Journalisten in der (neuen) Türkei

Verfolgt, verhasst, verklagt

Ganz rechts der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, zweiter von links der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu und der frühere türkische Präsident Abdullah Gul bei der Eröffnungszeremonie von Besiktas neuem Stadium, der Vodafone Arena in Istanbul, im April 2016
Fußballfan Recep Tayyip Erdogan: Er eröffnete im April das neue Besiktas-Stadion in Instanbul - auch hier ließ er es sich nicht nehmen, pressewirksam etwas zu kicken © dpa / picture alliance / EPA/TURKISH PRESIDENT PRESS OFFICE
Von Imke Hansen und Can Mansuroglu · 24.04.2016
Recep Tayyip Erdogan ist geboren und aufgewachsen in Kasimpasa, einem armen und rauen Istanbuler Stadtteil. Fast wäre er Profi-Fussballer geworden, doch er entschied sich für die Politik. Zu Beginn tat er viel für die Unterschicht, doch aus den einst Ausgegrenzten sind die Unterdrücker von heute geworden - und besonders Intellektuelle und Journalisten sind betroffen. Wer Erdogan und seine Poltik verstehen möchte, muss nach Kasimpasa kommen.
Can: "Das ist hier so'n bisschen Greenwich Village, oder?"
Christian Feiland: "Ja das ist hier CHP Hochburg. Kadiköy. Nicht besonders religiös. Voller Bars und alles."
Der Fernsehjournalist Christian Feiland eilt mitsamt Kamera, einem Stativ und einem Rucksack voll Equipment durch die Fußgängerzone. Hipster sitzen hier schon tagsüber mit einem Bier in der Sonne, Pärchen gehen Händchen haltend spazieren. Dicht hinter Christian folgt Producerin Ceyda, die sowohl geschäftlich als auch privat seine Partnerin ist.
"Kadiköy ist eines dieser bekannten Ausgeh-Zentren in Istanbul. So wie Taksim..."
Ceyda und Christian beliefern europäische Fernsehsender. Sie produzieren Nachrichtenbeiträge, liefern Bildmaterial zu und betreuen Drehreisen deutscher Fernsehteams. Im Gegensatz zu den meisten Korrespondenten wechselt Christian aber nicht alle paar Jahre den Standort. Seit 19 Jahren wohnt er in Istanbul. Er hat den Aufstieg des jetzigen Präsidenten Erdogan von Anfang an beobachtet. Istanbul ist seine Heimat. Die seiner Frau und seiner Tochter ebenfalls. Er lebt hier einen Deutsch-Türkischen-Patchwork-Alltag und möchte hier bleiben. Auch wenn sich das gesellschaftliche Klima in der Türkei rapide verschlechtert für Menschen, die nicht an die Politik Erdogans glauben.
Gerade hat RTL angerufen. Wie so oft in letzter Zeit geht es um das Thema Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei. Der Deutsche Botschafter Martin Erdmann wurde zum dritten Mal in einem Monat ins Außenministerium zitiert - diesmal wegen eines satirischen Songs. Christian klärt mit dem RTL Redakteur die Stoßrichtung des Beitrags..."
"Ja genau genau... Dass ein Deutscher Botschafter ja keinen Einfluss auf Extra3 haben kann oder darf... Weil wenn sie ihn einbestellen, heißt das ja sie haben ein anderes Verhältnis dazu... anderes Verständnis..."

"Erdogan schert sich nicht besonders um Menschenrechte"

