Jahrgang 1964

Wir sind viele, wir sind angekommen und wir waren das Volk

Von Ralph Gerstenberg · 17.02.2014
Die 1964 in Ost und West Geborenen bilden zusammen den geburtenstärksten Jahrgang in Deutschland. Heute stehen die 64er für den demografischen Wandel.
Sie sind die ersten, die ihre Rente mit 67 beziehen werden. In diesem Jahr werden sie 50. Aber wer sind sie, wo stehen sie, was macht sie aus?
Mondlandung, Ölkrise, Pinochet, RAF, Biermann, Lennons Tod, Friedensbewegung, Punk, Tschernobyl, Wiedervereinigung, Nine-Eleven, Rot-Grün oder Angela Merkel - welche Ereignisse und Erlebnisse waren wichtig für das politische Denken, Handeln und die Persönlichkeitsentwicklung der 64er?
Vollbeschäftigung und Fortpflanzungsdrang
Wer 1964 in Deutschland das Licht der Welt erblickte, konnte sich über einen Mangel an gleichaltriger Gesellschaft nicht beklagen. Mehr als 1,3 Millionen Mal hallte Säuglingsgeschrei durch die Kreißsäle in Ost und West. So viele Nachkommen zeugten die Deutschen noch nie und nie wieder. Die Mädchen hießen Sabine, Susanne, Petra oder Ulrike, die Jungs Thomas oder Frank, Andreas oder Stefan. Meine Eltern entschieden sich dafür, mich nach dem Sänger Ralf Bendix zu benennen, der gewissermaßen den Soundtrack für die deutsche Babyboomer-Generation ablieferte.
Die wundersame Kraft der deutschen Wirtschaft äußerte sich in einem sensationellen Fortpflanzungsdrang. Im ganzen Land herrschte Vollbeschäftigung. Es gab reichlich Platz in den neu bezogenen Wohnungen und auf den Rücksitzen der fabrikneuen Kleinwagen. Selbst in der DDR ging es langsam aufwärts. Drei Jahre nach dem Mauerbau wuchs die Wirtschaft um sieben Prozent. Auf der Leipziger Messe wurde das Fahrzeug vorgestellt, das bis zuletzt das Straßenbild im Arbeiter- und Bauernstaat prägen sollte.
DDR-Werbespot:"Das ist er, Ihr Trabant 601. Frontantrieb, 600 ccm Zweitaktmotor, 23 PS, vollsynchronisiertes Vierganggetriebe, 6,8 Liter Normverbrauch und einer Geschwindigkeit von 100 Kilometern pro Stunde."
Eine Zeit des Aufbruchs und Aufbegehrens. Die Haare wuchsen. Willy Brand wurde SPD-Vorsitzender. Das Passierscheinabkommen machte die Mauer erstmals etwas durchlässiger. Die Bundesbank brachte Tausendmarkscheine in Umlauf. Im Osten lockerte Ulbricht für das Deutschlandtreffen der Jugend die Zügel. Beatles und Stones liefen im neu gegründeten Jugendradio DT64. Die Zeit schien auf unserer Seite zu sein.
Die Astronauten Neil Armstrong and Edwin E. "Buzz" Aldrin errichten 1969 auf dem Mond die US-amerikanische Flagge
Die Astronauten Neil Armstrong and Edwin E. "Buzz" Aldrin errichten 1969 auf dem Mond die US-amerikanische Flagge© AP/NASA
Die Welt, in die ich hineingeboren wurde, bestand zunächst aus einer Siedlung der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft im Südosten Berlins. Vom Fenster des Kinderzimmers aus konnte ich die Schule wachsen sehen, in die ich einmal gehen sollte. Im Schwarz-Weiß-Fernseher lief eine Serie mit einem schielenden Löwen. Irgendwie kriegte ich mit, dass eines nachts länger als sonst der Bildschirm flimmerte.
Neil Armstrong: "That's one small step for [a] man, one giant leap for mankind."
Jeschke: "Die Mondlandung war ja im Juli."
