Javier Sebastián: "Thallium"

Vergiftet von der Kolonialzeit

General Franco nimmt 1959 von der Tribüne des Präsidentenpalastes in Madrid eine Parade ab.
General Franco nimmt 1959 von der Tribüne des Präsidentenpalastes in Madrid eine Parade ab. © dpa
Von Maike Albath · 08.01.2016
In seinem neuen Roman "Thallium" lässt Javier Sebastián seine Heldin, die Journalistin Fátima Moreo, in der kolonialen Vergangenheit Spaniens nachforschen. Dabei entdeckt die junge Frau auch, was sich hinter der bürgerlichen Fassade ihres Vaters verbarg.
Ein älterer Herr pfeffert eine Boulekugel auf ein Auto, die Windschutzscheibe splittert, die Journalistin Fátima Moreo springt aus ihrem Wagen, packt ihre elfjährige Tochter und bemerkt noch, wie sich ein fremder Mann auf den Angreifer stürzt. Fátima kennt den empörten Rentner, der Gil Escolano heißt: Ein pensionierter Militär, der offenkundig mit ihrer gerade gesendeten TV-Dokumentation über die spanische Kolonialgeschichte nicht einverstanden ist. Hals über Kopf tritt sie eine Reise aufs Land an – per Fernbus, zur Finca ihrer Mutter nach Soria. Doch nach ein paar Stunden taucht ein Auto mit einer gesprungenen Windschutzscheibe am Horizont auf. Der Fahrer ist der unbekannte Helfer, an einer Raststätte kommt es zu einer Konfrontation, kurze Zeit später bricht der Mann zusammen. Am nächsten Morgen ist er tot, gestorben an mysteriösen inneren Blutungen.
Rasant und spannungsreich wie ein Krimi beginnt Javier Sebastiáns Roman "Thallium", im Original schon 2004 erschienen und nach dem preisgekrönten deutschen Debüt "Radfahrer von Tschernobyl" von 2012 das zweite Buch des spanischen Autors in deutscher Sprache. Bereits im "Radfahrer von Tschernobyl", einer beklemmenden Geschichte über einen Mann, der im Gebiet der Reaktorkatastrophe ausharrt und dafür bitter bezahlen muss, hatte Sebastián authentisches Material verwendet und Personen der Zeitgeschichte durch erfundene Figuren ergänzt. In "Thallium" verwendet er ein ähnliches Verfahren und unterfüttert historische Koordinaten mit Fiktion. Das Ergebnis ist eine ebenso fesselnde wie beunruhigende Rückschau auf verdrängte Kapitel postkolonialer Aktivitäten unter Franco in Afrika. Dass die koloniale Vergangenheit unaufhörlich im Untergrund arbeitet und die aktuellen politischen Entwicklungen mit bestimmt, wird auch formal gespiegelt.
Das Gift Thallium kommt zum Einsatz
Direkt eingelassen in die Zeitebene der Gegenwart, die um die Jahrtausendwende angesiedelt ist, sind nämlich Episoden aus dem Jahr 1968. Eine junge Frau namens Carmen Álvarez taucht auf, sie betreibt einen lukrativen Handel mit Trüffeln und fährt dafür regelmäßig nach Frankreich, wo sie einen Abnehmer hat. Bei einem dieser Ausflüge stößt die junge Mutter, Ehefrau eines Generals, auf einen gewissen Salinas, ebenfalls Angehöriger der spanischen Armee. Es entspinnt sich eine Affäre, die nach Äquatorialguinea führt, wo spanische und französische Militärs den Präsidenten bei seinem Kampf gegen die Opposition unterstützen – mit haarsträubenden Methoden, im Sinne der "französischen Doktrin", der im Algerienkrieg entwickelten asymmetrischen Kriegsführung. Das Gift Thallium, das schon nach wenigen Stunden nicht mehr im Körper nachweisbar ist, kommt zum Einsatz.
Mit bezwingender Logik entspinnt Javier Sebastián die Recherche seiner Heldin, der Journalistin Fátima, die entdecken muss, dass sich hinter der bürgerlichen Fassade ihres verstorbenen Vaters etwas ganz anderes verbarg. Die Auseinandersetzung mit den Verstrickungen der Elterngeneration in die Diktatur hat gerade erst begonnen. Sebastiáns Tonfall ist dabei niemals auftrumpfend, sondern poetisch-spröde und diskret. Wie atemberaubend Aufklärungsarbeit sein kann, zeigt Javier Sebastián in Thallium.

Javier Sebastián: Thallium
Aus dem Spanischen übersetzt von Ursula Bachhausen und Anja Lutter
Wagenbach Verlag, Berlin 2015
208 Seiten, 19,90 EUR, E-Book 17,99 EUR

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