Jan Techau, Direktor von Carnegie Europe

Verschiebt das billige Öl die globalen Machtverhältnisse?

Eine Erdölförderpumpe im Sonnenuntergang
Wer sind die Gewinner des Ölpreis-Verfalls, wer die Verlierer? © imago
Moderation: Patrick Garber · 17.01.2015
Der Ölpreis hat sich in den vergangenen Monaten mehr als halbiert und ein Ende der Talfahrt ist nicht absehbar. Was den Autofahrer freut, weil das Benzin billiger wird, hat das Zeug, die globalen Machtverhältnisse zu verschieben.
Deutschlandradio Kultur: Tacheles reden wir heute über Konflikte und über Öl und wie das eine mit dem anderen zu tun hat. Mein Gast ist Jan Techau. Er ist Politikwissenschaftler und Direktor von Carnegie Europe, der Brüsseler Niederlassung des Carnegie Endowment for International Peace. Das ist ein renommierter amerikanischer Think Tank, der sich seit rund hundert Jahren mit Friedens- und Konfliktforschung befasst. – Guten Tag, Herr Techau.
Jan Techau: Hallo, guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Reden wir zuerst über Konflikte, Herr Techau. Auf das Öl kommen wir dabei wahrscheinlich ganz von alleine. Der Konflikt um die Ost-Ukraine ist in den letzten Tagen wieder aufgeflammt. Der Waffenstillstand zwischen Regierung und Separatisten wird immer brüchiger. Täglich sterben dort Menschen bei Kämpfen und die Diplomatie kommt nicht voran. Warum ist das so? Ist der Westen zu uneins oder ist Russland zu stur?
Jan Techau: An dieser Ost-Ukraine-Frage hängt für den russischen Präsidenten, für Wladimir Putin einfach eine entscheidende Macht- und vielleicht auch politische Überlebensfrage. Und zwar ist es so, dass die Revolution in der Ukraine für ihn ja ein ganz starker Gesichtsverlust war und ein Einflussverlust in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.
Und um die Ukraine sozusagen nicht ganz preisgeben zu müssen, ist es sein Ziel, in der ukrainischen Innenpolitik ein Akteur zu bleiben, ein Machtfaktor zu bleiben, ein Veto-Spieler zu bleiben, wenn man es so ausdrücken will. Und der Weg für ihn, das zu tun, ist über die Ost-Ukraine. Er will dort mit einem Fuß drin bleiben, seinen Einfluss wahren über die Akteure, die dort vor Ort sozusagen seine Interessen vertreten, die er zwar nicht hundert Prozent unter Kontrolle hat, aber die doch im Wesentlichen seine Interessen dort vertreten und über die er den Konflikt nach oben und nach unten skalieren kann, also eskalieren und deeskalieren, so wie es in seinem politischen Interesse ist.
Das ist das Ziel. Deswegen kann es in der Ost-Ukraine nicht wirklich richtig zur Ruhe kommen. Solange dieses Moskauer Interesse an der Ukraine besteht, an diesem Glacis, an dieser Pufferzone, die es glaubt haben zu müssen gegenüber dem Westen, kann das nicht wirklich funktionieren. Deswegen ist auch dieser Waffenstillstand, dieses Minsker Abkommen, das, was eigentlich Ruhe bringen soll in der Ost-Ukraine, bisher nicht richtig zur Geltung gekommen – von Anfang an nicht.
Deutschlandradio Kultur: Das sieht ja so aus, als wolle Moskau auch diesen Konflikt einfrieren, wie man das so schön sagt, also gar keine von allen Beteiligten akzeptierte Lösung anstreben, sondern den Status quo in den abtrünnigen Gebieten in der Ost-Ukraine einzufrieren und aufrecht zu erhalten, wie man das ja schon macht seit Jahren in den georgischen Provinzen Abchasien und Süd-Ossetien. Was kann der Westen, was können EU und Nato dagegen überhaupt tun?
Jan Techau: Vermutlich nicht so richtig viel. Die Strategie, die in den letzten Monaten gefahren wurde vom Westen, war ganz klar, nämlich diese politische Aktionen von Putin, von Moskau mit einem hohen Preis zu belegen, einem hohen Wirtschaftspreis über die Sanktionen eben, um Moskau zu verstehen zu geben, dass diese Form von Politik, diese Form von Veränderung von Grenzen in Europa, von Annexion, wir reden ja auch hier von der Krim, dass das sozusagen nicht ganz kostenfrei für ihn abgeht.
Das ist auch schon die einzige Strategie, die wir so richtig haben. Eine militärische Strategie gibt es nicht. Das ist klar. Es war von vornherein klar, auch schon, bevor diese Krise anfing, dass der Westen keine militärischen Garantien für Länder in dieser Region aussprechen würde oder sie sogar vielleicht dann einlösen würde. Niemand zieht in den Krieg für die Krim. So bleiben also nur diplomatische und wirtschaftliche Maßnahmen. Das ist das, was der Westen tun kann.