Tanja Jeschke wurde 1964 in Südafrika geboren und zog mit ihrer Mutter im September 1969 ins niedersächsische Herrmannsburg.
Jeschke:"Wir hatten ja keinen Fernseher in Südafrika. Und dann habe ich das zum ersten Mal im Fernsehen gesehen. Ich glaub, am Silvesterabend in so ’ner Rückschau oder so. Ich fand das unglaublich. Dass man den Mond jetzt sehen kann im Fernsehen. Das hab ich einfach nicht auf die Reihe gekriegt, wie das jetzt gehen kann, da oben und hier unten und dieser kleine Kasten, der zeigt das, was da oben passiert ist, als ich in Afrika noch war. Das hat mich völlig verblüfft."
1971 kam ich in die Schule und bald darauf in die Pionierorganisation. Das euphorisierende Initiationsritual stand in krassem Gegensatz zur wenig begeisterten Reaktion meiner Eltern. Damit begann eine Schizophrenie, die in der DDR als Normalzustand galt. Das, was in der Zeitung stand und in der Schule gesagt wurde, galt nur dort. Zu Hause, auf der Straße, unter uns wurde ganz anders geredet. Aber das durfte natürlich keiner wissen, obwohl es selbstverständlich jeder wusste. Es war kompliziert. Auch meine Begeisterung für das Pionierleben ebbte bald ab angesichts unfassbar langweiliger Nachmittage mit Kartoffeldrucken und Solidaritätsbasaren. Doch das war nicht überall so.
Bläss-Rafajlovski: "Ich bekenne mich gerne dazu, dass ich ein sehr begeisterter Pionier war."
Petra Bläss-Rafajlovski, Jahrgang 1964, ist in der Lutherstadt Wittenberg aufgewachsen.
Bläss-Rafajlovski: "Wir haben unheimlich viel in der Freizeit gemacht, viel zusammen entdeckt, sehr vieles an Entdeckungsreisen war dann unter der Flagge der Pioniergruppe, das war einfach ein richtig fester Anker."

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Willy Brandt (SPD) legt wenige Stunden nach seiner Wiederwahl am 14.12.1972 im Deutschen Bundestag in Bonn den Amtseid ab. © picture alliance / dpa
Das Volk auf der anderen Seite der Mauer wählte 1972 seinen alten Bundeskanzler erneut.
Bundestagswahl:
Will Brandt: "Herzlichen Dank allen, die mir in diesen Wochen geholfen haben."
"Bundeskanzler Willy Brandt muss seine Politik fortsetzen können. Für Frieden, Sicherheit und eine bessere Qualität des Lebens. Deshalb SPD. Willy Brandt muss Kanzler bleiben."
Herrmann: "Meine Eltern haben Brandt wirklich verehrt."
Ulrike Herrmann wurde 1964 in Hamburg geboren.
Herrmann: "Und ich fand als Zehnjährige, dass der aber nicht reden kann."
Brandt, Regierungserklärung 28.04. 1972: "Worauf es jetzt ankommt, ist die gemeinsame Fähigkeit zur sachlichen Erledigung unserer parlamentarischen Aufgaben gerade dann oder gerade auf den Gebieten, auf denen die Meinungen stark auseinander gehen."
Herrmann: "Also diese Brandt-Reden, endlose Pausen dazwischen, jeder Satz dauerte Minuten, so kam es mir als Kind vor - dachte ich, ist ja komisch, dass jemand, der nicht reden kann, so beliebt ist."
Ernüchterung in der Wohlstandswelt: die Ölkrise
Ein paar kleine Kratzer bekam die heile bundesrepublikanische Wohlstandswelt, als Willy Brandt 1973 angesichts der Ölkrise an vier aufeinander folgenden Sonntagen ein Fahrverbot aussprach.
Herrmann: "Was wahrscheinlich jeder aus unserem Jahrgang gut erinnert, sind die autofreien Sonntage nach den Ölpreisschocks."
Tagesschau: "Weite Teile Europas erlebten heute einen der ruhigsten Sonntage seit Kriegsende. Ebenso wie in der Bundesrepublik galt auch in Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und in der Schweiz wegen der Ölkrise generelles Fahrverbot."
