Jerusalem in Afrika

Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 30.01.2010
Rund 40 Prozent der 68 Millionen Äthiopier sind orthodoxe Christen. Bereits seit dem 4. Jahrhundert ist die Religion in dem afrikanischen Land verbreitet. Ihr ist es zu verdanken, dass dort eine jahrtausendealte Schriftsprache, Kultur, Kunst und Identität erhalten blieb.
"Die Priester treten auf, meist in einer Reihe wie eine Phalanx, unter bunten gestickten Schirmen, wunderschön. Je nach Rangordnung werden dann auch noch Baldachine durch die Gegend getragen. Die Liturgie ist durchgängig gesungen; es gibt keine Predigt in dem Sinne und es wird vor allen Dingen getanzt. Und was in Äthiopien auch grundsätzlich für alle anderen Feste gilt, ist, dass sie häufig in der Dunkelheit stattfinden, sodass dann auch noch dazukommt: Feuer, Fackeln."

Frank Lemke, viele Jahre lang Leiter des Amharischen Dienstes des Auslandssenders "Deutsche Welle" in Bonn, kam vor über 40 Jahren das erste Mal nach Äthiopien und erlebte dort äthiopische Frömmigkeit und Religiosität:

"Wenn man sich vorstellen möchte, wie das Urchristentum vielleicht einmal ausgesehen hat, dann ist das so."

Doch diese Kirche verfügt nicht nur über Heiterkeit und Farbenpracht, sondern auch noch über eine Fülle an überlieferten Geschichten und Legenden, wie der katholische Theologe Dr. Heinzgerd Brakmann vom Bonner "Franz-Joseph-Dölger-Institut zur Erforschung der Spätantike" weiß und - Georg Friedrich Händel in Noten setzte:

"Die Königin von Saba war in Jerusalem zu Besuch. Und der König Salomon gewann Freude an dieser Frau und begehrte sie. Sie zierte sich aber und so traf er mit ihr eine Vereinbarung: Ich stelle dir nicht nach, aber wenn du an mein Bett kommst, dann bleibst du bei mir. Und dann hat er beim Abendessen eine Speise serviert, die gehörig gewürzt war. Und die Königin von Saba bekam Durst. Aber das einzige Wasser hatte er in einen Krug neben sein Bett gestellt. Und so tappte die Königin von Saba dann in der Nacht an das Bett von Salomo, um Wasser zu trinken. Er hatte sie erwartet und es passierte, was passiert."

Nämlich Folgendes: Die Königin von Saba kehrte schwanger in ihre Heimat am Roten Meer zurück. Und der Sohn, den sie von König Salomo bekam, begründete als Menelik I. die äthiopische Kaiserlinie.

Es ist eine wunderschöne, bunte und fantasievolle Geschichte, die Dr. Heinzgerd Brakmann da berichtet. Auch, wenn sie, wie er betont, leider keinerlei historischen Wahrheitsgehalt hat. Dennoch ist es eine Geschichte mit weitreichenden Folgen: Denn auf die Königin von Saba und König Salomo beruft sich bis heute das äthiopisch-orthodoxe Christentum und legitimiert so die Abstammung des äthiopischen Herrscherhauses.

Das äthiopische Christentum wird in der Spätantike in Ostafrika, im Reich von Aksum, heimisch - auf dem Territorium der heutigen äthiopischen Nordprovinz Tigray. Die äthiopische Kirche, deren Gesänge und Gebete sich über anderthalb Jahrtausende erhalten haben, ist eine der ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt und gehört zu den altorientalisch-orthodoxen Kirchen:

"Das heißt: zu den Kirchen, die die ersten drei Konzilien von Nicäa, Konstantinopel und Ephesus annehmen, aber das Konzil von Chalcedon ablehnen, das anerkannt wird von den byzantinisch-orthodoxen, von den römischen Katholiken und von den Protestanten."

Doch trotz der schönen Geschichte um König Salomo und die Königin von Saba, kommt das Christentum tatsächlich erst im 4. Jahrhundert unter dem König Ezana, der sich um das Jahr 330 taufen lässt, nach Äthiopien. Mit der Bekehrung des Königs steigt das neue Bekenntnis im aksumitischen Reich zur Staatsreligion auf.

Es breitet sich weit über die Grenzen des Römischen Reiches aus - nicht durch Missionare, sondern durch reisende Händler, Söldner und Kriegsgefangene. Und auch hier gibt es, wie Heinzgerd Brakmann erzählt, eine spannende Geschichte.

