Jan Koneffke: "Die Tsantsa-Memoiren"

Ein Schrumpfkopf als Reporter

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Buchcover "Die Tsantsa-Memoiren" von Jan Koneffke
Buchcover "Die Tsantsa-Memoiren" von Jan Koneffke © Galiani Verlag / Deutschlandradio
Von Michael Braun  · 21.09.2020
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Zweifelsohne der bizarrste Protagonist, den man in einem Gegenwartsroman finden kann: In Jan Koneffkes hochkomischem Roman "Die Tsantsa-Memoiren" führt ein Schrumpfkopf durch 240 Jahre Weltgeschichte und mischt darin ordentlich mit.
An gnomenhaften Romanhelden, die eine Position der scheinbaren Unterlegenheit in Stärke verwandeln, herrscht in der Literatur der Moderne kein Mangel. Der berühmteste und tatkräftigste unter ihnen ist der kleinwüchsige Blechtrommler Oskar Matzerath, der Glas zersingen kann und bei Gelegenheit in die Weltgeschichte interveniert.
Ein anderer ist der kluge Betrüger Fischerle, ein missgebildeter Zwerg, der nur aus einem Buckel besteht, eine Nebenfigur in Elias Canettis Roman "Die Blendung".
Was uns nun aber der große Erzähler Jan Koneffke in seinem neuen Roman "Die Tsantsa-Memoiren" vorführt, ist sicherlich der bizarrste Protagonist, den man in einem Gegenwartsroman finden kann. In seinem 1988 publizierten Prosadebüt "Vor der Premiere" hatte Koneffke bereits einen Schauspieler agieren lassen, dem plötzlich ein Buckel wächst. Sein neuer Held ist von seiner historischen Bestimmung her nur ein totes, präpariertes Objekt und hat sich aus der Menschenwelt schon verabschiedet.

Ghostwriter bei der Paulskirchenversammlung

Denn als Erzähler des Romans, der uns auf 560 Seiten durch 240 Jahre Weltgeschichte vom fernen Caracas bis ins Berlin der Nachwendezeit führt, tritt nämlich ein Schrumpfkopf auf, ein "Tsantsa", der 1780 bei einem Steuerinspektor der spanischen Krone aus seiner Leblosigkeit erwacht und dann nach dessen Tod nach Europa gelangt, wo er Augenzeuge diverser Revolutionen wird. Bei den indigenen Völkern Südamerikas war der "Tsantsa" genannte Schrumpfkopf nur eine Trophäe, die man zu kultischen Zwecken nutzte.
Der Roman-Schrumpfkopf Koneffkes kann dagegen nicht nur sprechen, er erobert beim Gang durch die Jahrhunderte immer mehr Sinneswahrnehmungen und hohe kognitive Kompetenzen und dann sogar die "Lebenslust" zurück. Der da scheinbar leblos an den Fäden und Jacken seiner insgesamt zwölf Besitzer hängt oder in Truhen oder Beuteln dahindämmert, wird sogar zum Augenzeugen und Mitgestalter diverser Revolutionen und Schlüsselszenen der Weltgeschichte.
Dank der Fürsorge eines englischen Kaufmanns und Dichters wird aus dem "hilflosen Halbwesen" ein "Schrumpfkopf mit Bildung". Der "Tsantsa" firmiert nun nicht mehr als "ein von Primitiven verfertigtes Ding", sondern als Thinktank seiner Besitzer. Er leistet Spitzeldienste, um amouröse Verhältnisse anzubahnen, später assistiert er seinem Besitzer bei der Einfädelung erfolgreicher Börsenspekulationen.
In der Frankfurter Paulskirchenversammlung wird er 1848 gar zum Ghostwriter eines Abgeordneten, der dort eine flammende Rede für die Pressefreiheit ins Plenum schleudert.

Überfülle der Details

Während seine Besitzer einer nach dem anderen in die Grube sinken, bewahrt der Schrumpfkopf das Privileg faktischer Unsterblichkeit. Nur einmal, als er in den 1930er-Jahren reichsdeutschen Hitleranhängern im rumänischen Kronstadt den rhetorischen Beistand verweigert, droht er ins Feuer geworfen zu werden, aber auch diesem Verhängnis vermag er zu entkommen.
Die stilistische Eigenart seines eigenwilligen Memoirenschreibers hat Koneffke an einer Stelle durchaus selbstkritisch reflektiert, wenn darauf verwiesen wird, dass der "Tsantsa" ein Deutsch verwende, "das man 1820 sprach": "Es ist folglich kein Zufall, wenn es meiner Leserschaft altmodisch vorkommen sollte."
Nach seinem Meisterwerk, dem großen Familien- und Gesellschaftsroman "Ein Sonntagskind" (2015), hat Jan Koneffke nun das Terrain des Schelmenromans betreten. Er erzählt mit einer schier unerschöpflichen Erfindungsgabe und einer opulenten Ausmalung bizarrer Details, man gerät streckenweise immer wieder in den Sog der Sprachbegeisterung und der streckenweise ins Hochkomische tendierenden Schrumpfkopfbesessenheit des Autors.
Bei so viel Entgrenzung der Fantasie droht man mitunter in der Überfülle der Details zu ertrinken. Bei aller Heiterkeit des Erzählens werden aber auch die Abgründe und Grausamkeiten der europäischen Geschichte ausgeleuchtet: die Barbarei des naturwissenschaftlichen Forschergeists im 19. Jahrhundert oder der Antisemitismus in Wien um die Jahrhundertwende. Ein Schrumpfkopf wird zum Reporter der Weltgeschichte – das darf man auch als ironischen Kommentar zur Lage des zeitgenössischen Romans lesen.

Jan Koneffke: "Die Tsantsa-Memoiren"
Roman. Galiani Verlag, Berlin 2020
560 Seiten, 24 Euro

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