Donnerstag, 28. März 2024

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Neuer Roman von Jonathan Safran Foer
Suche nach Identität

Jonathan Safran Foer hat mit "Hier bin ich" einen großen Roman über die Liebe und deren Wandelbarkeit geschrieben, über Menschen, die sich lieben und doch einander fremd werden. Seine Protagonisten stellen die großen Fragen: Wer bin ich? Wer will ich sein? In seinem Haus in Brooklyn sprach Foer über sein neues Buch.

Von Simone Hamm | 11.11.2016
    Jonathan Safran Foer
    Jonathan Safran Foer (imago/Leemage)
    Vier Generationen der Familie Bloch leben in Washington DC: Jacob und Julia mit ihren drei Söhnen, Jacobs Vater und sein Großvater. Sie haben Probleme wie andere auch. Jacob ist Drehbuchautor und arbeitet heimlich an einer Fernsehshow. Julia ist Architektin ohne Aufträge. Der Großvater will nicht ins Altersheim. Der Rabbi zitiert Jacob und Julia herbei und erzählt ihnen, ihr Sohn Sam habe "böse" Worte auf sein Pult geschrieben, ja, sogar das N-Wort sei darunter gewesen. Irv, der zornige Vater schreibt einen Blog, indem er die israelischen Extremisten lobt.
    Die Familie diskutiert darüber, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Man diskutiert überhaupt immer und über alles. Die Kinder leben in virtuellen Welten. Der Hund ist alt und inkontinent.
    "Hier bin ich" ist ein Zitat aus dem Alten Testament. Es ist die Antwort, die Abraham gegeben hat, als Gott ihm befahl, seinen Sohn Isaac zu opfern. Da steht er, unerschütterlich in seinem Glauben an Gott. In der Familie von Jacob und Julia fehlt dieser unerschütterliche Glaube: der Glaube an Gott, der Glaube an die Familie, der Glaube an die Liebe.
    Gleich zweimal wird die Welt der Blochs erschüttert
    "Hier bin ich" ist ein Roman mit vielen schnellen Dialogen, langen Monologen, aufgebrachten Diskussionen, verrückten Wortspielen. Hinter dieser Rasanz verbirgt sich eine tiefe Melancholie. Denn die Protagonisten sprechen das wirklich Entscheidende nicht an. Und daran scheitert die Ehe von Julia und Jacob:
    "Dann diese kleinen, unausgesprochenen Missverständnisse. Du hast mich immer geküsst, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam und jetzt tust Du es nicht mehr. Ich spreche nicht darüber, das wäre peinlich. Aber anstatt Dir morgens auch eine Tasse Kaffee aufzubrühen, mache ich nur noch eine für mich. Eine Kleinigkeit, ein ganz und gar unwichtiger Reflex. Und diese kleinen Dinge essen die Beziehung auf. Das ist wie das Gleichnis vom Frosch, der gekocht wird. Wenn man die Temperatur im Kochtopf ganz leicht erhöht, merkt er das gar nicht. Und dann ist er tot."
    Ganz langsam haben sich Julia und Jacob voneinander entfernt. So langsam, dass sie es kaum bemerkt haben. Für sie kamen die Veränderungen schleichend.
    "So viele Tage ihres gemeinsamen Lebens. So viele Erfahrungen. Wie hatten sie es geschafft, sich die letzten sechzehn Jahre hindurch voneinander zu entfremden? Wie hatte aus all der Anwesenheit Abwesenheit werden können? Und nun, da ihr erstes Baby bald zu einem Mann werden sollte und ihr drittes Baby Fragen zum Tod stellte, redeten sie in der Küche über vollkommen belanglose Dinge."
    "Es ist ein Buch über Leute, die anderswo sind, nicht da, wo ihre Körper sind. Sam ist anderswo im Computerspiel 'Other Life'. Jacob ist bei seiner Affäre, bei der Fernsehshow, an der er heimlich schreibt, Irv, sein Vater, ist bei seinen bombastischen Texten. "Hier bin ich" ist auch ein Buch über Menschen, die darum kämpfen, präsent zu sein, die ihren Weg finden wollen."
    Gleich zweimal wird die Welt der Blochs erschüttert. Julia findet ein geheimes Handy, in dem sich eine Unbekannte und ihr Mann pornografische Mails schreiben: Sexts, wie es im englischen kürzer und passender heißt. Und doch ist das Auftauchen dieser Mails fast eine Erleichterung für Jacob und Julia.
    Was bedeutet Heimat, was ist zu Hause?
    Und in Israel bebt die Erde. Die Klagemauer fällt. Das gigantische Erdbeben destabilisiert eine instabile Region noch mehr. Die arabische Staaten schließen sich zusammen, um Israel zu zerstören. Nichts ist mehr wie zuvor:
    "Jacob hatte im Wachen mehr Stunden in der Küche verbracht als in jedem anderen Zimmer. Kein Baby weiß, wann ihm die Mutterbrust zum letzten Mal entzogen wird. Kein Kind weiß, wann es die Mutter zum letzten Mal 'Mama' nennt. Jacob wusste, dass er die Küche wiedersehen würde, egal was passierte. Trotzdem saugten seine Augen wie Schwämme alle Details in sich auf – die Fuge zwischen den Specksteinplatten; den Aufkleber unter dem Vorsprung der Kücheninsel."
    Die häusliche und die politische Katastrophe werfen bei Jacob dieselben Fragen auf: Was bedeutet Heimat, was ist zu Hause?
    "Heimat kann Heimatland sein, Heimat kann ein Beruf sein, eine Beziehung, die der Eltern zu ihren Kindern oder eine romantische Liebesgeschichte. Heimat kann eine Kultur sein oder eine Familie. Aber immer ist Heimat der Ort, von dem man sagen kann: Hier bin ich."
    Wäre Jacob bereit, für diese Heimat zu kämpfen? Um seine Frau? Für Israel? Der israelische Ministerpräsident ruft alle Juden auf, nach Israel zurückzukehren und zu kämpfen. Jacob will diesem Ruf zunächst folgen.
    "Here I am" ist nicht klassisch erzählt. Es ist eine Geschichte voller Brüche, Vor- und Rückblenden. Wie Inseln liegen kurze, zunächst merkwürdig fremd klingende Sätze in einem Textmeer. Und manchmal haben die Kinder die kühnsten, knappsten Gedanken. Über Religion, Krieg und Frieden, über die Liebe:
    "Liebe ist nicht die Abwesenheit von Ringen. Liebe ist Ringen."
    Man muss sich einlassen auf diesen Roman. Und das kann man, weil er so außerordentlich klug, witzig und gekonnt geschrieben ist. Etliches erklärt sich erst viel später. Die kurzen Abschnitte, in denen es um wilden Sex geht oder die Worte, die der Sohn auf die Schulbank ritzt, ergeben erst viel später einen Sinn.
    Foers Figuren haben ein geradezu barockes Innenleben
    Kritiker haben Jonathan Safran Foer seine hohe Begabung attestiert, ihm aber vorgeworfen seine beiden ersten Romane seien zu süßlich, zu schlau, zu bewusst auf Effekt hin geschrieben. Diesen Vorwurf hat Foer mit "Here I Am" entkräftet. Foers Figuren haben ein geradezu barockes Innenleben, befragen sich ununterbrochen selbst, sind getragen von Selbstzweifeln. Sie wollen unbedingt wissen, was wirklich wichtig ist in ihrem Leben.
    Julia hilft Freunden und Bekannten beim Renovieren ihrer Wohnungen. "Sie traf sich mit Mark in der Metallwarenabteilung. Diese war elegant, diese war abscheulich, und in einer Welt, in der die Leichen syrischer Kinder an Strände gespült wurden, war so etwas unethisch, auf jeden Fall vulgär. Doch Julias Aufträge lohnten sich."
    Das sind Julias Zweifel, Ängste und Widersprüche."Meine Charaktere ringen ununterbrochen darum, was für sie wichtig ist und was nicht, was groß ist und was klein. Es gibt Krieg im Nahen Osten, aber mein Leben ist hier. Sie missinterpretierten das. Sie sehen nicht das Große im Kleinen."
    Foers Protagonisten stellen die großen Fragen: Wer bin ich? Wer will ich sein? Sie suchen ihre Identität als Vater, als Sohn, als Großvater, als Jude im 21. Jahrhundert. Am Ende von "Hier bin ich", nach 688 Seiten, wird Jakob der Antwort auf diese Fragen nähergekommen sein. Er sagt: Ich bin bereit.
    "Er ist bereit, eine neue Identität anzunehmen. Jacob ist in jeder Situation ein anderer. Er ist widersprüchlich. Und zwar sowohl in dem, was er tut als auch in dem, was er denkt und fühlt. Er ist gebrochen. Er ist keine ganzheitliche Person. Ganz am Ende des Buches gibt es eine Stelle, an der es heißt: Für seine Kinder war er ein Vater, für seine Frau der Ehemann, er war Vater und Sohn, aber für wen ist er Jacob? "Ich bin bereit" bedeutet, er ist bereit, eine einzige Person zu sein."
    Jonathan Safran Foer hat einen großen Roman über die Liebe und deren Wandelbarkeit geschrieben, über Menschen, die sich lieben und doch einander fremd werden:
    "Ihre Beziehung beruhte nicht auf dem, was sie teilen konnten, sondern auf dem, was sie nicht teilen konnten. Zwischen zwei Geschöpfen, egal welcher Art, liegt eine unüberbrückbare, jeweils einzigartige Kluft, eine Freistatt, die andere nicht betreten können. Sie kann die Gestalt des Alleinseins annehmen. Sie kann die Gestalt der Liebe annehmen."
    Jonathan Safran Foer: "Hier bin ich"
    Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens. Kiepenheuer & Witsch. 683 Seiten. 26 Euro.