Christian soll ein Interview mit dem Herausgeber des Satiremagazins "Zaytung" führen. Und es soll in dem Beitrag VoxPops, also eine Umfrage geben.
"Nee, nee... das machen wir jetzt... Aha... VoxPops auch einfach über Satire, oder? ... Manche vielleicht. Ja, ja, wir sind jetzt hier im modernen... so eher Anti-Erdogan-Gegend. Wo auch das Satiremagazin ist, insofern kann man da eher vielleicht kritische O-Töne kriegen und so weiter. Wenn sie sich überhaupt wagen irgendetwas zu sagen."
Christian entdeckt im Vorbeigehen einen Kiosk mit großer Zeitungsauswahl. Darunter auch AKP-kritische Zeitschriften und Magazine. Auf dem Cover der Satirezeitschrift Penguen tobt eine Karikatur Erdogans – und zwar bevor US-Präsident Barack Obama die mangelnde Pressefreiheit überhaupt ansprechen kann.
"Okay, dann Bilder, Zeitungen oder sowas. Oder es gibt hier auch Penguen, das Satiremagazin... Ach. Hier hängt’s gerade vor mir... Die können wir auch abfilmen wenn Du willst. ... Denke ich, ja. ... Dann bis dann, Ciao!"
Christian filmt schnell Magazin-Cover und Titelseiten der aktuellen Zeitungen ab. Der Satire-Song und die Einberufung des deutschen Botschafters haben es scheinbar noch auf keine Titelseite geschafft. Ein Passant bleibt stehen und beobachtet ihn mit skeptischem Blick – aber hier in Kadiköy fühlt sich der Journalist sicher. Ceyda und Christian eilen weiter, um ihre Umfrage zu machen. Es geht eine leicht ansteigende Gasse hinauf zu einem belebten Platz.
"Ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt schon viele Menschen das Video gesehen haben. Ich selbst habe es mir angeschaut und es ist witzig... Aber irgendwie auch nicht, weil es ja eigentlich bloß die Wahrheit ist. Erdogan schert sich nicht besonders um die Pressefreiheit und Menschenrechte. Aber die meisten Fernsehsender sind sowieso pro-Erdogan. Nur ein paar kleine Sender sind kritisch, aber auch die machen sich niemals über ihn lustig. Alle haben Angst."

Vier Jahre Gefängnis für Beleidigung

Es ist nicht so leicht, jemanden für die Umfrage vor die Kamera zu bekommen. Dabei ist das Thema Meinungsfreiheit auch hier in der Türkei hochaktuell. In rund 2.000 Fällen hat Erdogan persönlich Klage wegen Beleidigung eingereicht. Und wer verurteilt wird, dem droht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren. Nach ein paar Minuten überzeugt Ceyda mit professionellem Charme einen jungen Mann. Ob er Unterstützer oder Gegner der AKP Regierung ist - schwer zu sagen. Er ist modern gekleidet, könnte Student sein.
"Daran, wie frei die Presse ist, kann man erkennen, wie frei eine Nation ist. Ein freier Staat muss nichts beschränken. Ich bin mal in Europa gewesen und dort habe ich solche Einschränkungen nie erlebt. Unser Land ist eben in einer schwierigen Situation. Ich glaube, dass es Kräfte gibt, die ihre Spielchen mit der Türkei treiben. Darum gibt es in unserem Land einen anderen Umgang mit Medien."
Kurz darauf interviewen Ceyda und Christian eine Mutter und ihre Tochter. Beide machen sich große Sorgen um die Meinungsfreiheit in der Türkei. Selbst die 14-Jährige fühlt sich gegängelt und in den Sozialen Netzwerken beobachtet. Ceyda ist in Fahrt gekommen. Sie bekommt gleich den nächsten jungen Mann vor die Kamera.
"Über Erdogan darf man keine Witze machen. Es ist ähnlich wie mit den Mohammed Karikaturen... Und dass es hier keine Freiheit gibt, dafür gibt es viele Beispiele. Viele sind deshalb im Gefängnis. Von den ganz großen Fällen - zum Beispiel Can Dündar - bis zu den kleinen. Das kann dann bloß ein Student sein, der ein Poster aufgeklebt hat."
Auch an Christian gehen die Nachrichten von verhafteten Journalisten und Oppositionellen nicht spurlos vorbei. Richtig Angst hat er nicht, immerhin hat er einen deutschen Pass und deutsche Journalisten, die zu unbequem sind, werden meist des Landes verwiesen. Oder sie bekommen einfach keine Presse-Karte mehr. Türkischen Kollegen drohen viel schlimmere Strafen.

