Freitag, 29. März 2024

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Carolina Celas: "Bis zum Horizont"
Alles eine Frage der Perspektive

Mal weit weg, mal ganz nah und manchmal gar nicht zu sehen: Der Horizont fasziniert und verwundert, Kinder ebenso wie Erwachsene. Die Portugiesin Carolina Celas nähert sich der mysteriösen Linie in einem Bilderbuch – ein farbenfrohes Spiel mit unserer Wahrnehmung.

Von Änne Seidel | 21.03.2020
Die Autorin Carolina Celas und ihr Buch "Bis zum Horizont"
Warum wir die Welt sehen, wie wir sie sehen - das ist die zentrale Frage im Bilderbuch von Carolina Celas (Buchcover Gestalten, Autorenportrait (c) Mariana Lopes)
Carolina Celas lädt ein zum Zwiegespräch mit dieser mysteriösen Linie, die so viele Fragen aufwirft - zum Zwiegespräch mit dem Horizont.
"Du bist immer da.
Da drüben.
Oder dort hinten."
Wie ein kleines Gedicht wirkt der sparsame Text. Seine Zeilen begleiten die Leser von der ersten bis zur letzten Seite. Genau wie die waagerechte Linie, die sich schnurgerade durch das gesamte Buch zieht.
Die Linie ist Teil jeder Illustration: Seite für Seite erscheint eine neue Welt - oder besser: eine neue Sicht auf die Welt. Denn genau wie im Leben ist auch in diesem Buch alles eine Frage der Perspektive. Entlang der horizontalen Linie entwirft Carolina Celas Innenräume, Stadtansichten und Landschaften, die der Leser aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten darf.
"Manchmal scheinst du weit weg.
Dann wieder nah.
Wenn ich genau hinsehe."
Zentrale Linie oder Horizont?
Und darum geht es: Ums genaue Hinschauen. Denn nicht in jedem Bild ist die zentrale Linie auch automatisch der Horizont. Auf einer Seite ist sie die Fußleiste eines Wohnzimmers, auf einer anderen markiert sie die Mittellinie auf einem Tennisplatz, dann wieder verschmilzt sie mit dem Geländer einer Brücke - auf die wir von oben, aus der Vogelperspektive, herab blicken. Seite für Seite also stellt sich die Frage aufs Neue: Wo ist er, der Horizont? Ist er überhaupt zu sehen?
"Jetzt versteckst du dich.
Ganz leise. (...)
Wenn ich mich hinlege, verschwindest du.
Und ich suche dich, will dich einfangen.
Ich warte...
... bis du wieder da bist. "
Warum sehen wir die Welt, wie wir sie sehen? Das ist die zentrale Frage in diesem Bilderbuch von Carolina Celas. Die Autorin liefert darauf keine rational-naturwissenschaftlichen Erklärungsversuche, sondern regt mit ihrer poetischen Bilderwelt zum Selberdenken an. Mit Buntstiften, Wachskreiden und Textmarkern in leuchtenden Farben entwirft Celas ihre Illustrationen, in denen Räume und Landschaften meist deutlich mehr Platz einnehmen als die Figuren.
Die Menschen wirken hier klein, wir hingetupft. Ihre Gesichter bleiben anonym, sind nur durch ein paar Punkte angedeutet. Die Figuren sind in diesem Buch weniger handelnde Protagonisten als vielmehr staunende Beobachter einer fantastischen Welt - in der bunte Algen von Höhlenwänden hängen oder Regenwolken aussehen wie Fabelwesen.
"Mal gebe ich dir eine neue Form.
Mal zeichnest du Bilder, die ich mir nie vorgestellt habe."
Horizont als Teil der portugiesischen Kultur
Es ist nicht verwunderlich, dass dieses schöne Bilderbuch ausgerechnet in Portugal entstanden ist. Über 800 Kilometer Küste hat das Land, außerdem die Vergangenheit als Seefahrernation. Der Horizont hat in der portugiesischen Kultur einen ganzen besonderen Platz - Schriftsteller wie Fernando Pessoa oder Sophia de Mello Breyner Andresen haben ihm Gedichte gewidmet.
"Da drüben.
Dort hinten.
Endlos."
Ein Hauch dieser Tradition liegt auch über den Bildern und Texten von Carolina Celas - nicht aber die Schwermut und die Melancholie, die portugiesische Literatur sonst oft durchziehen. "Bis zum Horizont" ist ein heiteres und farbenfrohes Bilderbuch, das kleine und große Leser zum Träumen und Philosophieren einlädt.
"Ob du wohl auch in mir bist?"
Carolina Celas: "Bis zum Horizont"
Aus dem Portugiesischen übersetzt von Claudia Stein
Verlag Kleine Gestalten, Berlin. 40 Seiten, 14,90 Euro. Ab 3 Jahren