James Baldwin: "Giovannis Zimmer"

Ermutigender Roman für Tausende Homosexuelle

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Buchcover "Giovannis Zimmer" von James Baldwin. Ein junger Mann in einem weißen Unterhemd guckt nach unten.
James Baldwins Plädoyer für eine konkrete, nicht-ausschließende Solidarität scheint in der heutigen Zeit einer sogenannten „Identitätspolitik“ von rechts und links geradezu provokativ. © dtv
Von Marko Martin · 18.02.2020
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In der Neuübersetzung von "Giovannis Zimmer" von 1956 erzählt James Baldwin die Geschichte zweier ungleicher Freunde, die durch ein Paris der sozialen Verwerfungen driften. Dabei kann der eine die Leidenschaft des anderen nicht erwidern. Eine (Wieder-)Entdeckung!
Als der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin zu Beginn der 50er-Jahre seinen Roman "Giovannis Zimmer" schrieb, war er ein beträchtliches Karriererisiko eingegangen. 1924 in New York geboren, inzwischen Expat in Paris, hatte er bereits mit seinem Debütroman "Von dieser Welt" einen ersten großen Erfolg erzielt. Nie zuvor war in einer derart intensiven, rhythmisierten Sprache die Welt großstädtischer Afroamerikaner zur Geltung gebracht worden – verknüpft mit einer Aufbruchs- und Emanzipationsgeschichte, die durchaus autobiografisch zu lesen war.
Und nun schlüpfte dieser vielversprechende junge Autor in die Haut eines verklemmten weißen Mittelschichtamerikaners, der in Frankreich in der Liebe zu einem italienischen Arbeitsmigranten seine Homosexualität entdeckt? Sein bisheriger amerikanischer Verlag, immerhin das renommierte Haus Alfred Knopf, lehnte das Romanmanuskript ab, und eine Literaturagentur riet gar dazu, die Seiten zu verbrennen. Schließlich erschien "Giovannis Zimmer" 1956 in einem anderen Verlag – und ist seitdem James Baldwins wohl berühmtestes Buch, nicht zuletzt eine Ermutigung für Abertausende schwuler Leser.

Abhängig von der Gunst französischer Homosexueller

Seit nunmehr zwei Jahren erscheinen bei dtv Baldwins Bücher in der gelungenen und bereits hochgelobten Neuübersetzung von Miriam Mandelkow. Auch "Giovannis Zimmer" ist nun auf Deutsch (wieder) zu lesen – und das ist ein Ereignis. Beinahe 60 Jahre nach Erscheinen hat die Geschichte von David und Giovanni nämlich keinerlei Patina angesetzt, sondern bleibt beunruhigend aktuell. James Baldwin, mit einem fein nuancierten Minderheitensinn für Machtstrukturen und Verdrängungsmechanismen ausgestattet, erzählt hier weder eine konventionelle "Coming out"-Geschichte noch zeichnet er eine Idylle.
Das Paris der beginnenden 50er-Jahre, durch das die beiden denkbar ungleichen Freunde driften, ist unwirtlich und voller sozialer Verwerfungen. Der junge Barmann Giovanni ist abhängig von der Gunst wohlhabender französischer Homosexueller, und der Amerikaner David, dem Machtausübung fremd ist, bleibt dennoch gefangen in den seelischen Verhärtungen einer nur oberflächen-liberalen Mittelschicht. So sehr er auch die Bigotterie seiner Landsleute verachtet ("Selbst Großmütter schienen niemals fleischlich verkehrt zu haben"), so wenig bringt er die Kraft auf, Giovannis geradezu verzweifelte Liebe nicht nur auszuhalten, sondern zu erwidern. Folglich endet die Geschichte tragisch.

Gegen das "Sich-Einigeln" von Gleichgesinnten

Weshalb aber geht dann von diesem Buch weiterhin derart Ermutigendes aus? In ihrem informativen und empathischen Nachwort stellt die 1985 in Wolgograd geborene Berliner Schriftstellerin und Dramaturgin Sasha Marianna Salzmann auch diese Frage – und beantwortet sie indirekt mit Interviewzitaten Baldwins.
Der Romancier, der auch in seinen späteren Romanen immer wieder sexuelle Ambivalenz thematisierte, war nämlich souverän genug, bereits in den 70er-Jahren und auf dem Höhepunkt der Gay Rights-Bewegung zu Protokoll zu geben, dass ihm Zeugenschaft über bestimmte Erfahrungen wichtiger sei als das Sich-Einigeln mit vermeintlich "Gleichgesinnten" in tribes/Stämmen.

Weckt Neugier auf Milieus, die nicht die eigenen sind

In heutigen Tagen, in denen eine sogenannte "Identitätspolitik" von rechts und links nur noch mit der Selbstbespiegelung der jeweils eigenen Ethnie, Nation, politischen Gestimmtheit oder sexuellen Orientierung beschäftigt zu sein scheint, klingt Baldwins erzvernünftiges Plädoyer für eine konkrete, nicht-ausschließende Solidarität geradezu provokativ.
Dennoch findet sich in "Giovannis Zimmer" keinerlei thesenhafte Didaktik – wie jeder ernst zu nehmende Schriftsteller buchstabiert auch James Baldwin Solidarität und Mitgefühl nicht als Rhetorik, sondern als literarische Genauigkeit, als die Fähigkeit zum packenden Geschichtenerzählen und der Neugier auf Milieus, die nicht vollständig die eigenen sind. Was für eine (Wieder-)Entdeckung, was für ein Roman!

James Baldwin: "Giovannis Zimmer"
Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
dtv, München 2020
208 Seiten, 20,00 Euro

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