"Journalistische Arbeit wird in der Türkei immer schwieriger"

Ein Fall, der weltweit für Aufsehen sorgt, ist der Feldzug Erdogans gegen Can Dündar und Erdem Gül von der regimekritischen Zeitung Cumhuriyet. Sie hatten öffentlich gemacht, dass die Regierung aus machtpolitischen Interessen Waffen an islamistische Gruppen geliefert hatte, um Assad zu stürzen und dann den eigenen Einfluss in der Region zu vergrößern. Jetzt droht ihnen lebenslange Haft. Das Thema bewegt Christian sichtlich. Weil er selbst Journalist ist, aber auch weil die Türkei seine Heimat geworden ist.
"Es sind so viele Gerichtsverfahren, die sehr seltsam sind. Und es gibt auch so viele Sachen die rechtswidrig sind. Zum Beispiel als der oberste Gerichtshof Can Dündar und Gül – also das die nicht mehr in Untersuchungshaft müssen. Da hat ja Erdogan gesagt, er akzeptiert die Entscheidung des obersten Gerichtshofes nicht."
Erdogan nehme eine Menge Kritik in Kauf, um Can Dündar und Erdem Gül mundtot zu machen, meint Christian. Angeblich bezahlt die AKP sogar Parteimitglieder, damit sie in den Sozialen Medien gegen kritische Stimmen und Oppositionelle anschreiben. Christian selbst arbeitet an nicht ganz so brisanten Themen wie Dündar und Gül. Aber auch die ganz alltägliche journalistische Arbeit wird in der Türkei immer schwieriger.
"Ihr braucht vom Gouverneursamt eine Genehmigung, ihr braucht dies, ihr braucht das. Ja, hättest Du jetzt nicht Deine türkische Pressekarte hätten wir euch jetzt alle mitnehmen müssen. Ob's jetzt für ARD Monitor war, da sind wir an vier Tagen an jedem Drehort kontrolliert worden. Auch weggeschickt worden und in einem Fall hieß es sogar‚ wenn ihr nochmal hier dreht gibt es ein Gerichtsverfahren!"
Ausländischen Journalisten wird von Erdogan und seinen Parteifreunden fast immer unterstellt, die Türkei bloß schlechtmachen zu wollen. Dann heißt es sie seien Spione, auf Türkisch "Ajaint". Das bleibt in der Bevölkerung hängen. Auch Christian hat damit zu kämpfen. Erst heute morgen. Kaum 100 Meter aus seinem Büro wurde er als "Ajaint" bezeichnet. Zwar halb im Spaß, aber der Hintergrund ist ernst. Und es passiert immer häufiger.
Christian läuft die Häuserreihe ab. Und bleibt vor einem Alt-Istanbuler Haus stehen. Hausnummer 26. Ein hippes Cafe. Hier soll das Interview mit dem Herausgeber und Karikaturisten stattfinden. Er eilt die wenigen Stufen hinauf. Ceyda hinterher. Sie sind spät dran.
Christan Feiland filmt den Herausgeber der türkischen Satire-Zeitschrift "Zaytung".
Christan Feiland filmt den Herausgeber der türkischen Satire-Zeitschrift "Zaytung“.© Deutschlandradio Kultur / Imke Hansen
Der Karikaturist setzt sich ganz hinten im noch leeren Café an einen Holztisch. Solange Ceyda und Christian die Kamera und das Mikro aufbauen, schreibt er unbeirrbar an einem Artikel weiter. Eine nicht angezündete Zigarette im Mundwinkel. Sein Satiremagazin Zaytung hat fast 2 Millionen Leser.
"You always need to be careful about the legal issues in Turkey. You can be sued for anything, at any time. And anything can be taken as an insult for the government, or for Erdogan..."
Wäre der Gezi Park nicht der Ort, an dem 2013 die wütenden Proteste gegen Erdogan und seine AK-Partei begonnen haben, würde wohl kaum jemand in Europa dessen Namen kennen. Er ist wirklich nicht besonders schön, ein Rechteck mit ein paar Bäumen, ungefähr 100 mal 200 Meter groß. Direkt am berühmten Taksim Platz. Um den Park herum lärmt Istanbuls Verkehr. Zusätzlich liegt das kleine bisschen Grün in der Einflugschneise des Atatürk Airport.
Auf dem Spielplatz tollen ein paar Kinder herum. Von Studenten, Linksintellektuellen, Künstlern und Protestlern wie noch vor drei Jahren: keine Spur. Schon lange nicht mehr.
An die zwanzig kleine Tischchen drängen sich entlang eines betonierten Weges der einmal um den Park herum führt. Cigdem Akyol sitzt auf einem Plastikstuhl und winkt dem Kellner lebhaft zu.
"Bakarmisinis. Chai lütfen!"