Das ist eine Strategie, die schwierig ist, weil sie erstens natürlich auf großer Einigkeit im Westen selbst fußt und das zur Voraussetzung hat, und andererseits, weil es eine Langzeitstrategie ist, eine Long-Time-Strategy, die also nur über die langen Zeiträume wirklich wirken kann, während aber das eigentliche Spiel vor Ort immer eins ist, das sehr kurzfristig gespielt wird.
"Die EU-Nachbarschaftspolitik ist gescheitert"
Deutschlandradio Kultur: Was bedeutet das für die EU-Nachbarschaftspolitik in Richtung Osten? Ist die gescheitert? Neben der Ukraine strebt ja auch zum Beispiel Moldawien in Richtung Europäischer Union. Geht das jetzt alles gar nicht mehr?
Jan Techau: Also, die alte Nachbarschaftspolitik, wie sie bis Anfang oder Mitte letzten Jahres noch galt, ist ganz sicher gescheitert. Da hat die EU nichts von dem erreicht, was sie sich als hehres Ziel mal gesetzt hatte. Und die Ukraine ist dafür das beste Beispiel. Aber Sie haben zum Beispiel Moldawien oder Moldau auch genannt. Da findet das Ganze in etwas kleinerem Maßstab statt, allerdings noch nicht in dieser Eskalation, wie wir sie in der Ukraine gesehen haben. Auch hier hat der Westen das Ziel gehabt, im Grunde einem Land auf die Sprünge zu helfen und ein Land selbst entscheiden zu lassen, wie es sich wirtschaftlich und politisch orientieren will.
In der Ukraine ist da sozusagen ein Riegel davorgeschoben worden. Als die Ukraine sich Richtung Westen orientieren wollte, da haben die Akteure in Moskau und auch in der Ukraine selbst nochmal den Riegel vorgeschoben, was dann zur Revolution führte.
In Moldau sieht das Ganze noch ein bisschen anders aus. Da ist es so, dass die politische Elite, um es mal etwas vereinfacht zu sagen, ganz unabhängig davon, wo sie steht, eigentlich an der Veränderung des Status quo kein wirkliches Interesse hat. Die wollen in dieser bequemen Zwischenlage zwischen Russland einerseits und dem Westen andererseits möglichst bleiben. Das führt dazu, dass deren Privilegien sozusagen gesichert sind und dass der Zugang zu wirtschaftlicher Entwicklung so halbwegs gegeben ist, was dann eben auch zur Bereicherung der Eliten führt, dass sie sich sozusagen an den Töpfen da bedienen können.
Wenn kein wirkliches Reforminteresse vor Ort in den politischen Eliten selbst entsteht, dann kann der westliche Ansatz, der westliche Nachbarschaftsansatz nicht greifen. Und so hat sich Moldau als kleines Land ganz exemplarisch im Grunde herausgestellt als Beispiel dafür, warum diese Politik nicht funktionieren kann. Es sind letztlich die politischen Eliten vor Ort, die das wollen müssen. Wenn sie das nicht wollen, dann kann der Westen niemanden zwingen, will auch niemanden zwingen, kann aber auch seine ganzen Soft-Power-Faktoren, also alles das, was den Westen stark macht, die Marktkraft und das Versprechen auf eine bessere Zukunft, nicht zur Geltung bringen.
Das ist das Dilemma des Westens, dass er hier im Grunde in einem geopolitischen Machtspiel Beteiligter ist, aber nicht wirklich Geopolitik spielen kann, sondern über die Soft-Power kommen muss, weil das das einzige Instrument ist, das man hat.
Deutschlandradio Kultur: Man hat ja auch noch die Hard-Power, nämlich die Nato. Zyniker sagen ja, dass durch den Konflikt mit Russland das Bündnis endlich einen Ausweg aus seiner Sinnkrise finden könne, in der es seit dem Ende des Kalten Krieges steckt. – Ist das so?
Jan Techau: Ich fand das immer etwas übertrieben. Ich habe die Krise der Nato eigentlich ganz anders wahrgenommen. Es gab natürlich eine Sinnkrise der Nato, aber die hat sich weniger aus dem Wegfall des alten Feindbildes ergeben, was so ein bisschen die allgemeine landläufige These ist, sondern sie hat sich viel stärker eigentlich aus dem Nichtweiterkommen und aus dem im Grunde ja auch gescheiterten Einsatz in Afghanistan ergeben.
