Jens Jessen zur Gewaltdebatte

"Zentren autonomer Gewalt werden verniedlicht"

Die Demo "Lieber tanz ich als G20" zog auch an der Roten Flora im Hamburger Schanzenviertel vorbei
Streitpunkt Rote Flora: Sollte das linksalternative Zentrum lieber geschlossen werden? Ja, meint Jens Jessen. © Imago
Moderation: Korbinian Frenzel · 12.07.2017
Nach den Gewaltexzessen rund um den G20-Gipfel hat nun ein Schuldzuschieben mit Rücktrittsforderungen begonnen. Jens Jessen findet, diese Debatte sei "völliger Bullshit und richtig bizarr". Insgesamt stecke sehr viel "Heuchelei" in dem Vorgang.
Der Vorwurf gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel, sie habe sich mit der Ausrichtung des G20-Gipfels in Hamburg selbst inszenieren wollen, sei einfach "Unfug". Ebenso unsinnig sei es, vom Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz "Zerknirschungsrituale zu verlangen. Er hat überhaupt nichts falsch gemacht".
Der einzige Fehler liege, wenn überhaupt, in der Vergangenheit: "Dass man diese Zentren autonomer Gewalt verniedlicht und als eine Art Folklore geduldet hat." Im Übrigen seien angemeldete Demonstrationen "fast überhaupt nicht eingeschränkt worden". Im Ganzen hätte alles nicht anders ablaufen können - es sei denn, man wolle einen Polizeistaat.

Ohne Rote Flora versinkt Hamburg in Langeweile

Bezogen auf das linksalternative Kulturzentrum Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel sagte Jessen, dieses sollte "unbedingt" geschlossen werden - es sei absolut entbehrlich. Auch wenn dies bedeute, dass Hamburg dann in gähnender Langweile versinke, weil der einzige Ort, der "wenigstens ein bisschen gefährlich" sei, dann nicht mehr existiere. Im Übrigen:
"Über diese Sachen wird ja ungeheuer viel gelogen. Man redet sie sich schön, indem man sagt: Die brauchen doch auch einen Ort."
Tatsächlich aber werde dort die Gewalt vorbereitet, gerechtfertigt, juristisch verteidigt und organisiert.
"Es ist absurd, dass die Parteien, die in den Parlamenten sitzen - die Grünen oder die Linkspartei - es nicht fertig bekommen, sich von diesem Milieu zu distanzieren."
Wenn man diese Gewalt nicht haben wolle, "dann darf man auch nicht dulden, dass es sozusagen eine Stabsstelle gibt, die das organisiert. Dann muss man aufhören herumzueiern. Ich glaube aber, dass es von allen geschätzt wird, dass es so etwas gibt wie die Rote Flora - nicht nur von Leuten in Parteien, die sich innerlich davon nicht abgrenzen können, sondern auch von den Oppositions-, von den bürgerlichen, von den Law-and-Order-Parteien. Weil sie da ihr Feindbild haben, weil sie damit den Wähler mobilisieren können." Mit den Worten des Hitler-Widerständlers und ehemaligen Leipziger Oberbürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler gesprochen: Dies diene "zu Aufpulverung des deutschen Spießers".
Insgesamt stecke sehr viel "Heuchelei" in dem Vorgang, nicht nur das ganze linke Milieu, sondern auch "das linke Denken zu belasten".

Jens Jessen ist Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit" im Feuilleton, das er von 2000 bis 2014 auch leitete. Zuvor war er Feuilletonchef bei der "Berliner Zeitung" und Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Begonnen hatte der Autor und Publizist seine Laufbahn von 1984 bis 1988 als Verlagslektor in Stuttgart und Zürich. 2012 erschien im Carl Hanser Verlag Jessens Roman "Im falschen Bett".

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