Jan Kuhlbrodt: "Die Rückkehr der Tiere"

Vielfach gebrochene Erinnerungssplitter

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Buchcover Jan Kuhlbrodt: "Die Rückkehr der Tiere"
Jan Kuhlbrodts "Die Rückkehr der Tiere" ist eines der ungewöhnlichsten Bücher im Jubiläumsjahr der Wiedervereinigung. © Verlagshaus Berlin / Deutschlandradio
Von Tobias Lehmkuhl · 21.12.2020
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Jan Kuhlbrodts „Die Rückkehr der Tiere“ ist ein Kaleidoskop der Erinnerungen an eine systemkonforme Jugend in der DDR und an die Wendezeit. Nicht als gradliniger autobiografischer Bericht notiert, sondern als wundersames Erzählmosaik.
Dies ist einmal keine Geschichte des Widerstands, des Aufbegehrens oder des Heldenmuts. Jan Kuhlbrodt erzählt in "Die Rückkehr der Tiere" von der "privilegierten Lage, ein systemkonformes Kind zu sein". Ein Kind, dessen Großvater der Stasi sein Wohnzimmer für konspirative Treffen zur Verfügung stellt, ein Kind, das sich mit 14 Jahren dazu verpflichtet, Offizier in der NVA zu werden.
"Die Rückkehr der Tiere" ist allerdings kein geradliniger autobiografischer Bericht des 1966 in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, geborenen Kuhlbrodt. Das Buch ähnelt eher einer Fotografie, die neben dem Bücherregal des Erzählers hängt: "Sie zeigt den Kopf eines asiatischen Motorradfahrers. Im Visier des Helms spiegelt sich die Kulisse. Eine asiatische Großstadt. Verworren. Und durch die Wirrnisspiegelung hindurch sind die Augen des Mannes zu erkennen."

Die Rekruten als Elefanten

So verhält es sich auch mit Jan Kuhlbrodts Prosastücken: Es sind vielfach gebrochene Splitter, die sich zu einem wundersamen Erzählmosaik formen. Erinnerungen an Pfingsttreffen der FDJ, an eine Fahrt nach Nürnberg, auf der Jagd nach einem zweiten Begrüßungsgeld, an das erste Weizenbier, den Abschnittsbevollmächtigten, der sich die Namen der Kinder notiert, um ihre Verfehlungen den Eltern zu melden, oder an den Besuch des philosophischen Seminars an der FU Berlin. Erinnerungen an Missverständnisse, Irritationen, Ohnmachten.
Ein eigentliches Zentrum gibt es in diesem Mosaik nicht, es gibt stattdessen die Spuren der Tiere, die die Erzählung auf sich überkreuzenden Pfaden durchziehen: Die Guppys im heimischen Aquarium, die, wie es lapidar heißt, ebenso "ohne mein Zutun verschwanden, wie mein Vater ohne mein Zutun verschwand".
Verwandelt tauchen diese Fische als blinde Karpfen wieder auf, die unter den nach der Wende freigelegten Bächen und Kanälen Leipzigs in Erscheinung treten. Wie Elefanten stapfen die mit Gasmasken maskierten Rekruten durch die sächsische Steppe, bevor sie im Westen den ganz anderen Tierversuchen vorbehaltenen "Mäusebunker" erblicken dürfen.

Moralisch am Arsch

Der geruchssensible Erzähler ähnelt selbst einem Tier, das Witterung aufgenommen hat. "Die Rückkehr der Tiere" - damit ist auch das Auftauchen der Erinnerungen an eine Zeit gemeint, deren Nähe oder Ferne erst noch bestimmt werden muss, eine Zeit, deren Form und Bedeutung von einem Schreibzimmer aus ausgelotet wird, in dem sich die Bücher türmen, in dem die Büchertürme aber zuweilen auch umstürzen.
Ebenso kann sich für den Leser die Perspektive überraschend verschieben: Da entpuppt sich eine unheimlich traumartige Autofahrt durch Karl-Marx-Stadt später als Anwerbungsgespräch für die Stasi. Und der kommende Berufsoffizier, der meint, sich "moralisch selbst am Arsch" zu haben, erweist sich als jemand, dessen Reflexe durchaus funktionieren. Gleich einem Tier reagiert er auf Hauptmann Langes Annäherungsversuch: "Mein Nein entsprang keiner gefestigten Position, Nein war einzig Impuls."
"Die Rückkehr der Tiere" ist neben Martin Gross’ "Das letzte Jahr" das ungewöhnlichste und überraschendste Buch in diesem Jubiläumsjahr der Wiedervereinigung. Es zeigt, wie die Katze Geschichte noch das alltäglichste Leben auf leisen Pfoten durchstreift.

Jan Kuhlbrodt: "Die Rückkehr der Tiere"
Mit Illustrationen von Klaus Walter
Verlagshaus Berlin, Berlin 2020
176 Seiten, 17,90 Euro

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