Jonathan Franzen: "Crossroads"

Eine schrecklich fromme Familie

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Buchcover: "Crossroads" von Jonathan Franzen
Die Hildebrandts in Jonathan Franzens "Crossroads" schwanken zwischen Reue, Selbstmitleid und Selbstverachtung. © Deutschlandradio / Rowohlt Verlag
Von Sigrid Löffler · 09.10.2021
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Die Hildebrandts sind so sittlich, selbst über das noch so triviale Dilemma zerbricht man sich hier den Kopf. Dabei ist Jonathan Franzens Trilogie-Auftakt „Crossroads“ über die evangelische Pfarrer-Familie sein moralisches Geächze nicht wert.
Der amerikanische Erzähler Jonathan Franzen ist ein Meister des Familienromans. Seit seinem Weltbestseller "Die Korrekturen" (2001) gilt er als fast schon altmeisterlicher Virtuose des psychologisch-realistischen Romans. Seine soeben erschienene jüngste Familien-Saga "Crossroads" ist der erste Band einer geplanten Trilogie, die das Leben der Familie Hildebrandt aus Illinois über ein halbes Jahrhundert von den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart begleiten soll.

Auch "Crossroads" ist ein ausladender Großroman, der seine Spannung aus dem Gegensatz zwischen seinem Breitwandformat und der provinziellen Enge und Beschränktheit des beschriebenen Milieus bezieht.

Verschiedene Blickwinkel der Familie Hildebrandt

Der Roman spielt Anfang der 1970er-Jahre in der evangelischen Pfarrgemeinde eines weißen Vororts von Chicago. Nebenfiguren spielen nur eine untergeordnete Rolle und gewinnen kaum Kontur. Franzen konzentriert sich über mehr als 800 Seiten hinweg einzig auf seine Protagonisten – den Pfarrer Russ Hildebrandt, dessen Ehefrau Marion und deren vier heranwachsende Kinder. Die aufbrechenden multiplen Familienkrisen werden multiperspektivisch erzählt, abwechselnd aus dem Blickwinkel jedes einzelnen Familienmitglieds, mit Ausnahme des jüngsten Kindes.
Der Kleine darf friedlich spielen, während die Älteren sich und einander mit ihren Sündenfällen, Schuldgefühlen und Glaubenszweifeln peinigen, denn unter dem Einfluss des Bösen begehen sie unentwegt Verrat aneinander.

Doppelbedeutung der titelgebenden Crossroads

Worum es geht, das verrät schon die Doppelbedeutung des Romantitels. Crossroads nennt sich die kirchliche Jugendgruppe, die von einem charismatischen Jugendpfarrer mit Zügen eines Sektenführers wie ein gruppendynamisches Selbsterkundungsseminar geleitet wird. Die Jugendlichen haben den salbungsvollen Pfarrer Hildebrandt hinausgemobbt und damit schwer gedemütigt.
Zugleich befinden sich auch die Hildebrandts jeder für sich an Crossroads, an einem Scheideweg. Ihr Problem: Jede ihrer moralischen Entscheidungen, welche auch immer, muss andere Familienmitglieder notwendigerweise verletzen.

Irgendjemand ist immer gekränkt

Den Vater kränkt es, dass seine Kinder ihn als Heuchler verachten und seinen Gottesdienst meiden, sehr wohl aber bei der Jugendgruppe seines Rivalen mittun. Seine Frau Marion – die weitaus interessanteste, weil zerrissenste Figur des Romans – kränkt es, dass ihr Mann unter dem scheinheiligen Mantel des Seelsorgers eine lustige junge Witwe aus seiner Gemeinde erotisch verfolgt.
Der älteste Sohn leidet, weil sein Entschluss, das Studium zu schmeißen und sich freiwillig zum Militärdienst nach Vietnam zu verpflichten, seinen pazifistischen Vater kränken muss. Und der begabte, aber labile zweite Sohn muss seine Drogensucht geheim halten, um die Familie nicht zu kränken, was zur finalen Katastrophe im Roman führt.

Scham über eigene Sünden

Was alle Hildebrandts miteinander verbindet, ist ein tiefes Gefühl von Scham über die eigene Sündhaftigkeit und das eigene Liebäugeln mit Satan. Sie schwanken zwischen Reue, Selbstmitleid und Selbstverachtung. Auffällig ist das Missverhältnis zwischen dem Nachdruck, den Franzen auf ihre verklemmten Glaubens- und Moralkrisen legt, und deren meist marzipanhaft banale Geringfügigkeit.
Ob die Tochter Becky eine Gelderbschaft mit ihren Brüdern teilen soll oder nicht, ob sie einem anderen Mädchen den Freund ausspannen darf oder nicht, ob sie mit diesem vorehelichen Sex haben darf oder nicht: Franzen investiert hier viel frömmelnde Spitzfindigkeit in letztlich triviale Dilemmas, die so viel moralisches Geächze gar nicht wert sind.
Solche Einwände können dem Erfolg dieses Romans nicht schaden. Als Autor ist Jonathan Franzen längst "too big to fail". Ein Automatismus weltweiter Jubelkritiken ist ihm garantiert.

Jonathan Franzen: "Crossroads"
Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021
826 Seiten, 28 Euro

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