Italienische Einsichten

12.09.2011
In seinem Roman "Schwarzes Schaf" karikiert der Dichter Ascanio Celestini die Entwicklung der italienischen Gesellschaft. Anstelle klassischer Werte zählen aus Sicht des Autors vor allem Konsum, Markenartikel und Sex. Ein schräger, bitterer und schwer verdaulicher Text.
Ascanio Celestini ist ein Phänomen. Ein typisch italienisches Phänomen, obwohl er mit seinem Spitzbart, dem wunderlichen Mantel und dem Spazierstock wie der Gegenentwurf zu dem durchschnittlichen männlichen, sonnenbebrillten und mit Markenanzug ausgestatteten Metropolenbewohner wirkt. Der 1972 in Rom geborene Dichter, Dramatiker, Regisseur, Schauspieler und Vortragskünstler ist deshalb typisch für Italien, weil er an die Tradition des mündlichen Erzählens anknüpft und sie auf sehr eigene Weise fortführt.

Celestini ist ein grandioser Performer und hat inzwischen Kultstatus, obwohl er meistens nichts anderes tut, als sich auf eine Bühne zu stellen und Geschichten zu erzählen. Sein kritischer Umgang mit der Gegenwart macht ihn für junge Zuschauer so anziehend. Celestini beruft sich auf Pier Paolo Pasolini: Genau wie Pasolini ist er von der Notwendigkeit streitbarer Zeitgenossenschaft überzeugt, nimmt Begriffe wie "Klassenkampf" in den Mund und besitzt gleichzeitig das Talent zur Komik. Ein Schriftsteller müsse mit der Feder in der Hand und der Pistole in der Hosentasche schreiben, meint Celestini. Diesen Hintergrund muss man kennen, um seiner ersten Veröffentlichung auf Deutsch auf die Schliche kommen zu können.

Im Mittelpunkt seines Romans "Schwarzes Schaf" steht ein bekennender Irrer namens Nicola, der seit 30 Jahren in einer Anstalt lebt und außer Einkäufen im Supermarkt kaum etwas zustande bringt. Meistens ergreift er selbst das Wort und breitet in knappen Prosaschüben voller Obszönitäten seine Kindheit und Jugend und sein Leben in der Jetztzeit aus. In den "fabelhaften sechziger Jahren", als Nicola geboren wurde, ging es hart zur Sache: Seine Mutter wurde mit Elektroschocks zugrunde gerichtet, die Brüder vergriffen sich an einer Prostituierten, der Vater empfahl den Verzehr von Schafskötteln, allein die Großmutter ließ dem Jungen ein Minimum an Zuwendung angedeihen und brachte ihn immerhin täglich zur Schule.

Aber außer haarige Spinnen zu futtern, gelang Nicola wenig, er vergrauste sogar seine Grundschulliebe Marinella. Jahrzehnte später trifft er Marinella in seinem Stammsupermarkt wieder, wo sie sich als Werbegirl einer Kaffeefirma verdingt hat und nicht einmal mehr nachts nach Hause geht. Am Ende scheint der Supermarkt das schlimmere Irrenhaus zu sein.

Man muss den Roman auf die gesellschaftliche Entwicklung Italiens beziehen, sonst bleibt er vollkommen rätselhaft. Celestinis Held liefert eine karikierende Verzerrung der gängigen Werte: Von den alten Wurzeln abgeschnitten, zählen Konsum, Markenartikel und Sex, mehr nicht. Das Land steckt in seinem eigenen Klischee fest, eben den "fabelhaften sechziger Jahren", als Gino Paoli "Sapore di sale" trällerte, das Wirtschaftswunder explodierte und alles aufwärts ging. Wer hier verrückt ist und wer nicht, lässt sich nicht endgültig klären. "Schwarzes Schaf", das mit großer Resonanz verfilmt wurde, ist ein schräger, bitterer und schwer verdaulicher Text. Eine Provokation.

Besprochen von Maike Albath

Ascanio Celestini: Schwarzes Schaf
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2011
124 Seiten, 15,90 Euro