Herrmann: "Wo man dann plötzlich am Sonntag auf der Straße spielen konnte und alles zu Fuß machen musste. Das hat mich natürlich als Kind sehr beeindruckt, weil wir ja schon zu ’ner Generation gehören, die mit dem Auto aufgewachsen sind. Und plötzlich gab’s das Auto nicht mehr. Das war natürlich so ne Welterschütterung."

Autofreier Sonntag - Leere Straßen und Autobahnen, so wie hier im Schatten der Zeche Ewald in Recklinghausen, bestimmten am 25. November 1973 in folge der Ölkrise das Bild auf den bundesdeutschen Straßen.
Autofreier Sonntag - Leere Straßen und Autobahnen, so wie hier im Schatten der Zeche Ewald in Recklinghausen, bestimmten am 25. November 1973 in folge der Ölkrise das Bild auf den bundesdeutschen Straßen.© AP
Matthus: "Da war ich in der dritten Klasse, da hab ich im Fernsehen gesehen, wie aufgrund der Ölkrise Willy Brandt mit dem Spazierstock in der Hand eben nicht Auto gefahren, sondern durch den Park gelaufen ist."
Frank Matthus wurde 1964 als Sohn des bekannten DDR-Komponisten Siegfried Matthus in Ostberlin geboren.
Matthus: "Und wir hatten am nächsten Morgen so eine politische halbe Stunde, früh, vorneweg. Und ich hab eben erzählt, dass Willy Brandt jetzt mit dem Spazierstock durch den Park läuft aufgrund der Ölkrise, womit natürlich klar war, dass ich Westfernsehen geguckt hatte. Und da wurde dann die anschließende Heimatkundestunde noch geopfert, um noch mal - jetzt nicht aggessiv - aber auszuwerten, wie das mit dem Westfernsehen ist und warum man das nicht gucken sollte usw."
Berlin als Hippiecamp: die Weltfestspiele
Im Sommer 73 trafen sich Jugendliche aus aller Welt in Ostberlin. Die Weltfestspiele verwandelten die Hauptstadt in eine Art Hippiecamp. Überall auf den Wiesen der Innenstadt saßen und lagen Langhaarige aus aller Welt in Jeans und bunten T-Shirts. An jeder Ecke traten Bands und Musiker auf. Mein Vater nahm mich mit zu den Auftritten seiner Betriebssingegruppe. Ein Lied hatte wohl jeder im Repertoire: "Venceremos"
An den Pioniernachmittagen malten wir Bilder für die inhaftierte US-Bürgerrechtlerin Angela Davis, sammelten Altstoffe für das Volk in Chile und fertigten Wandzeitungen über den Vietnamkrieg an. Irgendwie hatten wir das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, erinnert sich auch Petra Bläss-Rafajlovski, die sich Verdienste als fleißigste Altstoffsammlerin ihrer Pioniergruppe erwarb.
Bläss-Rafajlovski: "Ich glaube schon, dass die Werte von internationaler Solidarität, dass das ganz tief auch bei mir verankert war, als Kind schon, ich bin ja auch als Politikerin eine Linke immer geblieben, dass das was ist, das was sehr Selbstverständliches als Wert ist."
In Ost- und Westdeutschland haben inzwischen die Regierungschefs gewechselt, als 1976 ein Sänger aus der DDR ausgewiesen wurde, von dem ich bis dahin noch gar nichts gehört hatte. Auch meine Eltern wussten wenig über diesen Wolf Biermann zu berichten, was ihn natürlich interessant machte. Dann hörte ich ein Lied im RIAS.
Normale Realität: die Mauer
In meinem Leben hatte die Mauer immer existiert, und der Westen war stets präsent gewesen - in den Medien, in den Träumen, in der Berliner Innenstadt. Mein Onkel Heinz wohnte dort. Im Staatsbürgerkundeunterricht wurde uns erklärt, dass Deutschland erst dann wiedervereinigt werden würde, wenn die Bundesrepublik ein sozialistischer Staat geworden sei.
