"Jesus ist nicht für uns gestorben"

Klaus-Peter Jörns im Gespräch mit Martin Buchholz · 20.06.2009
Der Theologe Klaus-Peter Jörns wendet sich mit seinem Buch "Notwendige Abschiede – Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum" gegen die vorherrschende Glaubensvorstellung, dass der Tod Jesu als Sühneopfer zu verstehen sei.
Martin Buchholz: Herr Professor Jörns, in Ihrem Buch "Notwendige Abschiede - Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum" plädieren Sie ja dafür, Abschied zu nehmen von einem Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühneopfer. Warum halten Sie diesen Abschied für notwendig?

Klaus-Peter Jörns: Ich gehe eben von einer anderen Voraussetzung aus als Paulus, als er den Tod Jesu als Opfer, als Sühne jedenfalls, für die Sünden der Menschen gedeutet hat. Ich orientiere mich an dem Menschenbild und an dem Gottesbild, das wir bei Jesus finden, und bei Jesus gibt es nicht die Spur eines Hinweises darauf, dass die Gesetzesübertretungen der Menschen eine Sühne nötig machten, wie sie durch einen Tod, also durch Blutvergießen gegeben wird. Das stammt aus dem Opferkult und aus dem Märtyrerkult. Bei Jesus gibt es keine solche Sühneleistung, denn die Liebe Gottes, die er verkündet, ist nicht an irgendwelche Vorleistungen gebunden. Vor allen Dingen: der entscheidende Grundmaßstab bei der Bewertung des Lebens und natürlich auch des Scheiterns der Menschen ist nicht die absolute Gerechtigkeit, die man durch die Gesetzesbefolgung erzielt, sondern die tiefe Einsicht, dass das Leben schwer ist. Und Jesus hat alles, was es an göttlichen Geboten gibt, verstanden als Hilfe für die Menschen, so gut wie möglich leben zu können. Aber er hat von niemandem erwartet, dass er perfekt ist.

Buchholz: Wenn wir, wie Sie vorschlagen, Abschied nehmen von der Sühneopfertheologie, welche Konsequenzen müsste das denn Ihrer Meinung nach haben für die kirchliche Praxis in Bekenntnis und Gottesdienst? Ich sag mal ein Beispiel: beim Abendmahl sagt der Pfarrer: "Christi Blut, für Dich vergossen!" Sagen Sie dann: "Nein!"?

Jörns: Ja ja, das sage ich! Ich sage: "Nein!" Denn Jesus ist nicht für uns gestorben, sondern Jesus hat für uns gelebt. Sein ganzes Leben ist die neue Sicht des Menschen und die neue Sicht Gottes geworden. Da kommt eigentlich eine neue Gottesvorstellung durch. Dass ein Gott nicht mehr auf Bedingungen hin liebt, sondern aus sich selbst. Und dass er sich verwickeln lässt in dieses Leben hinein im Dienst an den Menschen, und den anderen Geschöpfen wohlgemerkt auch. Das ist eine veränderte Geschichte, und entsprechend müssen zentrale gottesdienstliche Veranstaltungen davon etwas ausdrücken. Das Abendmahl ist keine Feier, ursprünglich auch nie gewesen, im Judentum, keine Feier, in der es um Sühne geht, sondern da werden die Lebensgaben Gottes, Brot und Wein, stellvertretend für alle geschöpflichen Lebensgaben gefeiert. Das Licht kommt hinzu und wichtige Stationen der Heilsgeschichte. Und diese wichtige Station der Heilsgeschichte ist für Christen das Leben Jesu. Wir feiern hier in unserer Gemeinde in einem festen Rhyhtmus - und andere Gemeinden tun das inzwischen auch - Abendmahl so, dass im Zentrum eben die Lebensgaben Gottes stehen. Und das ist etwas, was völlig unabhängig von der Sündenvergebung geschieht. Die Sündenvergebung feiern wir als einen eigenen Ritus, in dem sich die Menschen innerhalb der Gemeinde wechselseitig eine offene Schuld zusprechen und die andere Hälfte dann vergibt und vice versa, ohne den Pfarrer. Es geht nicht mehr um dieses Verhältnis: Altar, Priester hier, Gemeinde dort, sondern die große Heilsgabe ist, die Vollmacht zu vergeben. Um so Frieden zu stiften, und das muss mitten in der Gemeinde geschehen.

Buchholz: Lassen Sie mich noch mal beim Stichwort Sündenvergebung bleiben: auch heute noch kommen ja Menschen mit belastenden Erfahrungen von Schuld und Versagen in die Kirchen und suchen, um es in der traditionellen Sprache zu sagen: Vergebung ihrer Sünden. Dass Jesus Christus diese Sünden am Kreuz stellvertretend auf sich genommen hat, kann doch da für Menschen auch eine befreiende Botschaft sein, oder?

Jörns: Vordergründig ja, indem man sich also zusagen lässt, er ist für dich gestorben. Hintergründig aber, und untergründig ist diese Lossprechung, die da passiert, erkauft mit einem grausamen Gottesbild. Dass Gott eben doch darauf bestanden hat, dass seine Gebote letztlich mit einem unbedingten Gehorsam befolgt werden, wenn nicht von allen, dann wenigstens stellvertretend von dem einen. Und dass er dafür seinen Sohn hat elendiglich sterben lassen. Ich kann nur sagen: Ich will nicht, dass einer für mich auf diese Weise gestorben ist und ich will auch nicht an einen Gott glauben, der auf diese Weise Heil und Vergebung begründet. Aber ich liebe einen Gott, von dem ich weiß, dass er ganz aus sich selbst, weil er das Leben kennt, sich in das Leben verwickelt hat, vergibt.

Buchholz: In dem berühmten Choral von Paul Gerhardt: "O Haupt voll Blut und Wunden" heißt es: "Nun was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last. Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast." Müssen die ehrwürdigen alten Kirchenlieder, die ja vielen Protestanten wirklich heilig sind, nun alle umgeschrieben werden?

Jörns: Umschreiben sollte man sie bestimmt nicht, aber ob man sie noch singen lässt, das möchte ich sehr in Frage stellen! Und es geschieht ja auch immer weniger. Nichts ist heutzutage so schwer für einen Pfarrer und eine Pfarrerin, als die Lieder in der Passionszeit auszusuchen, weil sie eben alle tief getränkt sind von dieser Sühnetheologie. Und ich glaube, wir werden dies als ein Kapitel der Frömmigkeitsgeschichte stehen lassen. Da gibt’s nichts zu übersetzen oder umzudichten oder so. Die dokumentieren eine bestimmte Phase der Frömmigkeitsgeschichte, genauso wie die Paulusbriefe und dergleichen auch. Aber die Messlatte ist für mich das, was wir von der Verkündigung Jesu finden, und woran ich mich orientiere, und da zählt eben die Liebe Gottes als eine Grundkraft, die nicht nach Gegenleistungen fragt, die aber auch niemanden stellvertretend büßen lässt.

Buchholz: Herr Professor Jörns, herzlichen Dank für das Gespräch!