"Jede große Veranstaltung enthält ihre eigene Parodie"

Wolfgang Kohlhaase im Gespräch mit Frank Meyer · 13.03.2011
Mit der Berliner Weisheit "Wer weeß, wofür et jut is" betrachtet Wolfgang Kohlhaase seine Figuren: Zugeneigt und um Gerechtigkeit bemüht. Er hat Filmgeschichte in der DDR und darüber hinaus geschrieben.
Frank Meyer: Sie haben über Jahre und immer wieder mit festen Regisseuren zusammengearbeitet – was sind für Sie Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit?

Wolfgang Kohlhaase: Ich glaube, dass die Frage, mit wem man arbeitet, soweit man das beeinflussen kann oder entscheiden kann oder sich wünschen kann, das ist die wichtigste Frage, bevor man überhaupt anfängt. Man sollte sich kennen, in einem nicht unbedingt privaten Verständnis, aber in Bezug auf Arbeit. Man sollte ähnliche Filme gut finden und ähnliche Filme schlecht finden. Man sollte, wenn zu einem Problem zehn Punkte gehören, in acht Punkten einer Meinung sein – die zwei, die dann offen sind, sind schwierig genug. Das heißt, man muss versuchen, in einer Konstellation zu arbeiten, wo es keine großen Missverständnisse gibt, in welche Richtung ein Film geht.

Meyer: Wenn Sie sagen, die Partnerschaft ist wichtig, mit wem man zusammenarbeitet: Eine, glaube ich, für beide Seiten ziemlich beglückende Partnerschaft der letzten Jahre war die mit Andreas Dresen. Mit ihm haben Sie ja zwei Spielfilme gemacht, "Sommer vorm Balkon" und "Whisky mit Wodka". Man hat auch von außen den Eindruck, dass Sie vieles miteinander verbindet. Wie würden Sie das benennen, was sind da die acht von zehn Punkten, die übereinstimmen?

Kohlhaase: Er hat einen ähnlichen Blick wie ich, er guckt ähnlich auf das Alltägliche, glaube ich. Er ist auf eine ähnliche Weise an Menschen interessiert und an sozialer Genauigkeit. Er hat für meine Art von Lakonie ein Verständnis und geht darüber hinaus. Und er ist ein ausgesprochen kollegialer Partner, kein Vertreter dieser Art von Regie-Imperialismus, wo sich dann plötzlich alles auf eine Person zu beziehen scheint. Dazu kommt, dass wir zwar weit auseinander liegen im Alter, Gott sei es geklagt, aber doch einen ähnlichen Hintergrund haben. Das sind die Filme, die in der DEFA gedreht worden sind, und wir haben, glaube ich, ein Bewusstsein der großen Theaterlandschaft, die es gab in der DDR, und der Schauspieler, die es gab. Und er war auch für mich wichtig, weil er mich durchaus gestärkt hat in meiner Meinung, dass ich ja eigentlich nur – wenn man oft danach gefragt hat, wie war das vor der Wende, wie war das nach der Wende – dass ich ja eigentlich nur machen kann, was ich kann. Das heißt also auch weitermachen, was ich bisher gemacht habe.

Meyer: Dazu haben Sie mal gesagt oder Sie haben die Frage selber aufgeworfen, als Sie so nach den Grundlagen Ihrer Arbeit gefragt wurden: Habe ich eigentlich die zehn Quadratkilometer, die ich kenne, mit genügend Geduld betrachtet. Wobei da Geduld ja eine interessante Wendung ist. Ist es da, was Sie gerade meinen, also auf das, was Sie wirklich kennen, genau schauen?

Kohlhaase: Das meine ich ein bisschen. So viel sich auch ändert – und es ändert sich ununterbrochen alles, wenn man so will –, die Farben der Häuser ändern sich schneller als die Farben des Lebens. Man muss einen Ort genau betrachten und mit Geduld betrachten auch. Und die bescheidenere Aufmerksamkeit, die sagt: Alles, was wir brauchen, wollen wir mal hier suchen. Insgesamt ist der kleine Unterschied zwischen Genauigkeit und Ungenauigkeit am Ende ein großer Unterschied.

Meyer: Andreas Dresen hat, als Sie vergangenes Jahr den Ehrenbären der Berlinale bekommen haben, eine Hommage an Wolfgang Kohlhaase geschrieben für das Wochenmagazin "Die Zeit", und da findet man den Satz drin, dass Sie, also Wolfgang Kohlhaase, die Menschen und ihre Figuren mit den Augen der Liebe betrachten. Sagen Sie dazu, das stimmt im Prinzip, oder sagen Sie, Andreas Dresen, in aller Freundschaft, das ist mir doch ein bisschen zu harmonisch?

Kohlhaase: Na ja, stimmt im Prinzip. Man kann es ja auch sozusagen ein bisschen nüchterner ausdrücken, wenn ich das kommentieren soll. Ich glaube, kein Mensch hat nur Unrecht, und Drama entsteht, wenn von verschiedenen Standpunkten aus die Personen recht haben. Das entsteht nicht, wenn Recht und Unrecht sehr übersichtlich sortiert sind. Jeder Mensch hat möglicherweise einen großen Moment, bei den meisten wird er nie bemerkt. Und man erfindet keine Figur, um sie auftreten zu lassen und ihr nur Unrecht zu geben. Man schuldet ihm diese Art von mittlerer Gerechtigkeit, auch als Person in einer Geschichte.

