James Wood: "Upstate"

Abstiegsangst im Kreis der Familie

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Das Buchcover zum Roman "Upstate" von James Wood.
James Wood, seit seinem Buch "Die Kunst des Erzählens" auch hierzulande der bekannteste britische Literaturkritiker, der beim Guardian begonnen hat und mittlerweile an der Harvard University lehrt, hat einen Roman geschrieben. © Rowohlt / Deutschlandradio
Von Meike Feßmann · 02.12.2019
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Eine Frau gerät in die Krise, Vater und Schwester eilen zur Hilfe. James Wood erzählt in "Upstate" einen Familienroman als Kammerspiel über geschwisterliche Konkurrenz - und die Angst vor dem Abstieg.
Literaturkritiker, diese ewigen Besserwisser, sollen doch selbst Romane schreiben, statt immer nur herum zu kritteln, polemisieren verletzte Autorinnen und Autoren gern. Und siehe da, hier ist einer: James Wood, seit seinem Buch "Die Kunst des Erzählens" auch hierzulande der bekannteste britische Literaturkritiker, der beim "The Guardian" begonnen hat und mittlerweile an der Harvard University lehrt, hat einen Roman geschrieben. Es ist sein zweiter, der erste ging ein wenig unter. "Upstate" heißt er auch auf Deutsch, nach jener Gegend nördlich von New York im gleichnamigen US-Bundesstaat, in dem der größte Teil der Handlung spielt.
Eine alarmierende Nachricht lässt Alan Querry, einen 68-jährigen Immobilienentwickler aus dem nordenglischen Newcastle, in die Staaten reisen. Vanessa, die ältere seiner beiden Töchter, steckt mal wieder in einer Krise, womöglich in einer ernsthaften Depression. So zumindest deutet es Josh, ihr Lebensgefährte, an die zwei Jahre jüngere Helen an. Sie solle doch bei ihrer Schwester vorbeischauen, wenn sie zufällig in New York ist. Das kommt öfter vor. Helen arbeitet als Musikmanagerin bei Sony, Vanessa ist Philosophieprofessorin am Skidmore College in Saratoga Springs.

Elegant und effizient

Das Setting hat etwas kammerspielartiges, doch erschließt der Roman weite Räume. Alan und Helen reisen gemeinsam. James Wood macht schon aus der Zugfahrt vom Flughafen den Hudson River entlang eine kleine pädagogische Meisterleistung kreativen Schreibens: Während draußen die weite Landschaft vorbeirauscht, im durchaus gemächlichen Tempo amerikanischer Züge, bringen sich Vater und Tochter auf den neuesten Stand, plaudern über früher, tauschen erste Vermutungen aus, beobachten einander und machen sich ihre Gedanken.
Alles, was Wood über Perspektive, Details, Figurenzeichnung weiß, kommt auf eine Weise zur Anwendung. Dass man als geübte Leserin durchaus erkennt, wie es gemacht ist, aber auch eine geradezu behagliche Freude daran hat, wie elegant und effizient ein Familienroman abschnurren kann, wenn er nach dem Bauplan des modernen Realismus konstruiert ist.

Die Folgen einer Scheidung

James Wood ist kein Richard Yates und kein Thomas Wolfe, aber er kreuzt die Elemente amerikanischer Romankunst geschickt mit denen des viktorianischen Romans und schickt das Ergebnis durch den Filter der Flaubertschen Schule. Also müssen es zwei Töchter sein (und nicht etwa Söhne), um die sich der Vater sorgt, der selbst eigentlich gerade genügend um die Ohren hat.
Der Roman spielt 2007, die Krise gefährdet den relativen Wohlstand, den sich Alan erarbeitet hat. Bald wird er das Altersheim seiner Mutter nicht mehr bezahlen können. Sein Großvater war Bergarbeiter, sein Vater Schiffsbauer und führte eine Eisenwarenhandlung. Er ist stolz auf seinen Aufstieg und darauf, dass sich seine Töchter über ihren sozialen Status keine Gedanken machen müssen. Und trotzdem ist das mit dem Glück so eine Sache. Braucht man Talent dazu? Kann man es lernen? Vererbt sich Depression?
"Upstate" erzählt von gesellschaftlichen Umbrüchen und familiären Mustern, von geschwisterlicher Konkurrenz und Solidarität, von den Folgen einer Scheidung und nicht zuletzt davon, dass wir oft falsche Annahmen über andere Menschen bilden. Notwendigerweise. Denn alles ist eine Frage der Perspektive, wie jede Erzählerin, jeder Erzähler weiß.

James Wood: "Upstate". Roman
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019
304 Seiten, 22 Euro

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