Juden in Argentinien

Von Dirk Fuhrig · 11.02.2011
Jüdisches Leben in Argentinien – das gibt es nicht erst seit der Flucht europäischer Juden vor den Nazis. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte es eine Fluchtwelle aus Russland gegeben. Damals schrieb Alberto Gerchunoff sein bis heute als Klassiker geltendes Buch "Jüdische Gauchos".
Die Pampa, das wild-schöne Patagonien, das "Zweistromland" Entre Rios, gebildet von den Flüssen Parana und Uruguay – wunderbare Landschaften. Was heute kaum noch jemand weiß: Die Weiten Argentinien wurden einmal ernsthaft für die Gründung eines jüdischen Staats in Betracht gezogen:

"Schon in dem Grundtext von Theodor Herzl 'Der jüdische Staat' von 1896 stellt Herzl selbst die Frage: Palästina oder Argentinien? Weil Argentinien bereit war, dieses Land zu verkaufen. Herzl war kein religiöser Jude. Er dachte, dass es nicht unbedingt Israel sein musste. Das war eine lange Diskussion innerhalb der zionistischen Bewegung, die keine religiöse Bewegung war oder nicht nur.."

... sagt Liliana Feierstein, Herausgeberin der deutschen Ausgabe von Alberto Gerchunoffs "Jüdischen Gauchos".

"Die Idee hat sich nicht verwirklicht, denn in der zionistischen Bewegung waren die Religiösen stärker und die wollten unbedingt Israel als Land haben. Wir fragen uns als Argentinier, es wäre schön gewesen, es war mal Patagonien vorgesehen, eigentlich eine verlorene Chance, hat sich nicht verwirklicht."

Das Buch berichtet aus einer Zeit, als erstmals Juden in größerer Zahl auf diesen Kontinent aufbrachen. Ende des 19. Jahrhunderts kaufte der französische Baron Maurice de Hirsch größere Landflächen in Entre Rios für die Juden, die vor den Pogromen in Russland fliehen mussten. Um 1900 lebten rund 10.000 Juden in Argentinien, bis zum Ersten Weltkrieg verzehnfachte sich die Zahl.

Alberto Gerchunoffs Erzählungen sind das erste auf Spanisch geschriebene Buch eines Juden in Südamerika und bis heute der Klassiker der jüdisch-argentinischen Literatur.

"Interessant ist, die Sprache, die Gerchunoff selbst benutz, ist schon alt 1910. Er hat ein Spanisch von Cervantes benutzt. Weil er eben zeigen wollte, dass die Juden in der spanischen Sprache schon länger als die Argentinier zu Hause sind, nämlich aus der Zeit vom Sepharat, also die Zeit, als die Juden in Spanien lebten. Deshalb ist es wunderbar. Es ist eigentlich ein Trick. Er wollte Argentinier werden über dieses geschliffene Alt-Spanisch, das er wirklich sehr gut kann. Besser als in Argentinien geborene Schriftsteller."

"Jüdische Gauchos" wurde 1910 in Buchform veröffentlicht. Alberto Gerchunoff war angesehener Journalist bei der Zeitung "La Nacion" in Buenos Aires und hatte zuvor bereits in regelmäßigen Kolumnen das Leben in der Region skizziert, die ihn als Jugendlichen geprägt hatte. Im Alter von fünf Jahren war er mit seinen Eltern 1889 aus Russland emigriert. Und hatte zunächst in der ländlichen Region Entre Rios gelebt.

"Es ist interessant zu sehen, dass dieser junge Mann in zwei Welten lebt. Er entstammt einem verfolgten Volk, ist jiddisch-sprachig aufgewachsen und lebt als junger Mann unter diesen Gauchos und ist davon völlig begeistert und hingerisssen…"

... sagt Stefan Degenkolbe, der "Jüdische Gauchos" sehr behutsam ins Deutsche übertragen hat.

"Es hat mich häufig beim Übersetzen seine Haltung erinnert, wie ich früher Karl May gelesen habe. Es ist die weite Landschaft, in der es Jaguare und andere exotische Tiere gibt, in der man reiten und Kühe treiben kann. All das zeigt sich, aber doch schon geschrieben von einem Mann, der kein Landei ist und in seiner Begeisterung zum Ausdruck bringen möchte, dass dieses Land eine Heimat für seine jüdischen Mitbürger sein könnte."

Der Gaucho, also die südamerikanische Variante des Cowboys, ist der Mythos der argentinischen Gesellschaft. Die Gaucho-Literatur des 19. Jahrhunderts begründete die literarische Tradition des Landes.

Die Rückkehr der Juden zur Landarbeit, zum bäuerlichen Dasein – eine Idee, die in der Kibbuz-Bewegung in Israel umgesetzt wurde – hätte eine Integration in diesen Nationalmythos Argentiniens bedeuten können. Die jungen argentinischen Juden gingen aber – wie Gerchunoff selbst - lieber in die Städte. Alberto Gerchunoffs Skizzen aus dieser Frühzeit beschwören eine Utopie vom Aufgehen der Juden in der argentinischen Gesellschaft, die sich nur teilweise verwirklicht hat.
"Es gibt verschiedene Argentiniens. Es gibt einen Teil Argentiniens, der mit der Macht sehr stark verbunden, der ist oder war sehr katholisch, antisemitisch, und war überhaupt nicht begeistert von der jüdischen Einwanderung. Es gibt einen anderen Teil: Die meisten sind auch Einwanderer oder Nachkommen der Einwanderer gewesen und solidarisch mit anderen Einwanderern. Man muss sagen, im Vergleich zu anderen Gemeinden in der Welt ist die jüdische Gemeinde Argentiniens ziemlich gut integriert. Wir haben viele Professoren an der Uni. Alles ist möglich. Es gab Antisemitismus wie überall. Aber im alltäglichen Leben war das eine gelungene Integration. Bis 1992 und 1994, da hatten wir zwei Attentate in Buenos Aires, seither ist die Beziehung gespannter geworden."

Mit den aus Deutschland emigrierten Juden und den zahlreichen ebenfalls ausgerechnet nach Argentinien fliehenden Nazi-Verbrechern wurde das Verhältnis zwischen jüdischen Argentiniern und Teilen der Mehrheitsgesellschaft bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs komplizierter.

Alberto Gerchunoff, der in seinen "Jüdischen Gauchos" 1910 noch so vehement Argentinien als geeignetes Land für Juden beschrieben hatte, wurde gegen Ende seine Lebens – er starb 1950 in Buenos Aires - zum vehementen Verfechter des Staates Israel.

"Dieses Buch ist auch die Utopie: freies jüdisches Leben auf dem Kontinent Amerika. Und er hatte immer die Idee, Argentinien ist Zion Wir haben ein Land gefunden, in dem wir frei und glücklich Leben können. Nachdem in Europa die Nazis an die Macht kommen, in Argentinien kommt auch der antisemitische Willen und Diskurse, dann verändert er seine Position und ist auch politisch sehr aktiv gegen den Nationalsozialismus und wird immer mehr zum Zionisten. Er engagiert sich auch in der zionistischen Bewegung und beginnt für den Staat Israel zu schreiben,. Er stirbt 1950 und hat seine letzten Jahre ausschließlich dazu gewidmet, Werbung für Israel zu machen."