In Afghanistan hat man zwar einige kurzfristige Erfolge erzielt, aber im Grunde ist doch die ganze Mission, wie man sie sich gedacht hatte, wie sie auch dauerhaft zur Stabilisierung eines Landes führen sollte, nichts geworden. Das war sozusagen die Krise, die in der Nato wirklich am Laufen war.
Und dann kam die Eskalation in der Ukraine. Natürlich sind dann alte Instinkte wieder aufgewacht. Aber wenn man sich die Geschichte und auch die Diskussionen in der Nato der letzten fünf oder zehn Jahre angeguckt hat, dann darf man nicht vergessen, dass man trotz Afghanistan und der Krise, die ich gerade erwähnt hatte, auch immer wieder fast mantra-artig darauf hingewiesen hat, dass es noch ein anderes Kerngeschäft der Nato gibt, nämlich Artikel 5, die Verteidigung des Allianz-Territoriums. Das war ein bisschen in Vergessenheit geraten und wurde auch ein bisschen belächelt, gerade auch in Deutschland, aber nicht nur.
Das ist jetzt wieder da und die Nato hat dann in Wales auf dem Gipfel im vergangenen Herbst die Konsequenzen gezogen und hat sich an ihren Kernauftrag erinnert und da recht ambitionierte Beschlüsse gefasst.
Die große Krise, die jetzt auf die Nato zurollt, ist, diese Beschlüsse von Wales mit Leben zu erfüllen, die eben, wie gesagt, recht ambitioniert sind, auch sehr teuer werden.
Deutschlandradio Kultur: Die Nato hat ja ganz schön ausgedünnt. Man hat die Verteidigungsetats zurückgefahren, die Truppen reduziert, sich mehr auf Auslandseinsätze als auf die Territorialverteidigung konzentriert. Jetzt muss das alles wieder umgebaut werden. Sind die Europäer, gerade die europäischen Nato-Partner und auch die Deutschen dazu politisch bereit und finanziell in der Lage, wo man doch noch ziemlich an der Eurokrise herumlaboriert, was das Finanzielle angeht, und hierzulande ja auch eine ziemlich pazifistische Grundstimmung herrscht?
Jan Techau: Da gibt es innerhalb der Nato ein sehr gemischtes Bild. Es gibt einige Länder, die haben den Ernst der Lage erkannt. Das liegt meist an ihrer eigenen territorialen Exponiertheit. Die sind einfach geographisch so gelegen, dass sie diese Bedrohung, die sie wahrnehmen, sehr intensiv wahrnehmen – aus dem Osten, aus eben diesem russischen Exempel, dass Territorium von Russland annektiert wird, wenn Russland das für nötig hält. Das jagt denen einen Schrecken ein. Diese Länder sind bereit, da einzusteigen, haben auch ihre Verteidigungsetats entsprechend erhöht und sind politisch sehr aktiv, um die Nato da sozusagen aktiv zu halten.
Andere Länder innerhalb der Nato – und Deutschland gehört da beileibe nicht zu Einzelnen, sondern das ist ein relativ breites Phänomen innerhalb der Nato – sind da weniger bereit dazu, einerseits aus wirtschaftlichen Gründen, andererseits vielleicht aus Pazifismus. Aber noch wichtiger als der Pazifismus ist, dass sich ganz viele in der Nato einfach nicht bedroht fühlen. Für die hat das einfach nicht dieselbe Dringlichkeit, wie das beispielsweise für die Polen oder für die baltischen Staaten oder auch für Länder wie Bulgarien gilt. Die fühlen das stärker.
Und im Süden Europas, in Italien, in Spanien, in Portugal, aber auch im äußersten Westen findet man das alles nicht so furchtbar schlimm. Das heißt, da wird viel weniger politische Kraft und auch entsprechend viel weniger Geld bereitgestellt, jedenfalls nicht so leicht, um dann diese Nato-Beschlüsse dann auch dauerhaft mit Leben zu füllen. Das ist diese interne Debatte, die in der Nato im Moment ganz intensiv geführt wird.
Deutschlandradio Kultur: Herr Techau, in der Ukraine-Frage arbeitet der Westen nicht nur diplomatisch oder durch Aufrüsten bei der Nato, sondern auch mit Wirtschaftssanktionen. Die treffen Russland ziemlich hart, auch weil Russland noch andere wirtschaftliche Probleme hat, über die wir gleich reden wollen. – Aber jetzt erstmal die Sanktionen: Können die früher oder später ein Einlenken Moskaus bewirken oder eher eine Verhärtung der russischen Position?