Das Phänomen Erdogan ausgewogen darstellen

Die Journalistin und Buchautorin wohnt in unmittelbarer Nähe. Seit zwei Jahren arbeitet sie als freie Korrespondentin in Istanbul und nebenbei hat sie hier ihr zweites Buch geschrieben. Eine politische Biografie über Recep Tayyip Erdogan. Genauer gesagt nicht eine, sondern die Biografie über Erdogan, denn ihre ist die erste deutsche überhaupt. Ihr ist es wichtig, das Phänomen Erdogan ausgewogen darzustellen. Sie möchte Probleme in der Türkei aufzeigen, aber dem deutschen Leser auch erklären warum Erdogan nach wie vor großen Rückhalt hat.
Der Kellner stellt ein Chai-Gläschen auf den Tisch. Cigdem ist alles das, was in der Türkei Schwierigkeiten machen kann: Frau, Kurdin, Journalistin. Dennoch kann sie nachvollziehen, warum eine breite Masse Erdogan gewählt hat, oder ihm sogar zujubelt.
"Er hat der Türkei endlich innenpolitische Stabilität gegeben, es gab nicht diese ganzen Koalitionsregierungen, die nach und nach in aller Regelmäßigkeit zerbrochen sind. Es gab einen Wirtschaftsaufschwung in der Türkei, vergleichbar mit China und Brasilien."
Und Erdogan habe den so genannten "schwarzen Türken" Teilhabe ermöglicht. Er selbst ist einer von ihnen. Religiös. Konservativ. Unterschicht.
Für die "schwarzen Türken" ist der Präsident ein Held. Er hat ihnen einen beispiellosen Aufstieg ermöglicht und neue Freiheiten gebracht. Schließlich ist die alte Türkei ebenfalls ausgrenzend gewesen. Damals haben Eliten, so genannte "weiße Türken", Kemalisten und Militärs insgeheim die Geschicke des Landes gelenkt. Oder zumindest reglementierend eingegriffen, wenn das was sie sahen ihnen nicht gefiel. Die Türkei war eine Schein-Demokratie, in der junge Frauen mit Kopftuch nicht an einer Uni studieren durften. Nach westlichen Maßstäben unvorstellbar. Deshalb haben die westlichen Medien Erdogans Aufstieg in den Anfangsjahren sehr wohlwollend beobachtet - ganz im Gegensatz zu den traditionellen türkischen Medien. Und auch die westliche Politik hat Erdogan unterstützt als er sich anschickte die Türkei zu demokratisieren. Nun aber sind die Ausgegrenzten von damals zu den Unterdrückern von heute geworden.
"Wenn wir in Deutschland immer von der Unfreiheit sprechen, die Erdogan der Türkei gebracht hat, dann ist das nur ein Teil der Geschichte, weil diese Unfreiheit hat er vor allem den Intellektuellen gebracht, also sprich den Journalisten, den Akademikern, die jetzt reihenweise im Gefängnis sitzen weil sie die Regierung kritisiert haben."
Cigdem reicht dem Kellner drei Lira und steht auf. Sie möchte uns den Ort zeigen, an dem sich am 19. März ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt und fünf Menschen mit in den Tod gerissen hat. Mitten auf der Haupteinkaufsstraße Istanbuls, der Istiklal Caddessi. Nike, H&M und Zara haben hier Filialen, dazwischen gibt es unzählige Restaurants und Bars. Nachts tobt hier und in den kleinen Seitenstraßen das Leben. Inklusive Diskotheken, Alkohol, gleichgeschlechtlicher Liebe.
Noch. Denn langsam verändert sich die Gegend, erzählt Cigdem. Mit immer neuen Initiativen wird der vermeintliche Sündenpfuhl Istanbuls ausgetrocknet. Viele liberale Istanbuler gehen mittlerweile lieber woanders aus. Im asiatischen Kadiköy zum Beispiel. Dort, wo auch Ceyda und Christian sich auf die Suche nach kritischen Kommentaren zum Extra3-Song gemacht haben.