Die nun ist aber keine Legende, sondern durchaus historisch: Sie beginnt mit Frumentius und Aidesios, zwei jungen Männern aus dem phönizischen Tyrus, die mit ihrem Philosophielehrer Meropius eine Bildungsreise über das Rote Meer nach Indien unternehmen:

"Doch das Schiff wurde von Piraten gekapert und die drei wurden gefangen genommen, der Lehrer wurde getötet, die beiden Knaben wurden als Sklaven verkauft nach Aksum, die Hauptstadt des aksumitischen Reiches. Wegen ihrer Gelehrsamkeit stiegen sie auf zu Prinzenerziehern am Hof. Und als der Kronprinz, den sie erzogen hatten, selbst auf den Thron kam, hat er aus Dankbarkeit seine Lehrer entlassen in ihre Heimat. Aidesios ist da geblieben, Frumentius ist nach Alexandrien gegangen zum dortigen Bischof Athanasius, der zuständig war für Afrika. Athanasius hat Frumentius hingeschickt und der hat dort fromm und erfolgreich gewirkt."

So erfolgreich, dass es ihm gelingt, den aksumitischen König, ebenjenen Ezana, eine durchaus historische Figur, die in regem Briefwechsel mit Kaiser Constantius II. stand, zum Christentum zu bekehren. Nachdem ab dem 3. Jahrhundert die Araber im Jemen zunehmend jüdisch werden, kommt es im 4. Jahrhundert dazu, dass sich auf beiden Seiten des Roten Meeres zwei konkurrierende Religionen etablieren:

"In Ostafrika das Christentum und im Jemen das Judentum. Die Könige der Jemeniten, die Könige vom Himzha, waren Juden. Da kommt es dann zu Auseinandersetzungen in Südarabien zwischen Christen und Juden und in diese Auseinandersetzungen greift dann im 6. Jahrhundert der Herrscher von Aksum ein, um die Christen zu schützen und unterwirft die Juden. In dieser Phase kommt es offensichtlich auch zu einer intensiveren Begegnung mit dem Judentum. In Aksum selbst können Juden präsent gewesen sein, hatten aber keinen Einfluss, haben vor allen Dingen niemals das äthiopische Königshaus bekehrt - auch wenn manche meinen, das sei so."

Geblieben ist eine Besonderheit der äthiopischen Orthodoxie, die Heinzgerd Brakmann "den äußeren Anschein des Judaisierens" nennt. Mit der Dynastie der Salomoniden, die vom 13. bis zum 18. Jahrhundert herrscht, beginnt das äthiopische Christentum, sich ganz massiv als das wahre Israel zu verstehen. Und so wird denn etwa, nach einer Geschichte aus dem 14. Jahrhundert, die Bundeslade, in die - der Überlieferung nach - die Juden die Gesetzestafeln legten, im äthiopischen Aksum aufbewahrt. Menelik I., der legendäre Sohn König Salomos und der Königin von Saba, soll sie bei einem Besuch in Jerusalem heimlich entwendet und nach Äthiopien mitgenommen haben:

"Und so ist sie denn in Äthiopien geblieben und wird auch immer schön in Aksum in Aksum in der Heiligen Marienkirche dort aufbewahrt … "

… berichtet Frank Lemke, der die Bundeslade, amharisch "Tabot" genannt, dort nicht gesehen hat - einfach weil sie bis heute nie ein menschliches Wesen zu Gesicht bekommen hat.

Denn hinter dieser Legende, ganz ähnlich wie auch bei der über die Königin von Saba, stehen wohl Geschichten, die von den Juden Südarabiens erzählt wurden. Und da die Aksumiten Kontakt mit ihnen hatten, dürften sie diese Erzählungen übernommen und auf sich bezogen haben. So ist der jüdische Einfluss auf die frühe äthiopische Christenheit - nach Brakmann - eine "Rückprojektion von späteren Zuständen aus dem Beginn des zweiten Jahrtausends.

Allerdings mögen die meisten äthiopischen Christen und auch viele äthiopische Theologen das nicht gern hören, weil es an ihr Selbstverständnis und ihren Stolz rührt. Dr. Heinzgerd Brakmann:

"Die Äthiopier wollen genauso wie die Römer und wie die Byzantiner ein apostolisches Christentum haben und nicht eines, das Jahrhunderte später erst einsetzt. Das ist eine Frage der Altersautorität einer Kirche. Ich hab mit ihnen diskutiert und ihnen gesagt: Ihr habt doch eigentlich allen Grund, stolz zu sein auf euer Christentum. Ihr habt es etwas später bekommen als andere - immerhin aber deutlich früher als die Germanen. Ihr habt das Christentum in einer abgelegenen Gegend unter extremen wirtschaftlichen Bedingungen in langen Phasen der Isolation aufrechterhalten, und das Evangelium Jesu Christi weiterverkündet und in den Kirchen das Lob Gottes gesungen. Das ist doch Stolz genug."