"Kurzfristig können Sanktionen kaum was bewegen"
Jan Techau: Sanktionen sind immer ein zweischneidiges Schwert, Wenn sie auf das politische Verhalten eines Gegenübers abzielen, also, das zu verändern, dann haben sie manchmal Chance und manchmal Aussicht auf Erfolg. Aber meist ist der erste Effekt, den man damit erzielt, tatsächlich eher, dass das Land sich sozusagen in seiner Position noch verhärtet, dass es auch die internen politischen Verwerfungen, die es oft in diesen Ländern ja gibt, dann eher schließt und dass es dann sozusagen eine Solidarität gibt und dass man eher das Gegenteil von dem erzeugt, was man da erzielen will. Deswegen sind Sanktionen meistens auch eher langfristig angelegt. Kurzfristig können sie kaum was bewegen und langfristig vielleicht in Zukunft.
In der Russlandfrage, wie wir sie jetzt erleben, ist das ein interessantes Bild, weil man nicht ganz genau weiß, wie viel von dem Effekt, den das im Moment auf Russland hat, ist eigentlich durch die Sanktionen bewirkt, und wie viel davon kommt vor allen Dingen über den niedrigen Ölpreis rein, der ja durch Zufall gleichzeitig mit diesen Sanktionen auch noch auf Russland einwirkt, nicht nur auf Russland, aber vor allem.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade schon die Probleme, die Russland mit dem verfallenden Preis für Erdöl hat, erwähnt. Dieser Preis hat sich weltweit im vergangenen halben Jahr mehr als halbiert. Das trifft Russland als einen der größten Ölexporteure der Welt hart. Der russische Staatshaushalt bezieht ja mehr als 50 Prozent seiner Einnahmen aus dem Öl- und Gas-Geschäft. Da fällt jetzt vieles weg. Und die Folgen sind: Der Rubelkurs stürzt ab. Die Inflation steigt massiv. Russland rutscht wohl in eine Rezession. Macht das die Russen außenpolitisch gefährlicher oder zumindest unberechenbarer?
Jan Techau: Das ist nicht ganz klar. Da scheiden sich die Geister. Einige sagen, dass das langfristig einen mildernden Effekt auf Russland haben muss, denn Russland ist ja nicht sozusagen suizidal veranlagt. Die wollen ja überleben. Die wollen ja weitermachen, also werden sie irgendwann einlenken müssen.
Andere sagen, in Wirklichkeit geht es hier um etwas anderes, nämlich um einen Überlebenskampf letztlich auch von Präsident Putin und seiner unmittelbaren Gruppe von Führenden, die dieses Regime im Kern ausmachen. Und wenn die so stark unter Druck geraten, auch ökonomisch, dass sie über Geld eben auch nicht mehr die Allianzen im eigenen Land bezahlen können, die letztlich für ihren Machterhalt entscheidend sind, dann kann es durchaus sein, dass Putin nicht gemäßigter reagieren wird, sondern noch stärker auf die Eskalation aus ist, externe Konflikte versucht sozusagen anzuheizen, um intern damit Stabilität an der eigenen Heimatfront herzustellen.
Für beides gibt es Anzeichen. Es gibt auch in Russland eine Debatte im engsten Kreis um Putin herum, wie man mit der Sache umgehen soll. Es gibt durchaus Befürworter eines weicheren Kurses dort. Die sagen, unsere Politik ist gescheitert, wir müüsen was ändern. Und es gibt andere, die sagen: Nein, jetzt erst Recht. Wir können jetzt hier nicht einknicken. – Wer da am Ende den Sieg davontragen wird, ist so ein bisschen wie in den 80er Jahren als wir immer die sogenannte Kreml-Astrologie hatten, wo wir nicht genau wussten, wer da eigentlich intern im Moment gerade in der Mehrheitsmeinung ist. So ist es auch ein bisschen hier. Momentan deuten die Anzeichen eher darauf hin, dass der harte Kurs beibehalten wird und dass man bereit ist, die ökonomischen Folgen noch eine Weile zu tragen.
Deutschlandradio Kultur: Wie rasant der Ölpreis in den letzten Monaten gesunken ist, hat auch Fachleute etwas überrascht. Zumindest in Russland sieht man als Grund dafür ein abgekartetes Spiel der beiden großen Ölproduzenten Saudi-Arabien und USA. Die sollen sich angeblich den Markt mit Öl aufteilen und ihn überschwemmen, um die Preise zu drücken und damit Russland zu schaden. Ist das eine Verschwörungstheorie oder sehen wir derzeit tatsächlich einen politisch beeinflussten Ölpreis?
Jan Techau: Nein, das ist eine Verschwörungstheorie. Wenn Sie sich angucken, wie komplex, aus welchen komplexen Faktoren und aus welcher Gemengelage sich der Ölpreis ergibt, dann ist so eine einfache Erklärung über zwei Akteure, die hier versuchen das Spiel unter sich aufzuteilen, zu einfach. So funktioniert das nicht.
