Jon McGregor: "Speicher 13"

Die kollektive Psyche eines Dorfs in Derbyshire

Buchcover "Speicher 13" von Jon McGregor, im Hintergrund ein Dorf in England
Buchcover "Speicher 13" von Jon McGregor, im Hintergrund ein Dorf in England © Liebeskind Verlag / imago / Joana Kruse
Von Stefan Mesch · 05.02.2018
Ein flirrender Montageroman, der den Spuren von Eigenbrötlern folgt: In einem Dorf, in dem eine 13-Jährige verschwunden ist. "Speicher 13" ist das Meisterwerk des Briten Jon McGregor, urteilt unser Rezensent - man muss es nur über die ersten recht nervigen hundert Seiten schaffen.
Seit 2005 setzt der Münchner Verlag Liebeskind besonders auf anspruchsvolle, literarische Spannung: "country noir" voller Naturszenen, etwa von Daniell Woodrell, und britische Krimis mit nüchtern soziologischem Blick, zum Beispiel von David Peace. Und jetzt: "Speicher 13" von Jon McGregor. Natur und Dorf, Sprachkunst, Verbrechen, Atmosphäre: Ein blendend düsteres literarisches Puzzlespiel?

Zeigen, wie sich Menschen verändern

In einem namenlosen Dorf in Derbyshire verschwindet die dreizehnjährige Rebecca, die hier mit ihren Eltern Urlaub macht, auf einer Wanderung durch das Moor. Mutter und Vater bleiben zwar noch lange in der Ferienwohnung – doch McGregor macht sie schnell zu Randfiguren: Auswärtige und Touristen, denen man im Dorf nicht viel zu sagen weiß.
Auch die Ermittlungen treten bald in den Hintergrund: "Ich wollte kein Buch schreiben, das einlädt, mitzuraten, Indizien zu sammeln, die Auflösung zu erwarten", warnt McGregor. "Sondern zeigen, wie sich Menschen verändern, während einfach keine Antwort kommt." Menschen, das sind hier über fünfzig stolze Provinzler, distanziert und unromantisch beobachtet. Über dreizehn lange Jahre hinweg, auf 350 Seiten.
"Speicher 13" ist ein flirrender Montageroman, der dem Spuren dieser Eigenbrötlern folgt – in schnellen Schnitten und meist ohne Kontext oder Exposition. Im selben Absatz erfriert ein Schaf, ein Schuppen wird gestrichen, eine Gemeinderatssitzung abgesagt und das Herz einer Rentnerin gebrochen, in jeweils zwei, drei Sätzen: kalt, knapp.
Und genau durch diese Kürze elegisch: Was der Fuchs frisst oder gerade in der Gartenparzelle blüht, wird in der selben Sprache protokolliert wie sexuelle Gewalt oder ein Flirt unter Nachbarn.

McGregors Meisterwerk

Dieser Blick von schwindelnd weit oben hat Tradition in Großbritannien – mit Dorf-trifft-Natur-Meisterwerken wie John Cowper Powys' "Glastonbury Romance" und Graham Swifts "Wasserland". Schreibschuldozent Jon McGregor debütierte mit 26 und war seit 2002 drei Mal für den Booker Prize nominiert. "Speicher 13" ist sein Meisterwerk. Aber: Man muss es über die ersten einhundert, ziemlich nervigen Seiten schaffen: Die kollektive Psyche eines Dorfs in Langzeitbelichtung, erzählt in oft prätenziös knappen Snapshots, Momentaufnahnmen? Es kostet Kraft, Geduld, Vertrauen, durch eine Textfläche zu waten, in der pro Seite vierzehn Fragen angeschnitten, sofort wieder verworfen werden.
Aber es lohnt sich, denn "Speicher 13" ist ein ausgesprochen ungewöhnlicher Roman. Prosa stellt oft Figuren vor, denen spät etwas widerfährt, das sie verändert. McGregor hat eine faszinierend andere Versuchsanordung: große und kleine, präzis beobachtete Momente hageln hier auf Personen, die wir kaum greifen können, sollen. Wichtig ist, was passiert. Nie, wem genau.
Alles dreht sich weiter: zyklisch, Jahr um Jahr. Jeder steht neben jedem. Bruchstücke, Einzelteile laden sich gegenseitig mit Bedeutungen auf: "Das Knattern eines vorüberfliegenden Hubschraubers war nach wie vor nicht allein das Geräusch eines Hubschraubers, sondern alles, was die Geräusche in jener Nacht bedeutet hatten." Ein Buch, das bleibt.

Jon McGregor: "Speicher 13"
Aus dem britischen Englisch von Anke Caroline Burger
Liebeskind Verlag, München 2018
352 Seiten, 22 Euro

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