Joachim Gauck: "Toleranz – einfach schwer"

Einblick in das Weltbild eines liberalen Konservativen

06:27 Minuten
Joachim Gauck: Toleranz - einfach schwer
Joachim Gaucks Buch sei ein Versuch, "Folgerungen für fast alle großen Fragen unserer Zeit zu ziehen", meint die Rezensentin Gudula Geuther. © Herder
Von Gudula Geuther  · 13.07.2019
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Ein wenig überladen von den Themen, doch eine lohnende Lektüre: In "Toleranz – einfach schwer" wirbt Ex-Bundespräsident Joachim Gauck für ein Verständnis für Konservative. Neben wertvollen Denkanstößen finden sich aber auch ärgerliche Ungenauigkeiten.
Das neueste Buch von Altbundespräsident Joachim Gauck führte bereits zu Kontroversen, als es noch kaum jemand gelesen hatte. Anlass war ein Interview im "Spiegel". Er "werbe (…) für eine erweiterte Toleranz in Richtung rechts", hatte er da gesagt. Man müsse zwischen rechts im Sinne von konservativ einerseits und rechtsradikal andererseits unterscheiden. Anders als in einer CDU/CSU von Dregger und Strauß seien viele in der neuen CDU heimatlos geworden. Kritiker warfen ihm daraufhin unter anderem bewusste Vieldeutigkeit vor, um den Diskurs nach rechts zu verschieben.
Das Buch selbst belegt so eine Absicht nicht – schon weil darin von der CDU nicht groß die Rede ist. Wohl aber wirbt Joachim Gauck für ein Verständnis für Konservative: eben für Toleranz. Dafür bemüht er sich zuerst, die Rolle von Toleranz in der Gesellschaft herzuleiten. Es ist gerade dieser erste Teil des Buches, der wertvolle Denkanstöße gibt, auch im historischen Abriss. Aus Notwendigkeit, die Religionskriege zu beenden, folgt zuerst ein staatlich akzeptiertes Nebeneinander, dann ein Schutz der Minderheiten durch den Staat, schließlich auch die – oft mit Staatsmacht durchgesetzte – Verpflichtung des Einzelnen, Toleranz zu üben.

Die Grenzen der Toleranz

Gauck beschreibt nicht nur graue Vorzeit, sondern macht deutlich, warum nach dem Attentat auf "Charlie Hebdo" in Frankreich wieder Voltaires Texte auf die Bestsellerlisten kletterten. Oder wie schon unterschiedliche Geister wie John Stuart Mill, Immanuel Kant und Johann Wolfgang von Goethe um die Unterscheidung von bloßer gewährender Toleranz, die durchaus Verachtung in sich tragen kann, und Toleranz als Anerkennung rangen. Schon da zeigt sich abstrakt, dass es viele Arten der Toleranz gibt – Duldung, Koexistenz, Respekt, Liebe – und dass es auch um die Grenzen der Toleranz gehen muss.
Deutlicher wird das im vielleicht stärksten Teil des Buches, in dem Gauck in unsere und vor allem seine eigene jüngste Vergangenheit blickt. Er beschreibt recht persönlich die Herausforderungen für den in der eingehegteren DDR-Gesellschaft Geprägten, der sich mehr Toleranz gewünscht hatte – auch weil Gauck flugs in einem weiten Verständnis des Begriffs der Toleranz sogar Stasi-Denunziationen durch den Nachbarn zum Ausdruck der Intoleranz erklärt. Gleichzeitig aber sieht sich mancher nach den DDR-Erfahrungen überfordert durch die eingeforderte Toleranz gegenüber bisher Fremdem: anderen Kulturen, offen gelebten Sexualitäten auch jenseits der Norm.
Gauck verteidigt das Fremdeln nicht, er wirbt um Verständnis, wenn man so will, um Toleranz. Das gilt erst recht für die Menschen, denen er sich selbst nicht zugehörig fühlt, die aber der frühere protestantische Pfarrer aus dem gesellschaftlichen Konsens nicht ausgeschlossen sehen will: Menschen, denen Sicherheit und gesellschaftliche Konformität wichtiger sind als Freiheit, Offenheit und Pluralität. Gauck zitiert Studien, wonach solche Einstellungen nicht ohne weiteres veränderbar seien – vor allem nicht in Zeiten, die als bedrohlich wahrgenommen werden. Anders als im umstrittenen Interview gerinnt dieser Appell zur Toleranz auch nicht direkt zum Aufruf an die CDU, ihr Programm in diese Richtung zu verschieben.
Was aber folgt aus alledem? Für den Autor Gauck folgt daraus der größte Teil des Buches, und der ist nicht durchweg gelungen. Das liegt daran, dass Gauck versucht, Folgerungen für fast alle großen Fragen unserer Zeit zu ziehen. Teilweise ergibt sich daraus ein Bild. Wenn Gauck etwa scharfe Grenzen zieht, wo die Toleranz zu enden hat: Immer dann, wenn die Menschenwürde verletzt ist und damit spätestens beim Rechtsextremismus, aber ebenso beim Linksextremismus und beim radikalen Islamismus. Hier verlangt der streitbare Redner Gauck eine kämpferische Toleranz und Mut zur Intoleranz.

Stellenweise fehlen Gauck die Argumente

Ein Bild ergibt sich auch, wenn Joachim Gauck auszuloten versucht, wo politische Korrektheit zum Problem werde. Er warnt vor einer Identitätspolitik – in Genderfragen ebenso wie in ethnischen oder kulturellen – die den Blick auf das Individuum verstellen kann und die Gesellschaft fragmentiert. Er beantwortet aber auch, für den Leser fast im Vorbeigehen, Zweifelsfragen: dass der Mohrenkuss heute anders benannt wird, sei in Ordnung, Diskussionen um die Mohrenstraße gingen zu weit. Die Frage des Kopftuchs sei differenziert zu betrachten, aber bis 14-Jährige sollten es doch eher nicht tragen. An solchen Stellen wünscht man sich weniger Themenbreite und dafür mehr Argument.
Das gilt auch in der besondere Sorgfalt verlangenden Auseinandersetzung über die Zuwanderung ab 2015. Wenn Gauck, der immerhin damals Bundespräsident war, heute noch den falschen Begriff der "Grenzöffnung" verwendet oder ohne weiteres das umstrittene Gutachten des früheren Verfassungsrichters Udo Di Fabio für die Bayerische Staatsregierung zum Beleg wählt – und das auch noch zitiert nach Ausschnitten einer Tageszeitung –, ist das ärgerlich.
So ist dieser Teil des Buches vor allem interessant für die, die das Weltbild Joachim Gaucks näher kennenlernen wollen, das Bild eines liberalen Konservativen, in dem sich sicherlich auch viele wiederfinden werden. Insgesamt aber lohnt die Lektüre auch für den, der sich allgemein mehr Gedanken darüber machen will, welche Toleranz eine Gesellschaft braucht.

Joachim Gauck: "Toleranz – einfach schwer"
Herder Verlag, Freiburg 2019
224 Seiten, 22 Euro

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