Jamrozik/Kempster: "Kinder der Moderne"

Architekturikonen auf Kinderaugenhöhe

06:30 Minuten
Cover des Buchs "Kinder der Moderne. Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden" von Julia Jamrozik und Coryn Kempster.
Mit vielen historischen und privaten Fotos sowie Architekturzeichnungen herausragend gestaltet: "Kinder der Moderne" ist ein Augenöffner. © Deutschlandradio / Birkhäuser
Von Eva Hepper  · 23.06.2021
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Vier ehemalige Bewohner berühmter Gebäude erzählen von ihrer Kindheit und wie es war, in einer Architekturikone aufzuwachsen. "Kinder der Moderne" ist pure "Oral History" und ein wunderbaren Bild- und Textband.
Rolf Fassbaender liebte das Treppenhaus des großen Wohnblocks. Es war nicht nur der beste Ort zum Verstecken spielen, hier ließen sich auch Feuerwerkskörper effektvoll zünden. Helga Zumpfe schätzte die Türen mit den bunten Bullaugen auf (Kinder-)Augenhöhe. Durch sie konnte sie die Welt in verschieden Farben sehen.
Und Gisèle Moreau fühlte sich in der Wohnung vollkommen frei und bewunderte, dass ihre Mutter die Loggia-Türen im Mai öffnete und erst im Oktober wieder schloss. Einzig Ernst Tugendhat erinnert sich weniger an das berühmte Haus, das er einst bewohnte, als vielmehr an die Autohupe des Vaters, der seine Ankunft stets lautstark ankündigte.
Rolf Fassbaender, Helga Zumpfe, Gisèle Moreau und Ernst Tugendhat – mittlerweile fast alle über 80 Jahre alt – wuchsen in berühmten Gebäuden auf: der Stuttgarter Weissenhofsiedlung (1927), dem Haus Schminke in Löbau (1933), der Marseiller Unité d’Habitation (1952) und der Villa Tugendhat im tschechischen Brno (1930).

Oud, Scharoun, Le Corbusier und Mies van der Rohe

Erbaut von J.J.P. Oud, Hans Scharoun, Le Corbusier und Ludwig Mies van der Rohe gehören die Häuser zu den Bauikonen der Moderne. Generationen von Architekten haben sie studiert, und hunderte Publikationen untersuchten jedes nur erdenkliche Detail. Doch die Kinder der Erstbewohner wurden noch nie befragt.
Genau das tun nun Julia Jamrozik und Coryn Kempster. Immerhin glaubten die Erbauer an das transformative Potenzial von Architektur, für die Gesellschaft und den Einzelnen. Wäre das so, dann müssten die Gebäude Spuren bei denen hinterlassen haben, die dort groß wurden, so die These der Architektin und des Künstlers.
Tatsächlich ist das mit vielen historischen und privaten Fotos sowie Architekturzeichnungen herausragend gestaltete Buch ein Augenöffner. Die Erinnerungen der vier Interviewten vermitteln Alltagsleben und erlauben neue Einblicke in die weltbekannten Häuser.
So berichtet etwa Rolf Fassbaender von dem Gemeinschaftsgefühl, das die Bewohner der Reihenhäuser in der Weissenhofsiedlung verband. Es sei selbst durch die problematische Akustik mit den deutlich vernehmbaren, nachbarlichen Toilettengeräuschen nicht beeinträchtigt worden und habe ihn für sein gesamtes Leben geprägt.

Fenster zum Herausklettern

Helga Zumpfe verbrachte im Haus Schminke eine Kindheit voller Freude und berichtet von Fenstern zum Herausklettern und einer Atmosphäre der Weitläufigkeit. Diese erlebe sie noch heute in stets wiederkehrenden Träumen.
Auch Gisèle Moreau empfand die Offenheit der elterlichen Wohnung als geistig befreiend, auch wenn sie als Jugendliche davon wenig begeistert war: Unbemerkt spät nach Hause zu kommen, war unmöglich.
Lediglich Ernst Tugendhat verbindet mit der berühmten Villa seiner Eltern kaum Erinnerungen. Seine Familie musste vor den Nationalsozialisten fliehen, als er acht Jahre alt war, und als Erwachsener hat er sich nie wieder für das Haus interessiert. Dafür habe er eine starke Beziehung zu den von Mies van der Rohe entworfenen Möbeln, die ins Exil mitgenommen werden konnten.
Julia Jamrozik und Coryn Kempster ist ein berührendes und originelles Buch gelungen. Zwar erlaubt ihre "Oral History" keine allgemeingültigen Einsichten und auch kein einheitliches Fazit, eine wunderbare Ergänzung zur bisherigen Forschung ist sie allemal.

Julia Jamrozik / Coryn Kempster: "Kinder der Moderne. Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden"
Übersetzt von Uli Minoggio
Birkhäuser Verlag, Basel 2021
328 Seiten, 40 Euro

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