Jeder Keks zählt

Von Elin Rosteck · 17.01.2013
Um der Wirtschaftskrise in Griechenland zu entkommen, sind Kula Kirillidou und ihr Mann Iordanis Semertzidis im Herbst 2012 ins Sauerland gezogen. Nach 25 Jahren Selbständigkeit mit eigener Konditorei haben sie ein neues Geschäft eröffnet - das erste griechische Café in Lüdenscheid.
"Wieviel Euros? - Das kostet neun Euro pro Kilo. 100 Gramm für 90 Cent."

Kundschaft am Kuchentresen. Ein türkischer Junge zeigt auf das Sandgebäck hinter der blankgewienerten Scheibe und bespricht sich leise mit seiner Mutter. Kula Kirillidou wartet gespannt neben ihnen auf die Entscheidung. Sie hofft, dass das Angebot den beiden zusagt. Für sie ist zur Zeit jeder verkaufte Keks wichtig.

"Wir nehmen einen davon, für zwei Euro - für zwei Euro?"

Die Chefin der ersten und einzigen griechischen Konditorei in Lüdenscheid lächelt und eilt hinter ihre Kuchentheke. Aus einem Regal zaubert sie eine hübsch dekorierte rosafarbene Pappschachtel hervor und packt die vier Brocken Gebäck hinein. Eine ungewöhnliche Verpackung für ein Geschäft in Deutschland. Sie hat ihre Art und Weise aus Griechenland mitgebracht; aus ihrer Konditorei dort. Die musste sie nach 25 Jahren aufgeben.

""War ganz schwer. Krise in Griechenland. Früher ist ganz gut, normal, hast Du Arbeit, Kinder, Urlaub. Jetzt zwei Jahre war ganz schwer, warum? Das Kuchen ist nicht so …"

Sie ringt nach Worten, verdreht stumm die Augen nach oben und schaut dann Hilfe suchend zu ihrem Nachbarn und Dolmetscher hin, der extra für´s Radio heute in den Laden gekommen ist und für sie mal wieder übersetzen soll.

"Das ist nicht wie Brot, was du brauchst; Kuchen; wenn du kein Geld hast, dann kaufst du, was du brauchst, Brot, Milch und so was, ne? - (Sie:) und jetzt nicht nur für uns, für alle Griechen ganz schwer, sie haben kein Geld."

Kula zieht die Schultern hoch und hebt die Augenbrauen dazu, ihre braunen Augen funkeln zornig; sie hätte viel mehr zu sagen, doch ihr Deutsch kommt so schwer über die Lippen. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch irgendwas weiß von ihrem Aufenthalt in Deutschland, damals, als junges Mädchen, als sie drei Jahre ihre Eltern in Bielefeld besuchte. Die lebten dort als Gastarbeiter, aber hatten keine Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern. Also wuchs Kula in Griechenland auf; heiratete, bekam zwei Kinder und baute das blühende Geschäft auf. Kuchen und Torte zum Beispiel für Hochzeitsfeiern, das lohnte sich damals noch.

"Wenn verheiratet in Griechenland, dann kommen sie und kaufen Torte für 300, 400 Personen. Jetzt kaufen für 15, 14 - ganz alleine, alles."

In der Küche steht ihr Mann und rührt Zucker, Eier und Öl für einen neuen Kuchen zusammen: Iordanis Semertzidis, 50 Jahre alt, ein Meter achtzig groß, aber tief herunter hängende Schultern. Schlohweißes Haar lugt unter der Backhaube hervor. Es liegen harte Jahre hinter und auch noch vor ihm.

Er kam in der Hoffnung, dass sich seine Arbeit wieder lohnen würde, sagt er, dass er seine Familie ernähren kann. Er kam auch, weil Deutschland ein gut organisiertes Land ist, eines, das der Krise trotzen kann, auch wenn die anderen Länder Europas längst wirtschaftlich am Boden sind. Auch Semertzidis braucht den Dolmetscher; er spricht kein Wort Deutsch und wird es in absehbarer Zeit auch kaum lernen können. Die beiden haben sieben Tage die Woche geöffnet und keine Angestellten.

Der Chef braucht Mehl für seinen Teig; aber die Waage streikt. Kula muss helfen. In Griechenland war die Backstube vier Kilometer vom Laden entfernt, und jeder hatte seinen eigenen Arbeitsbereich. In Lüdenscheid hocken die beiden jetzt Tag und Nacht aufeinander.

"Wir sind viele Stunden zusammen; das ist nicht gut (lachen und vieldeutiges ohohoh)"

Manchmal fliegen die Fetzen, ist zwischen den Zeilen zu hören. Aber der Schritt musste sein, und er ließ sich nur gemeinsam gehen.

Das Café vorne füllt sich, drei der acht Tische sind besetzt. Kula muss hinter ihre Tortentheke und dann Kaffee dazu servieren. Bisher kommen vor allem die griechischen Kunden: die Familien der Gastarbeiter, die mal wegen der Arbeit in der Lüdenscheider Lampenindustrie hergekommen waren. Die freuen sich nun, dass sie endlich mal wieder süße, fette Torten nach original griechischen Rezepten futtern können; denn eine griechische Konditorei gab es hier noch nicht. Konditor Semertzidis hat ansonsten keinerlei Kontakt nach Deutschland, nur eine Cousine in Lüdenscheid; sie hat den beiden Auswanderern Mut gemacht, sich gerade hier nieder zu lassen, erinnert sich Kula Kirillidis.

"Vier Monate war ganz, ganz schwer für uns. Warum? Gehst du in eine Land, kannst du nicht sprechen. Anderes Leben hier. Kein Telefon, kein Fernsehen, wir beide, nur hier im Geschäft. Machen wir sauber, mache wir etwas, äh …"

Wieder die Sprachbarriere. Jeder Brief, jeder Gang zum Amt war anfangs unmöglich. Die beiden sind abends durch den Ort gelaufen und haben an Türen geklingelt, an denen griechische Namensschilder angebracht waren, nur um Helfer und Dolmetscher zu finden. Letztendlich entdeckten sie ein geeignetes Ladenlokal in der Fußgängerzone; der Makler hat ihnen den Aus- und Umbau vorfinanziert. Ohne ihn wären sie heute nicht so weit.

Zigarettenpause draußen vor der Tür. Dass Lüdenscheid eine ganz hübsche kleine Stadt ist mit einer wunderschönen Landschaft drum herum, das haben Kula und Iordanis noch nicht groß mitgekriegt. Meistens stehen sie im Café oder der Backstube. Kula hat tiefe Ringe unter den Augen und war lange nicht beim Friseur. Trotzdem, der Schritt nach Deutschland war der richtige, sagt sie; ihre allerletzte Chance. Ob das Café gut angenommen werden wird, auch von den deutschen Kunden? Sie zieht noch einmal tief an ihrer Zigarette. Was wünscht sie sich für das Neue Jahr?

"Was möchte … ? Gesund. Und viel Arbeit. Das will ich."
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