Der Stolz auf uralte Traditionen ist ungebrochen. Und gerade bei den Feierlichkeiten zu hohen Kirchenfesten entfaltet die äthiopische Kirche die ganze Pracht der orthodoxen Eucharistie. Wie etwa beim "Maskal"-Fest. Frank Lemke:

"'Maskal' ist das Fest zur Auffindung des Heiligen Kreuzes. Das erinnert an die Legende, dass Helena, die Mutter von Konstantin dem Großen, dieses Kreuz von Jesus entdeckt hat. Offiziell aber wird "Timkat", am 19. Januar als Höhepunkt des Kirchenjahres gewertet. Das ist die Taufe Jesu im Jordan. Die ganze Nacht werden Liturgien gesungen. Diese Buntheit, diese Farbigkeit, aber auch die Gläubigkeit. Ich habe es einmal gemacht: fünf Stunden! Man steht! Und morgens dann wird also die Taufe nachgeholt. Die Zelte müssen immer an einem Wasser stehen, damit man auch am nächsten Morgen die Taufe machen kann."

Es ist ein prachtvolles Bild: In einer feierlichen Prozession unter Glocken- und Hörnerklängen formieren sich die Gläubigen; an ihrer Spitze Priester und Diakone in perlenverziertem dunklen Samt. Auf den Köpfen tragen sie kleine "Tabots", hölzerne Nachbildungen der Gesetzestafeln.

Es ist ein prachtvolles Bild - diesmal allerdings nicht in einem Zelt unter dem samtdunklen und sternenübersäten Nachthimmel Äthiopiens, sondern an einem eher grauen Tag in einer winzigkleinen Kirche im Kölner Stadtteil Longerich.

"Der Herr ist des Armen Schutz, ein Schutz in der Not" - dieses Psalmwort hatte ein evangelischer Pfarrer vor fast 70 Jahren über dem Altar der 1933 eingeweihten kleinen roten Backsteinkapelle anbringen lassen. Hellsichtige Worte, denn die, die heute dort beten, suchten und brauchten Schutz. Es waren äthiopische Christen, die in den 1980er-Jahren als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren:

"Die äthiopisch-orthodoxe Kirche ist für Äthiopier ein Stück Heimat. Die äthiopisch-orthodoxe Kirche ist Erhalterin oder Förderin von Tradition, von Kultur, von Musik, von Sprache … "

… sagt Erzpriester Dr. Merawi Tebege, der kürzlich mit seinen Glaubensbrüdern und -schwestern den 26. Geburtstag der Kölner äthiopisch-orthodoxen Gemeinde feierte. Im Frühsommer 1983 hatten die Kölner Protestanten den äthiopischen Christen die Mitbenutzung der kleinen Longericher Lutherkappelle gestattet. Seit 1995 nutzen die Äthiopier das Gotteshaus, das jetzt "St. Mikaels-Kirche" heißt, allein. Heute sind Kapelle und Gemeindesaal Heimat und Anlaufstelle für etwa 500 äthiopische Familien. Und aus dem verlorenen Grüppchen von damals ist eine selbstbewusste und aktive Kirchengemeinde geworden.

Neben Erhalt und Förderung von Tradition, Identität, Sprache und Kultur, ist natürlich die seelsorgerische Betreuung der in Köln und im Umland lebenden äthiopischen Familien Hauptaufgabe für die Gemeinde, die sich als Flüchtlingsgemeinde versteht. Das von 1974 bis 1991 herrschende kommunistische Mengistu-Regime, aber auch Dürrekatastrophen, Hungersnöte und Bürgerkriege, die 1993 mit der Abspaltung Eritreas endeten, brachten viele Menschen dazu, die Heimat am Horn von Afrika zu verlassen:

"Die Leute sind als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen; die Leute brauchen Unterstützung von der Stadt, von Organisationen. Wir sind auch Vermittler für diese Leute - als Priester, als Diakone, als Kirchenälteste. Unsere Kirche ist eine Vermittlerin für alle Äthiopier. Wir machen viele Beratungen - die Leute sollen sich auch integrieren, aber gleichzeitig ihre eigene Sprache, ihre Religion, ihre Kultur behalten."

Hat Merawi Tebege denn die Erfahrung gemacht, dass das Christsein bei der Integration hilft?

"Wir sind Fremde hier im Lande, aber wir sind als Christen verbunden mit
evangelischen, mit katholischen Brüdern und Schwestern. Wir sind dankbar, dass die beiden großen Kirchen, die evangelische und die katholische, uns als Partner gesehen und aufgenommen haben; wir sind Christen hier in einem fremden Land."

Bis heute vertraut die äthiopisch-orthodoxe Kirche der Kraft ihres eigenen Glaubens und ihrer eigenen Traditionen. Das hat es ihr möglich gemacht, das Christentum, das in Äthiopien als einzigem afrikanischen Land kein Import aus Europa ist, lebendig zu erhalten: In einem Land voller Kirchen und Klöster.

Und in einem Land - so hat ein Reisender es einmal beschrieben - "voller gläubiger Menschen, die ihre Hände zu Gott ausstrecken."