Abgesehen davon sind ja auch Saudi-Arabien und die Vereinigten Staaten in dieser Sache gar nicht auf derselben Seite. Ein Grund, warum Saudi-Arabien seine eigene Ölproduktion nicht drosselt, um den Ölpreis wieder steigen zu lassen, ist, dass es versucht, über den sehr, sehr niedrigen Ölpreis die amerikanische Konkurrenz, vor allem die shale-gas und shale-oil, also diese Schiefer-Gase und Schiefer-Öle, die in Amerika jetzt zu dieser Revolution geführt haben, im Grunde unrentabel zu machen und aus dem Markt zu drängen.
Saudi-Arabien kann es sich aufgrund seiner enormen Finanzreserven, aber auch aufgrund der niedrigen Förderkosten, es fördert Öl zu ganz geringen Preisen, leisten, so einen niedrigen Ölpreis eine ganze Weile lang auszuhalten. Die amerikanischen shale-gas-Investoren können das aber nicht auf Dauer unbegrenzt, weil sie relativ teuer fördern und weil ihre Investitionen in diese Energie zum Teil auch durch Risikokapital, also durch Schulden, ermöglicht worden sind in der Hoffnung, dass der Ölpreis hoch bleibt und die zu erreichenden Erträge auch hoch.
Das heißt, der niedrige Ölpreis macht auf Dauer diese shale-Revolution in Amerika durchaus unrentabler und daran haben die Amerikaner natürlich überhaupt kein Interesse. Insofern gibt es da durchaus sich widerstrebende Interessenlagen zwischen den beiden Hauptakteuren, die hier angeblich hinter dieser Verschwörung stecken sollen.
Der Grund für den niedrigen Ölpreis liegt ganz woanders. Es gibt erstens eine sinkende Nachfrage. Die Weltwirtschaft ist eher schwächelnd. Deswegen gibt es eine Übermenge an Öl im Markt. Das heißt, der Preis sinkt. Und der andere Grund ist der, dass Länder beispielsweise wie Libyen, aber auch Syrien wieder in den Markt drängen mit Produktionen, die sie immer schon hatten, die vorher aus dem Markt rausgefallen waren aufgrund der politischen Verwerfungen dort. Die sind jetzt wieder im Markt. Die produzieren, die werfen das rein. Die brauchen dieses Geld ganz dringend für ihren Aufbau intern. Und die senken den Ölpreis noch zusätzlich, ganz abgesehen davon, dass wir auch einen technischen Fortschritt haben, der zu höheren Effizienzen führt im Ölverbrauch. Das heißt, auch auf der Verbrauchsseite sinkt im Grunde die Nachfrage.
Das sind mehrere Tendenzen, die sich verstärken und die zu diesem niedrigen Ölpreis führen, die für den Westen im Allgemeinen ganz gut sind, weil sie die Wirtschaft ankurbeln, aber für Länder, die eben fast ausschließlich darauf fixiert sind, ihre Erträge, ihre Haushalte durch Öleinnahmen zu bestreiten, wie Russland, wie Nigeria, wie Iran oder wie Venezuela, für die ist das natürlich verheerend.
Deutschlandradio Kultur: Für die ist es verheerend. Gerade Venezuela und Nigeria, was Sie angesprochen haben, dürften bald große wirtschaftliche Schwierigkeiten haben, vielleicht sogar vor dem Staatsbankrott stehen. Und wenn wir an Nigeria denken, die kämpfen ja zurzeit gegen die Terrormiliz Boko Haram, haben also große innere Probleme. – Könnten diese Staaten zusammenbrechen, wenn die Talfahrt des Ölpreises anhält?
Jan Techau: Also, ich bin kein Experte für diese afrikanischen Staaten, die eine ganz eigene politische Dynamik haben und eine ganz eigene interne Verfasstheit. Aber die Gefahr wird immer wieder beschworen, dass Länder wie Nigeria und auch andere zusammenbrechen könnten, weil die Einkünfte wegbrechen.
Nun muss man dazu sagen, dass der Ölpreis ein Phänomen verstärkt, das ohnehin vorher schon da war. Diese Länder waren ja nie wirtschaftlich stark. Und sie haben den Reichtum, den sie im Prinzip mit dem Öl im eigenen Land haben und erzielen können, ja auch auf eine so brutale Art und Weise verschwendet und im Grunde versickern lassen durch eine Korruption, die sozusagen auf gar keiner Skala mehr wirklich messbar ist, so dass auch keine Reserven gebildet wurden, dass keine wirtschaftlichen Investitionen erzeugt werden konnten, dass andere Wirtschaftszweige florieren können usw. Hier sind also Staaten, die haben sich so einseitig auf dieses Geschäft eingelassen und haben so wenig vorausschauend gewirtschaftet, dass sie jetzt nicht nur Opfer des niedrigen Ölpreises werden, sondern auch Opfer der eigenen verfehlten Wirtschaftspolitik.