Erdogan hat aus den Gezi-Protesten gelernt

Ein einsamer Straßenmusiker hat scheinbar noch nicht mitbekommen, dass die linke Szene langsam von hier abwandert. Er lehnt an einer Wand und singt ein Lied von Verlust. Von Kapitulation. Vom Aufgeben.
Kaum 100 hundert Meter weiter hat jemand "Bu su hitsch durmaz" an die Mauer gesprüht. Das heißt so viel wie "Dieses Wasser könnt ihr nicht stoppen". Über dem Schriftzug kann man gerade noch eine geballte Faust erkennen. Das Graffiti ist ein Überbleibsel aus der Zeit der Gezi-Bewegung. Das H und das C sind kaum noch lesbar. Die gelbe Wand bröckelt langsam ab. Erdogan dagegen sitzt nach wie vor fest im Sattel. Und: Er hat aus Gezi gelernt.
"Letztes Jahr am 1. Mai war die absurde Situation, dass ich mich mit einer Freundin in Cihangir getroffen habe. Wir wollten uns auf einen Kaffee treffen bei uns im Viertel. Konnten wir nicht. Zwischen uns war ein Zaun. Wir haben uns dann durch den Zaun hindurch unterhalten. Total absurd. Können wir uns in Deutschland nicht vorstellen. Aber es ist so ein massives Aufgebot an Sicherheitskräften hier, an Polizisten, um jeglichen Protest zu unterbinden."
Cigdem hat vor der Galatasaray Lisesi halt gemacht, einem berühmten Gymnasium mitten auf der belebten Istiklal. Irgendwo hier habe der Selbstmordanschlag stattgefunden, da ist sie sich sicher. Suchend schaut Cigdem sich um. Zwei Simit-Verkäufer haben sich mit ihren roten Handwagen direkt davor postiert. Müde schauen sie den Passanten beim Flanieren zu.
"War das jetzt hier oder war das weiter da vorne? Sag mal, die haben die Plakate weggenommen!"
Etwas irritiert steuert Cigdem auf einen der Simit-Verkäufer zu. Die Sesamgebäckkringel stapeln sich hinter der Glasscheibe seines Handwagens.
"Wo war denn hier der Anschlag?"
Der alte Mann zeigt in die Richtung aus der Cigdem gekommen ist. Sie bedankt sich mit einem Kopfnicken und läuft die Istiklal wieder zurück. Schräg gegenüber einer kleinen Moschee bleibt sie stehen.
"Ach, schaut mal, hier war das. Die haben das alles abgemacht."
Empört zeigt Cigdem auf ein schmales, mehrstöckiges Haus. Die Fassade ist bis zum Dach mit Spanplatten verdeckt. Rechts ein Laden, links ein Laden. In der Mitte eine ordentlich angebrachte Holzverblendung. Keine Kränze, keine Kerzen. Nichts.
Der Ort des Selbstmordattentats vom 19. März 2016 auf der Istiklal Caddese, der berühmten Einkaufsstraße Istanbuls. Die Blumenkränze und Plakate wurde schon kurz nach dem Anschlägen entfernt.
Der Ort des Selbstmordattentats vom 19. März 2016 auf der Istiklal Caddese, der berühmten Einkaufsstraße Istanbuls. Die Blumenkränze und Plakate wurde schon kurz nach dem Anschlägen entfernt.© Deutschlandradio Kultur / Imke Hansen
"Auf den Schildern stand: 'Wir werden uns dem Terror nicht beugen' oder 'Ich bin Kurde, ich bin hier', 'Ich bin Araber, ich bin hier', 'Ich bin Türke, ich bin hier'. Aber jetzt – zwei Wochen später ist davon nichts mehr sichtbar."
Der Selbstmordanschlag wurde von einem Anhänger der TAK, der Freiheitsfalken Kurdistans, verübt. Der Konflikt mit der PKK gehörte schon fast der Vergangenheit an, nun ist er wieder da. Die Regierung führt Operationen im Südosten des Landes durch. Niemand weiß ganz genau was dort geschieht. Journalisten jedenfalls sind unerwünscht.
"Wie diese Zivilbevölkerung im Südosten des Landes geopfert wird um Macht auszubauen. Das kann einen gar nicht kalt lassen. Journalistische Distanz hin oder her. Natürlich macht das was mit einem. Und es hätte einfach nicht sein müssen. Es war absolut unnötig, diesen Friedensprozess aufzukündigen."
"Lasst uns mal lieber gehen. Wir werden gerade... Also, ich habe einen Presseausweis, deswegen ist alles gut, aber die zeigen gerade auf uns."
Die drei an sich unscheinbaren Herren stehen nicht weit von uns weg. Wir schlendern an ihnen vorbei in eine Seitenstraße. Niemand spricht uns an. Niemand folgt uns. Wie und ob eine Regierung, die sich von allen Seiten angegriffen fühlt wohl auf Cigdems Buch reagieren wird?
"Womit ich rechne ist, dass ein nationalistischer Mob über mich herfallen wird. Das kenne ich auch gelegentlich, wenn Texte veröffentlicht werden, dass man dann Hassmails bekommt von türkischen Nationalisten. Aber auch von Deutsch-Türken. Die nehmen sich da beide nichts. Mails wie Vaterlandverräterin, vatanhayni im Türkischen, oder Aufforderungen, ich solle die Türkei verlassen..."