Matthus: "Diese schizophrene Situation, dass durch die eigene Stadt eine Mauer geht, war für mich die Normalität."
Bläss-Rafajlovski: "Für die, die in Berlin groß geworden sind, war das was ganz anderes. Für mich war das jetzt nicht so der Dreh- und Angelpunkt, da ich mich immer für die ganze Welt und Internationales und Geografie interessiert habe, war es immer wichtig für mich, Karten aus aller Welt zu kriegen. Und immer irgendwie landete das am Ende trotzdem bei mir und ich hatte das Gefühl, ich kenn schon die ganze Welt."

Undatierte Archivbilder zeigen seinerzeit von der Polizei veröffentlichte Fahndungsfotos der RAF-Terroristen Christian Klar (links) und Brigitte Mohnhaupt.
Undatierte Archivbilder zeigen seinerzeit von der Polizei veröffentlichte Fahndungsfotos der RAF-Terroristen Christian Klar (links) und Brigitte Mohnhaupt.© AP
Die Gleichaltrigen im Westen, die die Welt nicht nur von Landkarten kannten und für die die DDR oft weiter entfernt war als Afrika, betrachteten in jenen Tagen interessiert die Fahndungsfotos der RAF-Miglieder, die in jeder Postdienstelle hingen.
Herrmann: "Wenn jemand gefasst wurde, dann gab es da so ein rotes Kreuz auf dem Passfoto, das klarmachen sollte, der sitzt jetzt auch hinter Gittern. Das hat mich als Kind auch interessiert, wie auf dem Fahndungsfoto immer mehr rote Kreuze auftauchten."
Jeschke: "Dann war das Verrückte, dass dieser Christian Klar, der wurde ja dann in dem Feriendorf entdeckt, in dem wir immer Urlaub gemacht haben. Dann sind wir extra in das Café gegangen und haben uns die Bedienung angeguckt. Da war's ja passiert. Und da hat die Bedienung ja auch diese Belohnung gekriegt, dass sie den an die Polizei verraten hat, das war natürlich unglaublich. Wir hatten auch Widerstand im Dritten Reich in der Zeit. Die Weiße Rose weiß ich noch. Da hat meine Mutter gesagt, ja, das ist so ähnlich wie die Terroristen. Meine Mutter hat immer ganz klar so Parallelen gezogen. Und ich hab dann immer gedacht: Man muss auf der richtigen Seite stehen. Das ist wirklich wichtig. Und ich hab immer gehofft, dass ich auch mal zur Weißen Rose gehöre oder zu Ulrike Meinhof und nicht zu den andern. Also das ist verrückt, aber von der Tendenz war eher das das Bessere. Also natürlich nicht die Gewalt, aber so diese Kritik am Staat."
Drei Tage vor meinem 16. Geburtstag wurde John Lennon mit einem 38er Revolver in New York erschossen. Dem Slogan "Give Peace a Chance" fehle der Klassenstandpunkt, hieß es in der Schule. Im Staatsbürgerkundeunterreicht lernten wir, dass es gute und schlechte Atomraketen gab. Und in Wehrkunde wurde uns beigebracht, dass wir uns unter die Schulbank zu werfen hätten, wenn die schlechten Atombomben einschlugen. Im Westen gingen Tausende auf die Straße und sangen seltsame Lieder.
Für eine lebenswerte Zukunft: der Aufstieg der Grünen
Jeschke: "Das hat ne große Rolle gespielt auch in Herrmannsburg. Da waren viele bei uns in der Raucherecke, das war ganz wichtig in der Zeit, diese Bewegung. Ich war in Gorleben und so, da war ich auch dabei. Mit 'Atomkraft, nein danke!' Das war bei uns in der Nähe in Norddeutschland, wo wir gewohnt haben. Deswegen hat man da automatisch quasi mitgemacht. Ich hab dann, sobald ich wählen konnte, die Grünen gewählt."
Wahlwerbung: "Gegen Wasser- und Luftverschmutzung. Gegen die Diskriminierung der Frauen. Für eine gesunde Umwelt. Für eine lebenswerte Zukunft. Die einzige Alternative. Wir schalten um auf Die Grünen."