Dass das dann wieder geopolitische Folgen haben wird, wenn diese Länder zusammenbrechen und dann sozusagen ein Machtvakuum entsteht, failed states, die dann wieder zum breeding ground, zur Brutstätte von Terrorismus und organisierter Kriminalität werden können, das ist dann die Folge. Und damit schließt sich sozusagen der Kreis. Dann wird man wieder über Interventionen reden, wenn es dort zu Verwerfungen kommt, oder islamische Fundamentalisten dann dieses Territorium besetzen, um von dort aus zu operieren.
Also, es ist eine insgesamt ganz komplizierte Weltlage in dieser Region. Und die wird sich noch eine ganze Weile nicht nur über den Ölpreis, sondern auch über andere Phänomene eher verschärfen.
Deutschlandradio Kultur: Andere Weltgegenden ziehen eher Vorteile aus dem billigen Öl, vor allem die großen Öl-Importeure China und Indien. Beschleunigt das den Aufstieg Asiens, vor allem dieser beiden großen Schwellenländer in Asien, hin zu einem Status als Global Player?
Jan Techau: Also, für China und für Indien ist das natürlich ein warmer Regen, aber auch für die Europäer ist es durchaus so. Es ist sozusagen eine Art weltweite Steuersenkung, kann man sagen, ein weltweites Konjunkturprogramm über Steuersenkung, weil einfach die Kosten von Produktion, die Kosten von Transport massiv sinken und dadurch Güter einfacher werden, Handelsinteraktion einfacher wird und die Kosten für den Verbraucher einfach im Endeffekt deutlich sinken. Das Geld wird dann anderswo ausgegeben – meistens, so dass China und Indien davon profitieren, aber auch die Ökonomien Westeuropas.
Die Kehrseite der Medaille ist zweierlei. Erstens dass Investitionen in alternative Energien natürlich unattraktiver werden, wenn der fossile Energiepreis so niedrig ist. Da muss man also mit noch viel größerem Druck darauf hinwirken, wenn man das will, wenn man will, dass andere Energieformen gefördert werden. Es ist schwieriger, dieses Argument einzuführen in die Debatte, wenn der Ölpreis so niedrig ist und die Leute sich freuen über niedrige Spritpreise und Heizölpreise.
Der andere Effekt ist der, dass natürlich auch die Investition in die Ölförderung selbst stoppt. Das heißt, wenn es weniger lukrativ ist, in Öl zu investieren seitens der Ölfirmen, neue Felder zu erschließen, neue Fördertechnologien, die teuer sind, einzuführen, die dann noch effizienter sind, dann hat das über mittelfristige und langfristige Sicht durchaus dann den Effekt, dass der Ölpreis wieder steigt.
Deutschlandradio Kultur: Dass der Ölpreis wahrscheinlich noch für eine Weile unten bleibt, liegt auch daran, dass die USA vom größten Ölimporteur der Welt zu einem der größten Produzenten geworden sind. Die Amerikaner verdanken das dem schon erwähnten Fracking, also jener ökologisch höchst bedenklichen Fördermethode, mittels derer sie gewaltige neue Ölvorkommen in ihrem eigenen Land erschließen. – Sind die USA auf dem Weg, energetische Selbstversorger zu werden?
Jan Techau: Also, die komplette Autarkie Amerikas im Energiebereich ist nicht zu erwarten. Das wird so schnell nicht passieren. So schnell kann Fracking den gesamten Energiebedarf Amerikas nicht decken, abgesehen davon, dass Fracking eben auch wirtschaftlichen Schwankungen unterliegt. Wir hatten das ja vorhin schon erwähnt, dass der niedrige Ölpreis durchaus auch die Investitionen in Fracking etwas weniger attraktiv erscheinen lassen. Das heißt, die Frage, ob das ungebrochen weitergehen kann, steht auch im Raume.
Der andere Faktor, weswegen Amerika sich nicht komplett aus dem weltweiten Energiespiel herausziehen kann, ist, dass es nicht nur um die faktische Energiequelle selbst geht, sondern vor allen Dingen um den Preis. Und der Ölpreis, wie wir jetzt eben erfahren, wird ja nicht nur über shale gemacht, über ihr eigenes Schieferenergievorkommen, sondern an den Weltmärkten für Öl und Gas. Da gibt es eben gewichtige andere Akteure mit der OPEC und mit anderen Akteuren, die in diesem Spiel drin sind.
