Joan Didion: "Sentimentale Reisen"

Gestochen scharfe Analysen der US-Gesellschaft

Unterstützer von Hillary Clinton warten auf das Wahlergebnis in New York.
In ihren preisgekrönten Essays und Reportagen fühlt Didion ihrem Land den Puls © AFP / Kena Betancur
Von Bettina Baltschev · 10.12.2016
Klug und unheimlich präzise analysiert die Journalistin Joan Didion in ihren literarischen Essays das Alltagsleben und die politische Landschaft der USA. Die Texte aus vergangenen Jahrzehnten beeindrucken wegen ihrer Aktualität und Weitsicht.
Äußerlich wirkt diese Frau zart, fast zerbrechlich und auf allen Fotografien, die von ihr kursieren, liegt in ihrem Blick eine gewisse Melancholie. Liest man aber die Texte von Joan Didion, so lernt man eine sehr bestimmte Frau kennen, klug, stark, eigen. Und auch wenn sich die Sammlung der Essays, die gerade erschienen ist, "Sentimentale Reisen" nennt: Wirklich sentimental ist hier gar nichts. Der Text, auf den sich der Titel bezieht, führt uns in das New York der 1980er-Jahre. Joan Didion rollt einen prominenten Kriminalfall auf, bei dem im Central Park eine junge weiße Frau von mehreren farbigen Jugendlichen überfallen worden sein soll. Anhand dieses Falls beschreibt sie eindrucksvoll, wie die Legendenbildung von den vermeintlich guten Weißen und den vermeintlich bösen Farbigen extreme Züge annimmt. Das Opfer wird in der Berichterstattung der Zeitungen immer schöner und reiner, die Täter werden immer unmenschlicher und die Politiker fangen an, den Fall für sich instrumentalisieren. Sie versprechen, New York wieder zu der großartigen Stadt zu machen, die sie vermutlich nie gewesen ist. Also ungefähr so, wie Donald Trump gerade vorhat, ganz Amerika zu regieren.
"Die beharrliche Sentimentalisierung von Erfahrungen, also die Ermutigung, sich auf derlei Dinge zu verlassen, ist in New York nicht neu. Eine Präferenz für den dicken Strich, die Verzerrung und Nivellierung von Menschen und die Reduzierung von Ereignissen auf eine Legende ist bereits seit gut hundert Jahren ein Kern dessen, wie die Stadt sich darstellt: Lady Liberty, dichtgedrängte Massen, Konfettiparaden, Helden, Gossen, helle Lichter, gebrochene Herzen, acht Millionen Storys in der nackten Stadt; acht Millionen Storys, und alle gleich, alle dazu angelegt, nicht die tatsächlichen Rassen- und Klassenspannungen der Stadt zu überdecken, sondern, was noch schwerwiegender ist, auch die Arrangements von Stadtverwaltung und Geschäftswelt, die diese Spannungen unversöhnlich gemacht haben."

Das geistige Klima in den USA präzise eingefangen

Seit Jahrzehnten fühlt diese Frau, die gerade eben 82 geworden ist, in preisgekrönten Essays und Reportagen ihrem Land den Puls und fängt dabei sehr präzise das geistige Klima in den USA ein. Joan Didion gilt längst als Ikone des "literary journalism" und befindet sich damit in bester Gesellschaft von zum Beispiel Truman Capote oder Norman Mailer. Dabei verbindet Joan Didion häufig die großen gesellschaftlichen Themen mit sehr persönlichen Geschichten, zum Beispiel in der Reportage "Pazifische Entfernungen". Sie beginnt mit einer Betrachtung übers Autofahren in Los Angeles, erwähnt eine junge Mutter, die sich in einem Auto umbringt. Das ruft Erinnerungen an ihre Studentenzeit in Berkeley wach und an eine Rede, die sie 1979 in der Schule ihrer Tochter gehalten hat – beziehungsweise hätte halten wollen. Es wäre wohl eine Grundsatzrede geworden.

Nie sollten wir eine Wegbezeichnung für das Leben erwarten

"An diesem Tag in der Schule meiner Tochter wollte ich wohl eigentlich sagen, dass wir nie an den Punkt gelangen, wo unser Leben wie eine klar gekennzeichnete offene Straße vor uns liegt; nie haben wir eine Wegbezeichnung für die kommenden Jahre, nie sollten wir eine erwarten, und wir werden auch nie jene Kreise schließen, die wir mit dreizehn oder vierzehn oder mit neunzehn offenbar so unbedingt geschlossen sehen wollten."
Cover - Joan Didion: "Sentimentale Reisen"
Cover - Joan Didion: "Sentimentale Reisen" © Ullstein Verlag
Diese nachdenklichen Passagen erinnern an Joan Didions wohl bekanntestes Buch "Das Jahr magischen Denkens" über die Trauer um ihren verstorbenen Mann, den Schriftsteller John Gregory Dunne. Ihre glasklaren Beobachtungen der politischen Landschaft beeindrucken dagegen vor allem wegen ihrer Aktualität und Weitsicht. Joan Didion schreibt über die US-Präsidenten der 1980er- und 1990er-Jahre, über Reagan, Bush, Clinton – und nach der Wahl von Donald Trump liest man diese Storys mit geschärftem Blick. So handelt der Essay "Den Hauptgewinn im Blick" von einem Parteitag der Demokraten im Juli 1992. Bill Clinton ist gerade zum Präsidentschaftskandidaten gekürt und der Hauptgewinn, das ist natürlich der Präsidentenposten.
"Bei aller verständlichen Sehnsucht nach 'Veränderung' in der Art und Weise, wie dieses Land regiert wird, sollten wir vielleicht innehalten und darüber nachdenken, was da eigentlich verändert werden soll und von wem und für wen. Während jener vier Tage im New Yorker Madison Square Garden vom 13. bis zum Abend des 16. Juli 1992, als es traditionsgemäß Luftballons auf den gekürten Präsidentschaftskandidaten regnete, während jener vier Tage also, in denen der Parteitag der Demokraten sein nunmehr eindeutiges 'Bekenntnis zur Mitte' ablegte, durfte jedenfalls in der Primetime kein Wort über die verloren werden, die einst die Kernwählerschaft ausgemacht hatten, und genauso wenig über das, was einst die stillschweigende Rolle dieser Partei gewesen war: die Eingliederung von Immigranten und die Durchsetzung der bürgerlichen Rechte für die wirtschaftlich Rechtlosen oder das, was man früher die 'Vereinnahmung' der Unzufriedenheit nannte."
Der Rest des Textes handelt von Lobbyisten, Nichtwählern und Wahltaktiken, in denen es nicht mehr um Wahlziele sondern nur noch um Personen geht. Wenn man das gelesen hat, fragt man sich wirklich, warum die Clintons, warum die Demokraten in 24 Jahren nicht ihre Lektion gelernt haben. Und so hat man nach der Lektüre von "Sentimentale Reisen" zwar wieder einige Illusionen über die USA verloren, allerdings wüsste man auch wirklich zu gern, was Joan Didion zu Trumps Wahlsieg zu sagen hätte.

Joan Didion: Sentimentale Reisen
Ullstein Verlag, Berlin 2016
336 Seiten, 22 Euro

Mehr zum Thema