Herrmann: "Man muss ja sagen, dass die Gründungsfiguren bei den Grünen, also Trittin, Fischer, sind ja sieben bis zehn Jahre älter als ich. Jetzt könnte man natürlich sagen, ja sieben bis zehn Jahre ist ja auch nicht viel. Was stimmt, aber es ist eben im politischen Leben eine ganze Generation. Man kann also sagen in gewisser Weise, dass unser Jahrgang zu spät kam. Die Grünen wurden ja bis vor kurzem von diesen Gründungsfiguren dominiert. Die Posten waren alle schon besetzt, als wir ankamen, und der Jahrgang 64 war eigentlich immer überflüssig. Es waren so viele und gebraucht wurde man irgendwie auch nicht so richtig."

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Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt gratuliert am 29.03.1983 während der konstituierenden Sitzung des Bundestages in Bonn der Grünen-Abgeordneten Petra Kelly zum Einzug ihrer Partei in den Bundestag.© picture alliance / dpa / Martin Athenstädt
In den Achtzigern kam für die 1964 Geborenen die Zeit der Ausbildung, die sich auch mal über ein Jahrzehnt hinziehen konnte. Frank Matthus ging auf die Schaupielschule. Tanja Jeschke und Petra Bläss-Rafajlovski studierten Germanistik. Für mich kam ein Studium nach der Verweigerung des Wehrdienstes mit der Waffe erstmal nicht infrage. Ich lernte Elektriker und jobbte als Kleindarsteller. Ulrike Herrmann machte zunächst eine Lehre als Bankkauffrau.
Die 80er Jahre: Vollbeschäftigung ade
Herrmann: "Als wir Kinder waren, herrschte ja in Westdeutschland Vollbeschäftigung. Und das machte die Eltern ja sehr gelassen. Es gab so eine allgemeine Gelassenheit. Und die hat sich erst sehr spürbar verändert 1979/1980, als die Arbeitslosenzahl in Deutschland zum ersten Mal eine Million erreicht hat und dieses Schlagwort von der Akademikerarbeitslosigkeit die Runde machte. Und dann grassierte eben erstmal die Idee, dass man doch besser ne kaufmännische Lehre macht, um dann auf jeden Fall sicher zu sein, dass man hinterher eine Anstellung hat."
In der DDR musste man sich über Arbeitslosigkeit keine Sorgen zu machen. Jedem wurde ein Platz in der Gesellschaft zugeteilt. Die Babyboomer kamen gerade recht, um die Lücken in den volkseigenen Betrieben zu schließen. Nur hatten die oft keine Lust, als Lückenfüller zu dienen. Selbstverwirklichung - ein zersetzender Begriff aus dem Westen machte die Runde.
Matthus: "Wir fühlten uns unangreifbar. Ich hatte auch keine Angst vor dem Staat. Ich hatte keine Angst, nicht meinen Beruf ausüben zu können, nicht auf der Bühne die Dinge sagen zu können, die man halt damals mit aller Kraft und allen Visionen vor sich her getragen hat. Es wurde geliebt, es wurde gelebt, es wurde abgetrieben, es wurde der Tripper geheilt. Das war auch ein Stückchen Freiheit."
Zwischen Protest und Pragmatismus
Auf welcher Seite wir standen, ist schwer zu sagen. Trotz der Friedensbewegung, die von den Babyboomern getragen wurde, hat 1983 die Mehrheit der 64 in Westdeutschland geborenen Erstwähler CDU oder FDP gewählt. In der DDR tobte sich eine subversive Minderheit im gut kontrollierten kulturellen Underground aus, die Mehrheit machte, was man von ihr erwartete. Vielleicht zermürbte der politische Stillstand in den Kohl- und Honecker-Jahren den Veränderungswillen der Heranwachsenden, unterminierte ein über sporadische Aktionen hinausgehendes Engagement. So waren wir irgendwo dazwischen, zwischen Protest und Pragmatismus, zwischen Aufbegehren und Achselzucken - eine Generation in der Warteschleife.
