass die Mehrheit der Juden nicht religiös waren. Wenn das nämlich nicht so gewesen wäre, hätten wir in der jüdischen Bibel, oder was Christen Altes Testament nennen, nicht lauter Scheltreden eines Propheten, Jesaia, Jeremiah, Amos, wie sie alle hießen, wenn alle so fromm gewesen wären, wäre das ja nicht nötig. Das heißt, schon in biblischer Zeit war dieses Standbein des Judeseins, nämlich primär einer Gemeinschaft, einer Ethnie - das Wort Volk oder Nation sind so missbraucht worden, dass ich nicht wage, sie zu benutzten - einfach verfehlt wären.

Und erstmals das zu sehen, und die Vielfalt an Judentümern, dann kämen wir viel eher zueinander, also es ist nicht, das mich ärgert, sondern ich wünschte mir eine offenere Form der Akzeptanz, dass es Grenzen gibt, unter Akzeptanz, dass Grenze an erster Stelle für mich etwas positives ist. Und dann kann ich Grenzen versuchen zu überschreiten, Brücken drüber zu bauen, aber wenn ich die Grenze nicht erst benannt habe, dann stochere ich in einem Pudding rum, den ich nicht einordnen kann.

Timm: Schauen wir mal auf den historischen Anlass unseres Gespräches, das Emanzipationsedikt vor 200 Jahren. In der "Jüdischen Allgemeinen" gibt es dazu gerade einen Artikel, der beschreibt, wie viel Zuversicht, ja wie viel Jubel dieser historische Schritt damals auslöste. Ist natürlich waghalsig, über 200 Jahre zurückzugucken, aber hat es aus ihrer Sicht je ein echtes unbefangenes, vertrauensvolles Verhältnis von Juden und Nichtjuden in Deutschland gegeben?

Brocke: Da muss ich sehr persönlich werden, eine kleine Reminiszenz: Als ich nach meinem ersten Jahr hier in Deutschland wieder nach Hause gekommen bin, und meine Mutter war Jahrgang zehn, fragte ich sie: Ja, du hast mir eigentlich das Bild so vermittelt, ihr seid Teil der Gesellschaft gewesen. Ich bin jetzt ein Jahr in der Bundesrepublik, ganz andere Situation - Frage: Bei wie vielen Kindergeburtstagen von nichtjüdischen Kindern warst du eingeladen? Meine Mutter war erschüttert über diese Frage.

Die Antwort habe ich erst ein Jahr später, als ich wieder zu Hause war, bekommen, und sie war total betroffen, dass sie mir antworten musste - diese Frage hat sie, ich sage jetzt mal, destabilisiert, denn sie musste feststellen, sie war nie bei einem Kindergeburtstag eines nichtjüdischen Klassenkameraden eingeladen. Und wenn sie die Frage von mir nicht gestellt bekommen hätte, hätte sie sie theoretisch mit Sicherheit anders beantwortet.

Das heißt, der Blick der Generationen nach 1812, also die, die schon in diese Gleichstellung hineingeboren wurden und aufgewachsen sind, diese Generation glaubte sich integriert. Fakt war aber, dass sie es offenkundig nicht wirklich waren. Und diese Sehnsucht, der man hier in Deutschland sehr oft begegnet, von einer deutsch-jüdischen Symbiose zu reden oder zu betrauern, was dem gesamten Deutschland verloren gegangen ist dadurch, dass Juden umgebracht beziehungsweise geflüchtet sind, das hat wiederum nicht mit uns Juden zu tun, das hat mit der Mehrheitsgesellschaft zu tun. Und Gershom Scholem hat meiner Meinung nach völlig richtig geantwortet, es hat nie so eine Symbiose gegeben. Das ist ein Traum, ein Wunsch, ja, aber er war nie Realität.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Edna Brocke. Sie hat über 20 Jahre lang die Begegnungsstätte Alte Synagoge in Essen geleitet. Frau Brocke, da haben sie ja ganz lebenspraktisch Verständigungs- und Bildungspolitik gemacht. Wie sind Sie denn dort mit den Schwierigkeiten umgegangen, die Sie uns eben beschrieben haben?

Brocke: Indem wir mit dem neuen Konzept, das wir zwischen 2008 und 2011 umgesetzt haben, einen ganz anderen Ansatz versucht haben. An erster Stelle haben wir uns nicht mehr als eine reine Gedenkstätte verstanden - natürlich kommt dieser Aspekt auch vor, aber nicht zentral, sondern stärker Begegnungsstätte -, zweitens, wir haben den Raum so gestaltet, dass die Menschen nicht diese Bedrückung gleich präsentiert bekamen durch den Raum, also graue Wände, dunkles Ambiente, sodass man immer das Gefühl hatte, ich darf hier nur flüstern, sondern ein heller offener Raum mit einer einladenden Farbe, mit großen Glastüren, sodass man auf die Straße hinaus und von der Straße hinein blicken kann - also ein Ort, der einlädt, der nicht den Anspruch erhebt, alles zu wissen, sondern das Angebot macht, verschiedene Judentümer kennenzulernen - es gibt ja nicht das Judentum, es gibt auch nicht das Christentum -, Judentümer kennenzulernen und für sich, wenn man neugierig geworden ist, zu sagen: An der Stelle möchte ich gern noch mehr hören oder tiefer graben und die Leute - vor allem Schulklassen, aber nicht nur - so einzuladen, dass sie nicht gleich mit einer sogenannten No-no-no-Pädagogik konfrontiert werden, sondern dass sie neugierig gemacht werden, und spielerisch - ausdrücklich - auch viele Teile der Ausstellung sich an tiefer führende Fragen heranwagen.

Timm: Hat denn diese Arbeit, die Sie dort geleistet haben, eine Annäherung ermöglicht, vielleicht zumindest an die junge Generation in Deutschland, dass man da doch etwas unbefangener aufeinander zugeht?

Brocke: Dazu ist meine Zeitperspektive zu kurz. In der kurzen Zeit zwischen Eröffnung 2010 im Rahmen von Kulturhauptstadt und meiner Verrentung Mitte 2011 war der Zustrom enorm, das Echo hervorragend. Aber das ist ein zu kleines Zeitfenster, um wirklich zu wagen, ein Urteil zu fällen. Aber hoffen tue ich es schon sehr.

Timm: Edna Brocke, viele Jahre lang hat sie die Begegnungsstätte der Alten Synagoge in Essen geleitet. Heute lebt sie in Israel und in Deutschland. Frau Brocke, ich bedanke mich sehr herzlich für dieses Gespräch!

Brocke: Danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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