Italien im Ausnahmezustand

27.03.2012
Der italienische Schriftsteller Davide Longo hatte vor vier Jahren beträchtlichen Erfolg mit seinem Roman "Der Steingänger". In "Der aufrechte Mann" führt er nun in das Italien im Jahr 2045, wo die öffentliche Ordnung zusammengebrochen ist und Anarchie und Gewalt herrschen.
Davide Longos neuer Roman ist harter Stoff. Der gebürtige Piemontese, 1971 geboren und Dozent an der Turiner Schule für kreatives Schreiben Holden, hatte schon in seinem Debüt "Der Steingänger" (2007) seine erzählerischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Mit "Der aufrechte Mann" legt er eine rasante Mischung aus Abenteuergeschichte und Science Fiction vor, zugleich eine Parabel auf den kulturellen Niedergang Italiens während der vergangenen Jahrzehnte.

Die Geschichte trägt sich irgendwann um 2045 zu. Das Land ist abgeschottet, die Gerichtsbarkeit aufgehoben, die Schulen geschlossen, das Internet längst zusammen gebrochen, im Radio laufen nur alte Schlager. Die Nationalgarde errichtet Straßensperren, wilde Hunderudel durchstreifen die Ebenen. Es kommt zu Raubüberfällen und standrechtlichen Erschießungen.

Im Mittelpunkt steht Leonardo, ein ehemaliger Schriftsteller und Universitätsprofessor, der wegen einer Verleumdungskampagne Frau und Tochter verlor und seither in dem beschaulichen Dorf seiner Kindheit im Piemont lebt. Inmitten der politischen Zuspitzungen hält Leonardo noch eine Weile lang an seinen vertrauten Beschäftigungen fest. Er verkriecht sich in seiner Bibliothek, liest Balzac und Homer, bringt die Weinernte ein, zieht einen Welpen auf. Als plötzlich seine Ex-Frau auftaucht, ihm die gemeinsame Tochter und den zehnjährigen Sohn ihres neuen Mannes anvertraut und kurze Zeit später auch im Dorf alles aus dem Ruder läuft, begibt sich Leonardo mit den Kindern auf Wanderschaft.

Man fühlt sich mehrfach an Ray Bradburys "Fahrenheit 451" oder zeitgenössische Apokalypsen erinnert, wie William Goldings "Herr der Fliegen" oder "Die Straße" von Cormac McCarthy, auch Bezüge auf Bolanõs mexikanische Stadt aus "2666" klingen an. Longo arbeitet mit Übersteigerungen: Auf die unwirtliche Ebene im Nordosten mit ihren verwaisten Schnellstraßen, Autowracks und einem Lager von Ausreisewilligen folgt die absolute Barbarei. Sein Held Leonardo gerät mit seinem Gefolge in die Gefangenschaft einer marodierenden Horde von Kindern und Jugendlichen. Hier gilt nur noch der reine Trieb, ohne jede Domestizierung. Unweigerlich deutet man die grell ausgestalteten Szenen als Zerrbild eines brutal entfesselten Materialismus: Die Kinder unterwerfen sich einem Anführer, betäuben sich allabendlich unter hämmernden Technobeats, kopulieren und demütigen die Gefangenen.

Manchmal übertreibt es Longo mit seinen Schilderungen, deren Grausamkeit den Leser nicht mehr loslässt, auch der Schluss kippt allzu sehr ins Kitschige. Aber seine bildhafte Sprache und die poetischen Vergleiche konterkarieren die Drastik. Außerdem wagt Davide Longo den Versuch, auf gesellschaftliche Entwicklungen literarisch zu reagieren, flüchtet nicht in autobiographische Befindlichkeitsstudien, sondern traut sich an eine klassische Form heran, die er für seine Zwecke umarbeitet. Eine aufrüttelnde Bestandsaufnahme.

Besprochen von Maike Albath

Davide Longo: Der aufrechte Mann
Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012
478 Seiten, 24,95 Euro
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