Gefahr drohte Honeckers Cordhütchen-Sozialismus jedenfalls nicht von uns, sondern aus einer ganz anderen Richtung. Vom großen Bruder waren plötzlich völlig neue, unerwartete Töne zu vernehmen.
Gorbatschow: "Ich glaube, Gefahren warten nur auf diejenigen, die nicht auf das Leben reagieren."
Bläss-Rafajlovski: "Und dann kam die Gorbatschow-Welle. Und da habe ich mich entschieden, in die SED einzutreten, obwohl mich sowohl die Führung als auch die Sprache, der Habitus sehr abgestoßen haben. Aber von den Inhalten konnte ich mich aber durchaus damit identifizieren. Mit dem Willen, in dieser Gesellschaft was zu verändern."
Die Veränderungen blieben vorerst aus. Der Chefideologe des Politbüros Kurt Hager erklärte, nur weil der Nachbar seine Wohnung neu tapeziere, müsse man sich keineswegs verpflichtet fühlen, die eigene Wohnung ebenfalls zu tapezieren. Doch das, was aus der vergreisten Führungsriege kam, nahm sowieso niemand mehr ernst. Wir lasen Lyotard und Thomas Pynchon, veranstalteten Partys und als sich in Ungarn der Eiserne Vorhang einen Spalt breit öffnete, waren die ersten auch schon weg.
Die Mauer ist offen
Bläss-Rafajlovski: "Mir ist aufgefallen, dass es meine Generation und auch mein Jahrgang war, der in der Öffentlichkeit medial dieses Bild von den Fliehenden geprägt hat. Also dass ganz viele in meiner Generation über die Botschaften raus sind."
Genscher: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen dass heute ihre Ausreise …"

Schabowski: "Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt … Das tritt … Nach meiner Kenntnis ist das sofort … unverzüglich."
Matthus: "Ich war zu der Zeit in Riga, als das losging."
Herrmann: "An dem Tag hab ich auch nicht Fernsehen geguckt, das heißt, ich hab also den ganzen Mauerfall wirklich erstmal verschlafen."
Matthus: "Bin dann ein paar Tage später nach Berlin zurückgeflogen, stieg aus dem Flugzeug, hatte dann die Zeitung gelesen und bin mit meinem Trabi, den ich da am Flugplatz hatte, nach Pankow gefahren. Und da war ... also Autos - Dresden, Chemnitz - entlang der Mauer, es war ein einziger Parkplatz."
Herrmann: "Der Moment, dass ich dachte, irgendwas kann ja hier gar nicht stimmen, war dann am nächsten Morgen, als ich zum Bäcker gegangen bin. Als allererstes sah ich schon mal einen Trabi, so in der Mitte von Westberlin, in Friedenau. Dachte ich, ist ja komisch, n Trabi, das ist ja originell. Dann kam noch n Trabi und beim dritten Trabi dacht ich: Das ist ja irgendwie seltsam."
Matthus: "Also die Wagen standen dicht an dicht. Und da hab ich geweint, da liefen mir die Tränen runter. Ich dachte, das kann nicht wahr sein. Das nächste war ein Unfall, ich bin also einem drauf gefahren, das war meine erste Begegnung."
Für mich kam der Mauerfall gerade recht, um zu studieren, zu publizieren, Dinge auszuprobieren, die plötzlich möglich waren. Wieder einmal schien die Zeit auf unserer Seite zu sein. Mein Vater hingegen verlor bald seinen Job.
Aufbruchsstimmung
Bläss-Rafajlovski: "Wir waren jung genug, um voll durchzustarten. Ich hab das immer als ein riesiges Privileg empfunden, dass ich die 25 Jahre auch in dieser Geborgenheit aufgewachsen bin."
Nur wenige Monate nach dem Mauerfall wurde Petra Bläss-Rafajlovski vom unabhängigen Frauenverband für die zentrale Wahlkommission bei der ersten freien Volkskammerwahl nominiert.