Meyer: Was aber dazukommt zu dieser Menschenliebe – einer der menschenverliebtesten Drehbuchautoren, habe ich auch mal über Sie gelesen – was dazukommt ist ja auch so eine spezifische Form der Heiterkeit, so als ob Sie aber auch auf dieses Leben schauen, als ob das letzten Endes bei aller Mühe, die sich die Figuren geben und wie sie sich abzappeln, um an ihre Ziele zu kommen, als ob alles auch so etwas wie eine große Komödie wäre? Ist das Ihr Blick?

Kohlhaase: Ja, vielleicht. Also sagen wir mal, ich habe immer sehr gern gehabt den Berliner Satz, der da heißt: Wer weeß, wofür et jut is. Das heißt, in jedem Vorteil steckt ein Nachteil, in jedem Glück ist auch ein Unglück verborgen, wo etwas gewonnen wird, geht etwas verloren. Also dieses doppelte Gesicht der Realität, das gehört zu meinem Lebensgefühl. Jede große Veranstaltung enthält ihre eigene Parodie, wenn man genau hinsieht. Und Dinge komisch zu finden, bedeutet, sich ihrer blinden Gewalt nicht zu unterwerfen. Wer etwas komisch findet, sich selbst eingeschlossen, das ist ganz wichtig, geht vielleicht nicht so leicht unter.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase. In den 60er-Jahren, da war Gerhard Klein ganz wichtig für Sie, mit ihm haben Sie zusammen "Berlin um die Ecke" gemacht, einen Film, der dann dem 11. Plenum des ZK der SED zum Opfer fiel, 1965. Damals wurde ja fast eine ganze Jahresproduktion von DEFA-Filmen aus dem Verkehr gezogen, für lange Zeit in vielen Fällen. "Spur der Steine" von Frank Beyer gehörte auch dazu. Nach diesem Einschnitt für Ihre Arbeit, ein Filmprojekt, an dem man so lange gearbeitet hat, wo man so viel reingesteckt hat, wird da aus politischen Gründen aus dem Verkehr gezogen. Wie haben Sie eigentlich danach wieder das Vertrauen gefunden, es lohnt sich, hier an diesem Ort, in der DDR, weiterzuarbeiten?

Kohlhaase: Vertrauen hat auch mit Selbstvertrauen zu tun, aber auch mit Vertrauen auf Gegenseitigkeit. Zunächst war das eine einigermaßen schockierende Erfahrung, und zwar nicht, weil es Einwände gab oder weil es Streit gab. Ich habe nie geglaubt, dass es bequem sein könnte oder müsste oder sollte, sogenannte unbequeme Filme zu machen – das schließt sich ja eigentlich aus. Also auf ein bestimmtes Ausmaß an Streit, an mangelnder Freundlichkeit, an Zweifel aus der Richtung der Politik konnte man sich ja einrichten. Natürlich ist das Gespräch zu Ende, wenn Filme verboten werden. Worüber will man da noch reden? Was soll man denn für Filme machen, wenn dieses Land sich die Filme abbestellt?

Ich habe dann auch ein Jahr lang das Ganze gelassen, hab ein bisschen Prosa geschrieben, hab ein Hörspiel geschrieben, was dann ein Theaterstück wurde und noch heute läuft, "Fisch zu viert". Wunderlicherweise gibt es davon inzwischen fast 250 Inszenierungen, nicht Aufführungen. Ein privates Wunder, ein kleines Wunder. Aber wissen Sie, die Kulturpolitik, die dieses törichte Plenum veranstaltet hat, war ja nicht nur ein Film- oder Literaturproblem. Es war aus vielerlei Gründen, wie man nicht im selben Moment wusste, aber wie man später wusste, war es ein Versuch, die Gesellschaft zu disziplinieren. Es ist der Politik immer leichter gefallen, über Kunst zu reden als über die wirklichen Umstände, um die es ging. Und ein Gedanke, den wir dann immer gepflegt haben – ich meine, weil man ja, bei aller Bedrängnis, auch eine Menge gelacht hat –, sagten wir, es gibt keine Kartoffeln, wir werden große Lyrikdiskussionen haben. Also gut, das Geringste, was man tun konnte: Es nicht einsehen. Das war man sich aber auch selbst schuldig. Es war eine in sich verbiesterte Situation, aus der man irgendwann wieder raus musste. Und das führte dann… mein Freund und Partner Gerhard Klein war krank, da fing die Zusammenarbeit mit Konrad Wolf an, und daraus wurde dann der Film "Ich war neunzehn", weil er überlegte für sich auch, was kann ich denn mit Anstand machen?