Das Klima in Kasimpasa ist rau

Kasimpasa liegt nur knapp 15 Minuten vom lebhaften Taksim entfernt und es ist eine der am längsten besiedelten Gegenden Istanbuls. Kasimpasa gab es schon, als Istanbul noch Konstantinopel hieß. In Erdogans Kindheit jedoch war Kasimpasa ein weniger glanzvoller Ort. Viele Hafenarbeiter leben hier. Das Klima ist rau. Hier wuchs Recep Tayyip Erdogan auf, hier geht er zur Schule. Um ihn zu verstehen, zu verstehen wie er heute tickt und handelt, muss man Kasimpasa kennen, sagt Cigdem.
"Ich bin schon 100.000 mal hier langspaziert. Ich wollte einfach Atmosphäre einfangen. Um auch so ein Gefühl dafür zu bekommen, wie war das früher, wie ist das heute, um zu vergleichen. Also einfach Atmosphäre, um zu sehen, aus was für einem Viertel kommt dieser Mann."
Vor Erdogans Aufstieg wurde die Politik fast ausschließlich von der Oberschicht bestimmt. Die verspottete Erdogan, nahm ihn nicht ernst, unterschätze ihn. Doch er hat es allen gezeigt, trotz seiner Herkunft. Erdogan hat den türkischen Traum erfunden. Vom Simit-Verkäufer zum Staatspräsidenten.
"Er inszeniert sich selbst ja auch immer als derjenige, der von ganz unten kommt. Der, wie er selbst sagt, im Schlamm geformt wurde als Kind. Die überhaupt gar keinen Beton kannten. Das ist natürlich auch Teil seiner eigenen Legendenbildung."
Vor allem zu Beginn seiner Karriere tut Erdogan viel für die Unterschicht. Baut Autobahnen bis ins tiefste Anatolien, lässt die einfache Bevölkerung am Fortschritt teilhaben. Besonders in Kasimpasa, in seinem Viertel, verbessert er viel.
"Das sind die Wege die auch Erdogan früher langelaufen ist. Nur war damals nichts gepflastert. Das hat er gemacht. Es gibt hier vorne einen Marktplatz, so ein Platz, wo sich dann die Menschen hier aus Kasimpasa treffen. Hier vorne unten. Das hat er dann alles als Bürgermeister dahin bauen lassen. Er hat auch dafür gesorgt, dass eine Müllabfuhr hier hinkommt, dass Leitungen gelegt werden, ..."