Bläss-Rafajlovski: "Ich bin in dem Sinne nichts ahnend da hin. Ich hatte nicht vor, da Karriere zu machen und Politikerin zu werden. Dann war das so dieser klassische Zufall, dass plötzlich ein mir unbekannter Mensch von der Sozialdemokratie sagte: Wir von den Sozialdemokraten schlagen Frau Petra Bläss vom Unabhängigen Frauenverband zur Vorsitzenden der Wahlkommission vor. Das ist so ähnlich, als wenn ich Ihnen sagen würde: Morgen werden Sie Kaiser von China. Würden Sie auch denken, die Kleine hat nen Schuss. Das war wirklich dieser Spirit dieser Zeit, das war wirklich was ganz Irres."
An den 64ern aus dem Westteil Deutschlands ging die Aufbruchsstimmung ebenfalls nicht spurlos vorüber, auch wenn sie sich in den Wende- und Nachwendejahren gelegentlich wie Zaungäste der Geschichte vorkamen.
Jeschke: "Dann hat mein Mann sein Gemeindepraktikum für vier Wochen auf Hiddensee gemacht. Und dann sind wir nach Rostock. Mit den Leuten, mit denen er dort zu tun hatte, die waren ganz stark beschäftigt mit der Wende noch. Und wir hatten immer das Gefühl, wir sind so die Zuhörer gewesen. Die haben uns nicht so viel gefragt nach uns, ist ja klar, sondern die hatten einfach selber viel zu erzählen und zu verarbeiten. Und wir konnten eher staunend zuhören und waren mehr so die Wessis, die so still dabeisaßen."
So leicht und nahtlos wuchs dann doch nicht zusammen, was zusammen gehörte. Von blühenden Landschaften redete bald niemand mehr. Die einstigen Hoffnungsträger, die Grünen, lösten gemeinsam mit der SPD die Kohl-Regierung ab und beschlossen ein halbes Jahr später Bundeswehreinsätze im Kosovo.
Fischer: "Ja, ich hab nur drauf gewartet 'Kriegshetzer'. Hier steht ein Krieghetzer und Herrn Milosevic schlagt ihr demnächst für den Friedensnobelpreis vor. Nicht wahr!"
Bläss-Rafaljovski: "Ich wusste ja, auf welcher Seite ich stehe, also auch als Pazifistin, als eine, die im Bundestag Nein sagt zu Kriegseinsätzen, wo ich bis heute auch die größte Hochachtung vor meinem Lieblingskollegen Christian Ströbele hatte, weil der eben auch gegen seine eigene Fraktion gestimmt hat in solchen Fragen."
Der Terror verändert die Welt
Petra Bläss Rafajlovski gehörte seit 1990 als Abgeordnete für die PDS dem Bundestag an. Am 9. September 2001 wollte sie ihren Dienst als Bundestags-Vizepräsidentin antreten, als eine unglaubliche Nachricht die Runde machte.
Nachrichten: "Kurz von 9 Uhr Ortszeit in New York. Ein US-Passagierflugzeug stürzt auf einen der Türme des World Trade Centers. Wenig später rast eine zweite Maschine in den anderen Turm. Beide Gebäude stürzen kurze Zeit später in sich zusammen."

Die Überreste der zusammengestürzten Türme des World Trade Centers in New York
Die Überreste der zusammengestürzten Türme des World Trade Centers in New York© AP
Bläss-Rafajlovski: "Um ein Haar wäre ich sogar die amtierende Bundestags-Präsidentin gewesen, die das hätte verkünden müssen. Aber dann ist ja auch die Sitzung abgebrochen worden. Ich seh mich da immer noch im Arm von Anke Fuchs. Ich hab sehr geweint, als ich die Bilder gesehen habe. Mir ist da richtig rausgerutscht: Das ist Krieg, obwohl ich natürlich die Dimension gar nicht begriffen hab."
Herrmann: "Danach setzte bei mir sofort die Sorge ein, dass die USA überreagieren würden. 3000 Tote ist natürlich sehr viel, das will ich nicht klein reden, aber es war völlig klar, dass die USA daraus eine Kriegserklärung machen würden, was eben Wahnsinn ist. Danach kam ja Afghanistan und der Irak. Und das war sehr früh absehbar."
