J.M.G. Le Clézio: "Alma"

Auf der Suche nach dem Ursprung

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Cover von J.M.G. Le Clézio "Alma" vor einem Aquarell-Hintergrund
J.M.G. Le Clézios Roman "Alma" befasst sich mit der kolonialen Vergangenheit und der einzigartigen Natur der Insel Mauritius. © Kiepenheuer & Witsch / Deutschlandradio
Von Nico Bleutge · 03.03.2020
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Zwei sehr unterschiedliche Figuren lässt J.M.G Le Clézio in seinem Roman "Alma" erzählen: einen wohlsituierten Europäer, in Mauritius unterwegs auf den Spuren seiner Ahnen, und dessen Verwandten, der schwer krank und obdachlos über die Insel streift.
Verlorene Paradiese haben den französischen Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio schon immer angezogen. Ob es sich um Bücher wie "Haï" (1971) oder "Wüste" (1980) handelt – stets macht er sich auf die Suche nach Landschaften, die auf den ersten Blick unberührt wirken, beim genauen Hinsehen aber umso deutlicher die Spuren der Geschichte und gesellschaftlicher Brüche zeigen. Dass seine Expeditionen nicht nur zu intensiven Naturbeschreibungen führen, sondern hinter dem Wunsch nach dem vermeintlich Unbekannten der Kitsch des Ursprünglichen lauert – auch das gehört von Anfang an zu Le Clézios Schreiben.

Teil einer Dynastie von Plantagenbesitzer

In seinem neuen Roman "Alma" kehrt er zurück nach Mauritius, jener Insel im Indischen Ozean, die mit seiner Familiengeschichte verwoben ist und die er schon in früheren Romanen umkreist hat. Le Clezio lässt zwei Figuren erzählen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Der eine ist ein gut situierter Europäer, der auf der Suche nach Spuren seiner Familie auf die Insel reist. Dieser Jérémie Felsen weiß bei seiner Ankunft kaum mehr, als dass er Teil einer Dynastie einst mächtiger Plantagenbesitzer ist. Der andere Erzähler, Dominique, genannt Dodo, gehört gleichsam zur dunklen Linie derselben Familie. Körperlich entstellt von einer schweren Krankheit, die er sich in seiner Jugend zugezogen hat, streift er als Obdachloser über die Insel, mit durchlöcherten Schuhen und von den Kindern als "Monster" beschimpft.

Sehnsucht nach intensiver Begegnung mit der Natur

Als Verfallsgeschichte hat Le Clézio seinen Roman angelegt. Je tiefer Jérémie auf seinen Recherchen in die Vegetation und in die Historie der Insel vordringt, desto mehr sehnt er sich nach einer intensiven Begegnung mit der Natur und mit anderen Menschen. Stattdessen sieht er überall nur Einkaufszentren und Baustellen für neue Hotelkomplexe, lamentiert über die Containerschiffe im Hafen und über die Jumbojets, die über ihn hinwegrauschen, "mit einer Ladung von Touristen" an Bord. Obendrein verliebt er sich in eine junge Frau von der Insel, was Le Clézio dazu nutzt, allerlei Altmännerphantasien in die Erzählung einzuspeisen.
Französisch-mauritischer Schriftsteller Jean-Marie-Gustave Le Clézio
Französisch-mauritischer Schriftsteller Jean-Marie-Gustave Le Clézio© Getty Images / Hulton Archive / Leonardo Cendamo
Dodo ist die weitaus interessantere Erzählstimme. Die Krankheit hat ihm auch seine Augenlider zerstört, sodass es für ihn immer derselbe Tag ist, Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen. Dodos Berichte verbindet Le Clézio mit der Geschichte des großen flugunfähigen Vogels gleichen Namens, den es nur auf Mauritius gab und der im 17. Jahrhundert innerhalb weniger Jahrzehnte ausgerottet wurde.

Erinnert an Ursprünglichkeitskitsch von Filmen wie "Avatar"

"Alma" ist ein Buch über die "Last der Geschichte", wie es anfangs einmal heißt, über die koloniale Vergangenheit der Insel und über die Geschichte der Sklaverei. Zugleich ist es ein Buch über das Erinnern und über die Macht des Namengebens. Leider gelingt es seinem Autor aber nicht, ein Gleichgewicht zwischen den Naturskizzen und der gegenwartskritischen Perspektive herzustellen. Wenn Jérémy die Blätter der Bäume beschreibt, spürt er schon wenig später "irgendetwas aus sehr alter Zeit", das ihm "eine Wahrheit" sagt. Und wenn eine Nebenfigur den Urwald als "vollkommene Welt" erlebt, erinnert das doch eher an den Ursprünglichkeitskitsch von Filmen wie "Avatar" als an erfüllte Naturerfahrung.

J.M.G. Le Clézio: Alma.
Aus dem Französischen von Uli Wittmann
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020
356 Seiten, 25 Euro

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