Fußball ist Teil der Inszenierung des Präsidenten

Die Straßen werden enger. Nur eine Fahrspur. Mehr als ein Auto passt hier nicht durch. Ein Krankenwagen rast an uns vorbei, biegt nach rechts ab und quält sich die enge, steile Gasse hinauf. Wenigstens ist sie gepflastert. Ein paar Jungs stehen auf dem Bürgersteig und schauen zu. Der kleinste von ihnen hat einen dreckigen Fußball unter dem Arm. Sobald der Krankenwagen außer Sichtweite ist, springen sie wieder auf die Straße und spielen weiter.
"Erdogan ist ja begeisterter Fußballer. Er war ja auch früher kurz davor eine Karriere als Profi-Fußballer anzustreben. Aber sein Vater wollte nicht, dass er Profi-Fußballer wird."
Dennoch ist Fußball ein Teil der großen Inszenierung des Präsidenten. Bei PR-Terminen kickt er gerne mal. Und er ist immer noch ziemlich gut darin. Die Fußball-verliebten Türken mögen das. Ihm zu Ehren wurde das Fußballstadion in Kasimpasa herausgeputzt und umbenannt. Jetzt heißt es Recep Tayyip Erdogan Stadion.
Gemeinsam mit dem 18-Jährigen Bülent füllt Kemal Büyüktelli die Kühlschränke mit Getränken auf. Kemal hat einen wachen Blick, immer einen Spruch parat. Sein Schnurrbart lenkt ein wenig davon ab, dass er nur einen einzigen Zahn im Mund hat - dabei ist er kaum über 40 Jahre alt. Kemal ist so was wie der Geschäftsführer des kleinen Kiosks. Der eigentliche Besitzer schaut fast jeden Tag vorbei - was kaum nötig wäre. Denn Kemal schmeißt den Laden so gewissenhaft als wäre es sein eigener. Alles ist blitzeblank sauber und wenn Kemal Waren von Marken wie Ülker oder Sütas anpreist, dann tut er das so überzeugend, dass man meinen könnte er hätte sie selbst produziert.
"Hemen tost yapacagim, sen birtane cay ic!"
Gerade ist einer der Verkäufer aus den benachbarten Geschäften vorbei gekommen. Bei Kemal werden nämlich nicht bloß abgepackte Waren verkauft, sondern auch Tee und von Kemal frisch zubereitete Snacks, zum Beispiel KariSik Tost. Wer einen Tee trinkt wird von Kemal auch gleich mit Infos versorgt. Wo ist in der Straße nachts eingebrochen worden? Welcher Nachbar wirft seinen Müll immer einfach auf die Straße und lockt so Ungeziefer an? Kemal weiß es. Und bei ihm im Laden läuft den ganzen Tag der Fernseher, meistens Nachrichten-Sendungen. Mal mit, mal ohne Ton. Wer keine Zeit hat selbst herauszufinden, was in der Türkei so los ist, der erfährt es dann eben bei Kemal.
"Die Regierung hat sich vorgenommen den PKK-Terror im Osten des Landes zu beenden und führt da deshalb viele Operationen durch. Die PKK wollte ja den Friedensprozess der Regierung nicht mitgehen. Sie haben die guten Absichten der Regierung ins Schlechte verdreht. Dann hatte die Regierung wohl die Nase voll, also hat sie sich letztendlich dazu entschieden, die PKK auszumerzen. Das wird nun inschallah endgültig ein Ende haben."
Dass die Aufkündigung des Friedensprozesses seitens der PKK vielleicht auch nur eine bequeme Ausrede für die türkische Regierung sein könnte, auf diese Idee kommt Kemal nicht. Er vertraut vielmehr den Reportern und Moderatoren der Nachrichtensendungen. Und die sagen alle das Gleiche. Kein Wunder, denn fast alle größeren Medienunternehmen in der Türkei sind mittlerweile auf Linie gebracht. Fast 90 Prozent der größeren Fernsehsender gehören regimetreuen Unternehmern, oder gar dem erweiterten Bekannten- oder Verwandtenkreis Erdogans.
Kemal in seinem Kiosk in der Nähe des Taksim Platzes. 
Kemal in seinem Kiosk in der Nähe des Taksim Platzes. © Deutschlandradio Kultur / Imke Hansen
Eine echte Bedrohung für den Rückhalt des Präsidenten könnte dagegen sein, wenn auf längere Sicht die Touristen ausbleiben. Auch die Geschäftsleute in Kemals Gegend leben vor allem von den Ausländern. Eigentlich müsste auch er sich Sorgen um seinen Job machen. Kemal aber ist ganz ruhig. Denn in den Nachrichten heißt es: Alles bleibt gut.
"Trotz der Anschläge vertrauen die Ausländer der türkischen Regierung und kommen wieder. Wenn das, was hier passiert ist, sich in einem anderen großen Land ereignet hätte, würde mit Sicherheit kein Tourist mehr dort hinfahren. Aber alle Ausländer vertrauen der Türkei. Deshalb kommen sie weiterhin hier her, möchte ich sagen."
Kemal macht dennoch kein zufriedenes Gesicht. Er scheint zu wittern, dass die Art und Weise, wie Erdogan gerade Politik betreibt und die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Tourismus nicht wirklich hilfreich für die Stimmung im Land sind. Die Schuldigen aber sind längst ausgemacht:
"Seit den Gezi-Protesten hat sich hier alles sehr verändert. Natürlich haben die Demonstrationen dem Tourismus sehr geschadet. Damals sind sehr viele Touristen der Gegend ferngeblieben."