Matthus: "Im Nachhinein hat es die Welt verändert. Und hat wieder ein Freund-Feind-System geschaffen, was, glaube ich, für unser System, so wie es funktioniert, nötig ist. Es ist im Prinzip die Begründung geschaffen worden, die Weltordnung zu verändern. Und die Demokratie wurde zurückgefahren, ganz klar."
Finanzkrise und Rente mit 67
Ja, die Welt hat sich gründlich verändert in den 2000er Jahren: In den USA wurde der erste schwarze Präsident gewählt. Angela Merkel führte das Land durch die Finanzkrise. Der demografische Wandel wurde zum Schlüsselbegriff gesellschaftspolitischer Debatten. Die Babyboomer haben gewissermaßen die Alterspyramide auf den Kopf gestellt. Der 64er ist der erste Jahrgang, der erst mit 67 in Rente gehen wird.
Herrmann: "Aber das wird kein Problem sein, glaube ich, also wenn man gesundheitlich durchhält, bis dahin auch eine Tätigkeit zu haben, weil man ja sehen muss, dass hinter uns das Nichts ist. Das interessante ist ja, dass 65 noch mal ein starker Jahrgang war, und ab da bricht es ja komplett zusammen. Das heißt, hinter uns ist niemand. Das sieht man ja jetzt auch an den Statistiken für den Arbeitsmarkt, dass unendliche Mengen praktisch verschwinden. Also die Babyboomer fangen an in die Rente zu gehen und es kommen keine Jungen mehr nach und es wird dann schon ab 2020 so sein, dass dann pro Jahr 500.000 Erwerbsfähige fehlen."
Jeder, der 1964 geboren wurde, hat 25 Jahre im geteilten und 25 Jahre im vereinten Deutschland verbracht. Ein halbes Jahrhundert liegt hinter uns. Möglicherweise sind wir immer ein wenig zu spät gekommen, um in vorderster Reihe mitzumischen. Oder waren zu alt, um uns bei politischen Umbrüchen gänzlich neu zu erfinden. Sozialpsychologen bescheinigen den Babyboomern Probleme mit der eigenen Individualität und einen Hang zum Selfmarketing, um in der Masse aufzufallen. Andererseits war unsere Jugend in West wie Ost wohlbehütet. Vielleicht ist aus dieser Erfahrung auch eine Zuversicht erwachsen, die es uns möglich macht, immer wieder Risiken einzugehen und den eigenen Entscheidungen zu vertrauen - auch in den nächsten 50 Jahren.
Gefühlte 35
Herrmann: "Ich fühl mich nicht wie 50. Das ist wahrscheinlich auch etwas, was typisch ist für unsere Generation. Dass wir alle noch denken, wir seien doch eigentlich noch 35 und dieses Alter 50 bei uns gar nicht ankommt."
Ulrike Herrmann ist heute Wirtschaftskorrespondentin bei der "taz" und Buchautorin. In ihrem letzten Buch geht es um "die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen".
Bläss-Rafajlovski: "Natürlich, wenn man sich so überlegt, wie alt man früher die 50-Jährigen fand. Donnerwetter! Und irgendwie waren wir doch gerade erst in der Studienzeit und so. Nee, das ist aber so."
Petra Bläss-Rafajlovski ist 2002 aus dem Bundestag ausgeschieden und 2005 aus der PDS. Heute arbeitet sie als Politikberaterin in Albanien.
Jeschke: "Wenn man jetzt 50 wird, da haben wir echt schon interessante Dinge so bewusst erlebt. Das ist mir einfach noch mal klar geworden."
Tanja Jeschke lebt als Literaturkritikerin und Schriftstellerin in Stuttgart. Zurzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Roman.
Matthus: "Ich bin froh, immer noch jung sein zu dürfen."
Der Schauspieler und Regisseur Frank Matthus wird im kommenden Jahr seinen Vater als künstlerischen Leiter und Geschäftsführer an der Kammeroper Schloss Rheinsberg ablösen.
Matthus: "Das heißt, ich komme mit 50 in eine Institution als der junge. Ja, das ist toll."
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