Meyer: Konrad Wolf war ja ein ganz wichtiger Partner für Sie, für mehrere Filme. "Ich war neunzehn" haben Sie erwähnt, "Der nackte Mann auf dem Sportplatz" gehört dazu, dann natürlich "Solo Sunny", dieser ganz bekannte Film. Wie würden Sie benennen – Sie haben vorhin darüber gesprochen, was Sie mit Andreas Dresen verbunden hat –, was hat Sie mit Konrad Wolf verbunden? War das eine ähnlich enge Partnerschaft?

Kohlhaase: Das war eine enge Partnerschaft, weil auf eine andere, aber ähnliche Weise wie Dresen war er jemand, der Zusammenarbeit wollte und der Meinungen annahm und aufnahm. Und so hat sich angefangen mit "Ich war neunzehn" eine Art von Zusammenarbeit ergeben, die dazu führte, dass ich eigentlich beim Drehen fast immer dabei war.

Meyer: Einen Aspekt Ihrer Filme würde ich gerne noch ansprechen. "Solo Sunny" – waren wir gerade – ist ja ein Film, der, man hört es schon am Titel, eine Frau im Zentrum hat, bei "Sommer vorm Balkon" stehen zwei Frauen im Zentrum. "Die Stille vor dem Schuss", ein Film, den Sie mit Volker Schlöndorff gemacht haben, da geht es um Frauen im Mittelpunkt. Ihr neuestes Werk, da geht es um eine, ich glaube, etwa 20-jährige junge Frau, die aus China kommt. Woher kommt eigentlich, Wolfgang Kohlhaase, Ihr Faible für Filme mit Frauen im Mittelpunkt?

Kohlhaase: Also jeder zweite Mensch ist eine Frau, das fängt erst mal so ganz allgemein an. Man kommt an ihnen nicht vorbei. Ich weiß es nicht. Vielleicht haben mich Frauen und das, was mit ihnen geschieht, was um sie herum geschieht, vielleicht hat man das oft, ohne dass ich darüber nachdenke, mehr berührt, oder vielleicht hat sich in der Zeit meines Lebens, also solange ich dabei bin, für Frauen sehr viel mehr verändert als für Männer. Die alten Rollenmuster sind gekündigt und wirken trotzdem weiter. Wenn ich an die DDR zurückdenke, da fängt es ja an mit den Frauengeschichten, dann gab es eine bestimmte Gleichberechtigung, die wiederum aber im Alltag eine Art von Doppelbelastung war sehr oft. Oder wenn ich denke, dass – weiß ich nicht – 60 Prozent aller Scheidungen von Frauen eingereicht worden sind, dann ist das ja kein Nachweis, dass dies das Land der Glückseligen ist, aber es zeigt eine andere Art von Unabhängigkeit, die keineswegs nur mit Leichtigkeit benutzt werden konnte.

Aber das, denke ich in dem Moment, wo ich das jetzt sage, denke ich es eigentlich dazu: Warum dich ein Mensch berührt, warum du sagst, diese Geschichte möchte ich ganz gerne erzählen. Das ist ja viel naiver. Und wenn ich jetzt wieder sage, man muss bei Filmen ja nicht nur an Filmkunst denken, und dieses Wort, das ich sehr liebe, ist Kino, und dann sind eben die törichten oder die redlichen Mädchen, auf jeden Fall die schönen Mädchen sind eben im Kino unverzichtbar. Deshalb geht man hin, jedenfalls der männliche Teil des Publikums. Und in "Solo Sunny" steckt eben sehr viel ganz persönlich Erfahrenes, ich kannte solche Lebensgeschichten. Das andere ist aber, es ist auch wirklich ein klassisches Kinomuster. Es ist das Mädchen, das es besser verdient hätte. Funktioniert bis heute, es hat einen universellen Aspekt, obgleich die Geschichte, hoffe ich doch, sehr genau einen bestimmten Moment in der DDR beschreibt, aber man kann sie in einem Satz erzählen: Jemand hat eine besondere Idee von sich selbst, und schon beginnt der Ärger.

Du kommst doch in eine vorbereitete Welt, die bietet dir ihre Muster an, ihre Normen, die bringt dich in ihre soziale Realität, in der du günstiger oder ungünstiger platziert bist. Du suchst dir dein Land nicht aus, deine Zeit nicht aus, deine Eltern nicht aus. Erst wenn du das begreifst, gewinnst du eine gewisse Handlungsfreiheit, aber die ist in sich auch wieder beschränkt. Und dann hast du ein paar Jahrzehnte Zeit, dich mit dem Gegebenen einzurichten oder nicht einzurichten. Aber in jedem Fall reagierst du auf etwas, was auch ohne dich da ist. Also ich glaube, der Einzelne und die Gesellschaft und wie viel Freiheit gibt es und ist Freiheit ein magischer Begriff oder gibt es sie in diesem manchmal ausgerufenen Verständnis vielleicht gar nicht. Vielleicht gibt es Freiheiten, und davon nimmt sich jeder, so viel er kann. Und für viele ist da nicht viel da - das bleibt.

Informationen zu Wolfgang Kohlhaase beim Verband Deutscher Drehbuchautoren
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