Eine Regierung aus gottesfürchtigen Menschen?

Ihn aber bringt nichts so schnell aus der Ruhe. Was soll schon schief gehen, wenn die Regierung aus gottesfürchtigen Menschen besteht? Und die, da ist er sich absolut sicher, würden niemals etwas Schlechtes planen.
Cigdem: "Wir sind fast da, irgendwo hier ist diese Schule. Hier irgendwo rechts hat er gesagt. Ich frag gleich nochmal nach sicherheitshalber."
Cigdem will uns noch eine letzte Station aus der Vergangenheit des Präsidenten zeigen. Denn wer Erdogans Vergangenheit versteht, lernt viel über den jetzigen Staatslenker. Über seinen politischen Stil. Darüber wie er mit Gegnern umgeht.
"Tatsächlich ist Kasimpasa auch dafür bekannt gewesen, dass es hier sehr rau zugegangen ist und das nur derjenige überlebt, der am flinksten ist oder halt am schnellsten zuschlagen kann. Also Kasimpasa war auch lange Zeit dafür bekannt für seine Raubeinigkeit und für seine Unsicherheit."
Die Straße öffnet sich zu einem kleinen Platz. Farbenfroh und modern sieht die Imam-Hatip-Schule aus, die Erdogan als Kind besucht hat. Davor stehen ein paar Frauen mit streng gebundenem Kopftuch um ihre Kinder abzuholen. Ursprünglich als Schule zur Ausbildung von islamischen Predigern gedacht, wurden in den letzten Jahren immer mehr staatliche, säkular ausgerichtete Schulen in Imam-Hatip-Schulen umgewandelt. Hier steht die Religion an erster Stelle. Naturwissenschaften und andere Fächer müssen sich gegebenenfalls anpassen, wenn sie im Widerspruch zur Glaubenslehre stehen.
"Hier ist Erdogan früher zur Schule gegangen. Was gibt es für ein besseres Bild für Erdogans Werdegang als hier."
Denn seit seiner Schulzeit hat sich die Türkei verändert, ist immer konservativer geworden. In den letzten Jahren jedoch sei Erdogan offensichtlich immer weniger Islamist, als viel mehr ein machthungriger Opportunist, meint Cigdem.
"Seine Agenda heißt Erdogan. Seine Agenda heißt nicht Islam, seine Agenda heißt nicht sunnitischer Islam, seine Agenda heißt Erdogan. Er ist kein Islamist. Er war mal ein Islamist, dass lässt sich klar belegen. Er hat aber verstehen müssen, dass er mit Islamismus keine Stimmen in der kemalistischen Türkei gewinnen kann. Und er hat sich deshalb wie ein Chamäleon immer der Situation angepasst. Dieser Mann ist gefährlich."
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