Javier Marías: "So fängt das Schlimme an"

Wer zu früh aussteigt, verpasst das Beste

Der spanische Schriftsteller Javier Marías bei einer Buchpräsentation in Madrid.
Der spanische Schriftsteller Javier Marías bei einer Buchpräsentation in Madrid. © picture alliance / dpa / Juan Carlos Hidalgo
Von Tobias Wenzel · 23.09.2015
In seinem neuen Roman "So fängt das Schlimme an" erzählt der spanische Schriftsteller Javier Marías von dunklen Geheimnissen einer Ehe und von moralischen Verwerfungen. Zugleich spielt er gewitzt auf jene Menschen an, die seine ausschweifenden Bücher nicht zu Ende lesen. Wir trafen ihn bei einer Lesung in Berlin.
Javier Marías sitzt in einer Hotelsuite und liest den Anfang seines neuen Romans. Mit nur einem Auge. Das andere, das mit der Sehschwäche, hat der spanische Autor zugekniffen. Man sieht den einäugig lesenden Marías und denkt sofort an die einäugige Hauptfigur in "So fängt das Schlimme an".
1980 in Spanien. Der 23 Jahre junge Juan de Vere arbeitet als Privatsekretär im Haus des Filmregisseurs Eduardo Muriel. Der liegt gerne auf dem Fußboden, um nachzudenken, und trägt eine Augenklappe, die de Vere am liebsten einmal berühren würde:
"... manchmal tat Muriel genau das, er trommelte mit dem Rand des Fingernagels gegen die harte Klappe, als riefe er den nicht vorhandenen oder untauglichen Augapfel zu Hilfe, ein Geräusch, das ihm behagen musste und tatsächlich angenehm klang, krick krick krick; auch wenn es einen ein wenig schauderte, wie er da den fehlenden beschwor, bis man sich an die Geste gewöhnt hatte."
Wie man Spannung erzeugt
Das ist nur eine von vielen brillanten Charakterstudien in Javier Marías neuem Roman "So fängt das Schlimme an". Einmal mehr erweist sich der spanische Autor auch als ein Meister darin, kluge Gedanken über die Psyche des Menschen einzustreuen und gleichzeitig die für die Handlung entscheidenden Informationen lange zurückzuhalten, um Spannung zu erzeugen.
Warum trägt Eduardo Muriel eine Augenklappe? Was hat die Ehe von Eduardo und Beatriz vergiftet? Und stimmen die auf die Zeit der Franco-Diktatur zurückgehenden Gerüchte über den Arzt und Freund der Familie Jorge van Vechten?
Javier Marías: "Letztlich fußt alles, was wir wissen, nur auf Gerüchten. Gerüchte im Sinne von Hörensagen. Wenn Sie verheiratet sind, hat Ihnen Ihre Frau bestimmt von ihrer Kindheit erzählt, von ihren Eltern und so weiter. Aber diese Informationen stammen ja von Ihrer Frau. Welche Beweise haben Sie dafür, dass Ihre Frau die Wahrheit gesagt hat? Sicher weiß man so etwas nur, wenn man selbst Zeuge der Ereignisse war. Aber über das Leben anderer können wir letztlich nur sehr wenig bezeugen."
Eduardo Muriel setzt erst seinen Privatsekretär Juan de Vere als Spion auf den Arzt Jorge van Vechten an. Als der aber das Leben von Muriels Ehefrau rettet, verbietet der Filmregisseur seinem Angestellten, ihm von seinen Nachforschungen zu erzählen. Der einäugige Eduardo Muriel will auch im übertragenen Sinn auf einem Auge blind sein.
Hier liegt der moralische Kern des herausragenden Romans "So fängt das Schlimme an": Ist es vielleicht das kleinere Übel, nichts mehr auf das Hörensagen zu geben? Kann so ein größeres Übel wie falsche Verurteilungen oder tiefe Kränkungen vermieden werden?
Geflecht aus Begierde und Lügen
Der Privatsekretär nimmt es mit der Moral nicht so genau, wie er später, als gealterter Ich-Erzähler dieses Romans, eingesteht: Als junger Mann missbraucht er das Vertrauen seines Chefs und wird so selbst Teil des Geflechts aus Begierde, Lügen und dunklen Geheimnissen.
Javier Marías: "Der junge Mann, der mir beim Schreiben dieses Romans am nächsten war, war natürlich ich selbst in der Vergangenheit. Ich habe mich also daran erinnert, wie ich mit Anfang zwanzig war. Ich war damals schon ziemlich skrupellos und egoistisch. Ich habe mich manchmal von meiner Begierde leiten lassen. Es ist das Alter, in dem man leicht betrügt, falsche Komplimente macht, um zum Beispiel eine Frau rumzukriegen. Wie es im Roman heißt: Bei den jungen Leuten kommt das schlechte Gewissen verzögert, später."
Spät führt auch Javier Marías alle Fäden seines fulminanten und wunderbar von Susanne Lange übersetzten Romans zusammen. Marías spielt gewitzt auf jene Menschen an, die seine ausschweifenden Bücher nicht zu Ende lesen: Eine Nebenfigur verpasst große Enthüllungen, weil sie den Raum verlässt, nachdem ihr der Erzählende nicht schnell genug auf den Punkt gekommen ist.
Der geduldige Leser von "So fängt das Schlimme an" wird mit Weltliteratur belohnt: mit einem Roman, der von uns allen erzählt und mit einem einäugigen Mann beginnt, der genauso gerne auf dem Boden liegt wie Javier Marías:
"Das ist für mich sehr typisch. Ich liege auf dem Fußboden, um fernzusehen oder nachzudenken. Das ist gar nicht so übel da unten auf dem Boden!"

Javier Marías:So fängt das Schlimme an
Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange
S. Fischer 2015
638 Seiten. 24,99 Euro

Mehr zum Thema