Jesus als Mensch

13.06.2009
Nicht als Sohn Gottes, sondern als Mensch - so porträtiert Paul Verhoeven in seinem Buch Jesus. Er habe versucht, Jesus zu rekonstruieren, mit seinen Zielen und Visionen, betonte Verhoeven.
Ralf Bei der Kellen: Paul Verhoeven, Sie nennen Ihre Annäherung an Jesus im Untertitel "Die Geschichte eines Menschen" – erklären Sie doch bitte mal den Titel.

Paul Verhoeven: Ich konzentriere mich in meinem Buch auf den Mensch Jesus – nicht mehr und nicht weniger. Jesus als "Sohn Gottes", wie er im christlichen theologischen Denken verankert ist, existiert in meinem Vokabular nicht. Ich versuche, ihn in meinem Buch so zu porträtieren, als ob er direkt vor mir sitzen würde – so wie Sie jetzt. Und diese Realität versuche ich zu rekonstruieren, indem ich die Evangelien dekonstruiere. Ich versuche, herauszufinden, was die Ziele dieses Menschen waren, wofür er stand, was seine Vision von Gott war. Ich muss betonen, dass alles in diesem Buch nur meine Meinung ist. Ich betrachte Jesus ganz untheologisch, ich sehe ihn nicht als einen Heiligen – wohl aber als einen Propheten. Ich versuche, wie ein Bildhauer aus dem Steinbruch der Evangelien die Person Jesus herauszuhauen.

Bei der Kellen: Wenn dieser Mensch heute auf die Erde zurückkäme – würden wir ihn erkennen?

Verhoeven: Wenn er immer noch so scharfsichtig und clever formulieren würde, wie er das in den Gleichnissen getan hat, dann würde er genauso gut sprechen wie Mr. Obama. Zuhören würde man ihm noch immer, da bin ich mir ganz sicher. Er wäre extrem charismatisch. […] Seine Sprache wäre sehr aggressiv, fast gewalttätig. Ja, man würde ihn sehen, er würde herausstechen. Aber wenn Jesus erfahren und begreifen würde, was wir aus seinen Worten gemacht haben und was die Kirche sein soll, dann wäre er meiner Meinung nach höchst erstaunt. Er wäre erstaunt, festzustellen, dass er ein Gott geworden ist, denn ihm selbst wäre klar, dass er ein Mensch war. Wenn er lesen würde, dass er der Sohn Gottes und ein Teil der heiligen Dreifaltigkeit sei, dann würde er uns wahrscheinlich für verrückt erklären.

Bei der Kellen: Sie sprechen in Ihrem Buch immer wieder vom sogenannten Jesus-Seminar, einer amerikanischen Vereinigung von Theologen, die sich dem Studium des historischen Jesus verschrieben hat. 1986 wurden Sie als einziger Laie Mitglied. Damals war Ihre Absicht noch, einen Film zu machen über den historischen Jesus. Wie kam es dann zu diesem Buch?

Verhoeven: Ich ging 1986 zum Jesus-Seminar, weil ich für meinen Film recherchieren wollte. Ab irgendeinem Punkt war die Recherche plötzlich wichtiger als der Film. 2001 gelangte ich zu der Einsicht, dass ich statt den Film zu machen besser ein Buch schreiben könnte, in dem ich all das festhielt, was ich in meinen Studien entdeckt hatte. In dem Buch wollte ich meine Sicht der Ereignisse vor 2000 Jahren wiedergeben. Es fühlte sich einfach besser an, das in einem Buch zu sagen, denn hier konnte ich auch sagen: "Es scheint mir wahrscheinlich, dass…" oder "es könnte sein, dass…" In einem Film kann geht das nicht. Was man dem Publikum zeigt, ist in dem Moment die Wahrheit. Dem kann man im Film nicht entkommen. Man kann nicht sagen: "Dieses Bild ist "vielleicht"". In einem Buch kann man seine Meinung mit allen Nuancen darstellen. Was im Film eine brutale, absolute Wahrheit geworden wäre, konnte ich in einem Buch als meine Meinung wiedergeben: "Hier ist, was ich denke, hier ist, was ich entdeckt habe.

Bei der Kellen: In Ihrem Buch betrachten Sie die Evangelien häufig aus dem Blickwinkel eines Regisseurs und eines Dramaturgen.

