Jiddische Bilder- und Familienodyssee

24.11.2006
Der zweite Roman der jungen Amerikanerin ist ein berstendes Panoptikum aus Traum- und Wirklichkeitswelt: aus Tragik, Legende, Liebe, Verrat und Barbarei, eine russisch-jüdische Familiengeschichte und New Yorker Gegenwart. Gelassenes Erzählen ist nicht Sache der Autorin. Und nicht immer hat sie die Geduld, ihre kunstvoll verschlungenen Erzählfäden wieder zu entwirren.
Dara Horn ist eine junge Amerikanerin aus New York, 1977 geboren, die in Harvard hebräische und jiddische Literatur studierte und schon mit ihrem ersten Roman "Ausgelöscht sei der Tag" viel gerühmt und preisgekrönt wurde. Nun liegt ihr zweiter Roman vor: "Die kommende Welt." Ein berstendes Panoptikum aus Traum- und Wirklichkeitswelt, aus Tragik, Legende, Liebe, Verrat und Barbarei, eine russisch-jüdische Familiengeschichte und New Yorker Gegenwart.

Im Jahre 1920 malt ein kleiner jüdischer Junge, einziger Überlebender eines Pogroms - in einem russischen Waisenhaus sein Trauma –die ermordete, schwangere Mutter - und beeindruckt seinen Kunst-Lehrer so sehr mit dem Blatt, dass der ihn bittet, es behalten zu dürfen. Der Junge ist gewitzt. Man gibt nichts, ohne etwas zu bekommen dafür. Er schlägt einen Tausch vor. Und darf sich ein Bild aussuchen, das sein Lehrer malte - und der hiess Marc Chagall.

Und da auch gerade der "Nister" im Atelier des Malers sitzt, der berühmte jiddische Dichter Kahanowitsch, steckt der schnell eine kleine Geschichte in den Keilrahmen und schenkt sie dem Knaben dazu.

Dieser Chagall nun begleitet und beeinflusst das Leben des Jungen und seiner Nachkommen. Seine Tochter verkauft das Bild aus Not, sein amerikanischer Enkel, Benjamin Siskind, klaut es aus einer New Yorker Ausstellung zurück, Bens Zwillingsschwester Sara erstellt eine lupenrein gefälschte Kopie, die das Museum glücklich als wiedererstattetes Original entgegennimmt.

Hin- und mitreißend erzählt Dara Horn diese Bilder- und Familienodyssee, verwoben mit wunderbar klug und licht fabulierten Geschichten aus der jiddischen Literatur. Vier Generationen der Ziskinds lernen wir kennen. Mit wahrlich unterschiedlichen Lebensläufen. Der Waisenknabe, der sich den Chagall ertauschte, wird Opfer stalinistischer Säuberungen, seine Tochter heiratet einen Mann, der das Grauen im Vietnamkrieg er - und überlebt, sein Enkel – erst Wunderkind dann Bilddieb- wird fest angestellter Fragenschreiber einer amerikanischen Quizshow und der Urenkel lebt noch ungeboren im Paradies.

Gelassenes Erzählen ist Sache der Autorin nicht – sie lässt ihre Geschichten tosen – und als Leser gerät man bald in den Strudel ihrer Vitalität und ihrer Phantasie. An der es ihr wahrlich nicht mangelt – eher hin und wieder an Strenge, an Bändigung der Bild- und Wortkaskaden. Dara Horn ist eine vehemente Schreiberin, ob es nun darum geht, zarte oder gewaltsame Szenen zu erzählen, ob es um Hunger oder Denunziation geht, um Stadtneurosen, das Malen, das Schreiben oder das Sterben.

Nicht immer ist es ihr gelungen, das Pathos vom Drama zu trennen. Und nicht immer hat sie die Geduld, ihre kunstvoll verschlungenen Erzählfäden wieder zu entwirren. Am Ende lässt sie einfach eine Bombe explodieren. Nicht unwahrscheinlich im New York der heutigen Zeit. Und eine schnelle Lösung so mancher Probleme.

Und doch liest man gebannt und lässt sich nur zu gern den Kopf füllen mit krassen und sanften Bildern. Schreckliches stammt meist aus der Wirklichkeit- Tröstungen dagegen eher aus der "kommenden Welt".

Die Welt, in die wir kommen, nachdem wir gestorben sind und in der wir sind, bevor wir geboren werden. Und dieses Elysium ist ein wahrhaft himmlischer Ort im Vergleich zum terrestrischen Hienieden. Man kommt bei der Lektüre nicht umhin zu folgern, dass man eher Angst vor dem Geborenwerden als vor dem Sterben haben sollte. Freundlicher geht es dort oben zu, wo wir nicht mehr oder noch nicht sind.

Dort treffen die Familien zusammen, dort bereiten die Gestorbenen die noch Ungeborenen vor auf ihre Geburt – dort werden die Kleinen gebadet in Wassern der Liebe, um sie zu stärken und in Wassern des Kummers, um sie zu wappnen, sie werden gefüttert mit Kunst und betrunken gemacht mit Literatur. Denn die kommende Welt, das ist auch die Vision einer besseren Wirklichkeit auf Erden. Und jedes neugeborene Wesen könnte dazu beitragen, aus dieser Welt eine kommende zu machen.

Rezensiert von Gabriele von Arnim


Dara Horn: Die kommende Welt
Aus dem Englischen von Christiane Buchner.
Berlin Verlag, Berlin 2006, 384 Seiten, 22 Euro