Das heißt, da die Amerikaner weiter interessiert bleiben an der Frage, wie sich der Öl- und Energiepreis bildet, bleiben sie auch interessiert an den politischen Fragen, die da dranhängen. Sie können sich nicht völlig von den Energiefragen abkoppeln. Und sie können sich deswegen auch nicht völlig als geopolitischer Akteur aus dem Nahen Osten herausziehen, weil der Kernpreisfaktor für Energie immer noch dort liegt, weniger als in Amerika, auch wenn Amerika ein bedeutend wichtigerer Akteur geworden ist in den letzten fünf Jahren, als es das vorher war.
Deutschlandradio Kultur: Das ist interessant, dass Sie das ansprechen, weil, das ist ja eine der Theorien, die in letzter Zeit rumgeistert, dass die Amerikaner das Interesse am Nahen Osten verlieren könnten, je unabhängiger sie von dem Öl aus dieser Region werden. – Das sehen Sie also nicht so?
Jan Techau: Nein, das ist eine zu einfache Rechnung, die davon ausgeht, dass es letztlich nur um das physische Öl geht, das nach Amerika geliefert wird aus dieser Region. Und wenn das weniger wird, wird es auch sozusagen weniger amerikanisches Interesse an der Region geben. Das ist nicht der Fall. Es ist der Preis, um den es letztlich geht.
Es gibt im Grunde zwei zentrale geopolitische Interessen Amerikas am Nahen Osten. Das erste ist, dass sich der Ölpreis am Markt bildet und nicht von jemandem diktiert wird, der auf den größten Reserven sitzt. Deswegen sind die Amerikaner an einer allgemeinen Machtbalance in dieser Region interessiert, so dass niemand als dominanter Akteur in der Region auftreten kann. Und das zweite geopolitische Interesse ist die Sicherheit Israels. Das sind die beiden großen Akteure.
Der zweite Faktor Israel ändert sich ohnehin nicht und der erste Faktor wird vielleicht ein bisschen schwächer, aber er ändert sich auch nicht grundsätzlich, weil, wie gesagt, die Ölpreisfrage für die Amerikaner immer noch auch wichtig und auch mit entscheidend ist. Und da sie selbst bei maximaler shale-Förderung nicht der einzige Faktor in dieser Preisgestaltung selber bleiben, bleibt das politische Interesse Amerikas an dieser Region bestehen, übrigens auch das politische Interesse der Europäer, die ja insgesamt genauso wie die Amerikaner ein Interesse daran haben, dass die Preisentwicklung stabil bleibt, und deswegen indirekt ein genauso wichtiger Akteur immer im Nahen Osten waren und ein genauso wichtiges Interesse daran hatten an der Stabilität in der Region, aber selber eben nicht als militärischer Akteur in der Region aufgetreten sind.
Wir hatten im Westen ganz klar immer im Grunde ein identisches Interesse, wie das der Amerikaner, auch wenn wir das oft nicht wahrhaben wollten und wenn uns das auch oft politisch sozusagen sauer aufstößt, weil wir die amerikanische Politik in der Region nicht attraktiv finden.
Deutschlandradio Kultur: Herr Techau, Sie arbeiten für eine amerikanische Stiftung mit Dienstort Brüssel. Vorher waren Sie an einer Forschungseinrichtung der Nato in Italien. Sie schauen also schon seit etlichen Jahren eher von außen auf Deutschland. Sind wir Deutschen eigentlich auf der Höhe der Zeit, wenn wir uns aus Konflikten eher heraushalten wollen und dabei verlernen Rüstungsgüter zu bauen, die auch noch funktionieren? Und wenn wir angesichts eines möglicherweise anbrechenden neuen Ölzeitalters erstmal die Energiewende durchziehen wollen?
"Die Deutschen haben ein großes Bedürfnis danach, moralisch sauber zu bleiben"
Jan Techau: Das sind so viele Fragen, das muss man vielleicht mal ein bisschen auseinandernehmen.
Was die Energiewende angeht, sind wir durchaus auf der Höhe der Zeit. Das ist etwas, was auf mittlere und lange Sicht notwendig ist. Und wenn das geschafft wird, wenn die Deutschen das tatsächlich hinkriegen, was sie übrigens ja nicht ganz alleine werden schaffen können, sie sind ja in Energieverbünde und Netze auch eingebunden, dann ist das natürlich schon eine Revolution. Da steht Deutschland dann sozusagen an der Spitze einer wirklich markanten Umwälzung. Das ist nicht nur für die Umwelt und für den Globus gut, sondern am Ende auch strategisch, politisch für Europa und für Deutschland speziell nützlich. Insofern sollte man sich da nicht beirren lassen, auch wenn das gegenwärtige Konzept der Bundesregierung, was die Energiewende angeht, sicher noch lange nicht ausgegoren ist und da noch viele Hürden zu überwinden sind.