Verhoeven: Als Schriftsteller und auch als Dramaturg bin ich sehr sensibel für persönlich eingefärbte Darstellungen – weil ich das selbst ständig mache. Wenn ich einen historischen Film drehe wie kürzlich "The Black Book" (…), dann erzähle ich, dann interpretiere ich. Ich ändere die Charaktere, ich verändere die historische Chronologie von Ereignissen (…), ich gebe dem Ganzen eine dramatische Struktur. Ich passe die Geschichte meiner Vorstellung an. Und ich denke, genau das haben die Evangelisten auch getan. Sie veränderten die Realität ihrer Ausgangsquellen, um diese ihrer theologischen Agenda anzupassen. Ich will in meinem Buch in erster Linie aufzeigen, dass sie vor allem die politischen Elemente aus Jesus’ Predigten entfernten oder vermieden. Denn politisch zu sein war im römischen Reich sehr gefährlich – vor allem, wenn man Anhänger von jemandem war, der angeblich ein Gott war und der von den Römern gekreuzigt wurde, weil er aufständisch war. Und weil er vorgab, König der Juden zu sein – was ein politisches Statement ist. Und das war natürlich zehnmal schlimmer als einen Schuh nach George W. Bush zu werfen. Das war kein Ausdruck von Zorn, sondern Anstachelung zum Aufruhr. Und das wurde sofort bestraft. Nun konnten die Evangelisten die Kreuzigung nicht verneinen, denn sie war ja eine weithin bekannte Tatsache. Also mussten sie dem Ganzen eine andere Drehung geben. Also stellten sie es als gottgewollt dar und versuchten so, das politische Element aus der Gleichung zu entfernen. Ihr Ziel war, dass die Evangelien im römischen Reich nicht als aufrührerisch gesehen wurden – denn sonst hätte ihnen dasselbe Schicksal wie Jesus gedroht. Sie verkleinerten also die politische Aussage, da sie noch immer zu gefährlich war.

Bei der Kellen: Paul Verhoeven, nachdem Sie 20 Jahre lang die Quellen studiert haben – fühlen Sie sich dem Menschen Jesus heute näher als vorher?

Verhoeven: Ja. Das tue ich. Ich denke, ich habe eine sehr klare Vorstellung davon, was für eine Art Person er war. Und wahrscheinlich war diese Person nicht besonders angenehm. Ich denke, vieles, was er sagte, war sehr aggressiv, er war sehr, sagen wir mal, überzeugt davon, dass seine Realität die endgültige Realität war. Viele seiner Widersacher sahen ihn wahrscheinlich als arrogant, als jemanden, der vorgab, mehr zu wissen, als man wissen konnte. Ich denke, es ist verständlich, dass eine Menge Leute ihn nicht mochten. Denn er war so unverblümt, er sagte eine Menge Dinge, die viele als beleidigend empfanden. Aber trotz aller Fehler, die er machte und trotz aller falschen Wahrnehmung der Realität – vor allem in dem Rahmen seiner fälschlichen Annahme, dass seine geglückten Exorzismen sichere Anzeichen für das Kommen des Königreichs Gottes waren – trotz alledem denke ich, entwickelte er eine neue Ethik. An irgendeiner Stelle im Buch habe ich ihn diesbezüglich mit Vincent van Gogh verglichen. In seinen letzten Jahren malte van Gogh die wunderbarsten Bilder der Natur. Ich denke, dass er mit diesen Bildern sein Verständnis des Königreichs Gottes ausdrückte. Zur selben Zeit, da er diese wunderbaren Bilder malte, attackierte er Gauguin mit einem Messer, er schnitt sich das Ohr ab und ging in ein Bordell, wo er das abgeschnittene Ohr einer Prostituierten gab. All das existierte parallel. Und die Tatsache, dass Jesus Fehler machte und die Geschichte oder die Geschehnisse um ihn herum falsch interpretierte – all das sollte nicht gegen ihn verwendet werden, wenn es um seine Innovationen auf dem Gebiet der Ethik geht. Das ist auch die Wahrheit – genauso wie die Tatsache, dass wir noch immer nicht besonders nah an einem dieser Ethik gemäßem Leben sind. Es fällt uns immer noch sehr schwer, wie der Samariter oder wie der Vater des verlorenen Sohnes zu handeln. Aber diese Vision, diese Utopie, schuf und verkündete Jesus zur selben Zeit, in der er auch die Exorzismen missinterpretierte und annahm, dass Gott seinen Tod wolle. Ich denke, dass dies Fehler waren. Aber unabhängig davon gibt es diese vielen Gleichnisse und Parabeln, an denen man sehen kann, warum diese Person uns noch immer interessiert und warum er nach 2000 Jahren noch immer "lebendig" ist – aufgrund der Kraft, der Schönheit und der Hoffnung, die er in seinen Parabeln ausdrückte.

Bei der Kellen: Vielen Dank, Paul Verhoeven, für das Gespräch. Schön, dass Sie Zeit für uns hatten.