Aber international wird das mit großem Interesse betrachtet, nicht zuletzt in Russland, die sich natürlich vor der Energiewende fürchten, weil das Deutschland mittel- und langfristig sehr viel weniger von russischen Energielieferungen abhängig machen würde, als es derzeit der Fall ist. Das ist der eine Punkt.
Wenn es um die Frage der deutschen Einstellung zu dieser Frage von Konflikt geht, dann gibt es da ja zwei Herzen in der deutschen Brust. Das eine: Einerseits ist man aufgrund der eigenen Größe, aufgrund der eigenen geografischen Lage und der eigenen Wirtschaftskraft mittlerweile in eine Position geraten, in der man sich vor der eigenen politischen Kraft nicht mehr verstecken kann. Das war lange Zeit möglich, gerade während des Kalten Krieges, aber auch danach, noch von den Deutschen sehr geschätzt, dass man im Grunde geopolitisch am Spielfeldrand spielte und davon nicht so sehr betroffen war und man sich nicht exponieren musste. Diese Zeit ist vorbei. Da sind sicherlich viele Deutsche noch nicht auf der Höhe der Zeit, die dieses im Grunde instinktiv ablehnen. Deutschland wird eine viel stärkere Rolle als außenpolitischer Akteur spielen müssen. Frau Merkel hat das in der Russland- und Ukraine-Krise schon getan – übrigens mit einer relativ hohen Zustimmung der Deutschen. Aber insgesamt ist das doch etwas, was den Deutschen oft so ein bisschen unheimlich ist. Aber das wird so leicht nicht wieder zu ändern sein. Das ist in der Natur der Sache.
Was die Frage von militärischen Konflikten angeht, ist die Sache nochmal komplexer. Hier geht es ja nicht nur um eine historische Lektion der Deutschen, eine historische Grundbefindlichkeit Deutschlands. Es geht hier, glaube ich, auch gar nicht um Pazifismus, sondern es geht hier um den Wunsch, im Grunde in solchen Fragen moralisch nicht wieder in schweres Fahrwasser zu geraten. Die Deutschen haben ein unglaublich großes Bedürfnis danach, moralisch sauber zu bleiben in Fragen der internationalen Politik und vor allen Dingen in militärischen Fragen. Man hat hier einmal geschichtlich sich mit großem Elan und großem Idealismus in die völlig falsche Richtung bewegt, ist so verbrannt worden an seiner eigenen Ambition, dass man jetzt im Grunde alle diese Fragen ständig nach dem moralischen Wert vor allen Dingen bewertet.
Da es aber in Fragen der internationalen Politik diese Frage von moralisch sauber und moralisch nicht sauber, also diese Schwarz-Weiß-Frage, diese Abwägung im Grunde so nicht gibt, sondern man sich immer in dem grauen Feld von lauter Zwischenlösungen, die meistens nicht ideal sind, befindet, führt dieser deutsche Drang, moralisch sauber zu bleiben, oft dazu, dass man sozusagen politisch nicht wirklich handlungsfähig ist, dass man das Gefühl hat, man bleibt am liebsten draußen und stellt sich dieser moralischen Abwägungsfrage nicht.
Das ist das, was in Deutschland in der Debatte so stark zu spüren ist, dass man im Grunde jede dieser Konfliktfragen, jede dieser auch am Ende des Tages militärischen Fragen zunächst mal moralisch bewertet vor dem Hintergrund: Wie können wir selber da sauber rauskommen? Die Grundannahme, dass man moralische Kompromisse machen muss, ist in Deutschland sehr schwer vermittelbar. Das ist der blinde Fleck in der deutschen Debatte, dass Fragen wie Interesse und wie Verantwortung gegenüber anderen immer erst an zweiter oder dritter Stelle in der Debatte kommen und nicht an erster, sondern dass wir uns zunächst mal in der Debatte vor allen Dingen um unsere eigene moralische Sauberkeit drehen.
Das ist historisch verständlich, macht uns aber zu einem merkwürdigen Fall für viele Europäer. Ich merke das hier in Brüssel sehr stark. Ich versuche denen das zu erklären. Das ist für Franzosen und für Briten oder für Belgier und Niederländer, auch für Polen nur bedingt verständlich. Da müssen wir versuchen denen zu vermitteln, was uns umtreibt und warum wir an dieser Stelle besonders sind. Ansonsten erzeugen wir Konflikte, die die nicht verstehen und die uns ins politische Abseits führen.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.

Jan Techau, geboren 1972, ist Direktor des Europa-Büros der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden in Brüssel. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Europäische Integration, transatlantische Beziehungen und Sicherheitspolitik. Zuvor war Techau als Forscher für die NATO und die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik tätig. Von 2001 bis 2006 arbeitete er im Bundesverteidigungsministerium. Techau studierte Politikwissenschaft in Kiel und an der Pennsylvania State University.