Israels Annexionspläne

Warum Deutschland nicht tatenlos zusehen darf

04:16 Minuten
Bewaffnete israelische Sicherheitskräfte stehen in Hebron im Westjordanland hinter eine Absperrung.
Proteste gegen den Annexionsplan: Bewaffnete israelische Sicherheitskräfte gehen in Hebron im Westjordanland gegen die Demonstranten vor. © picture alliance / AA / Mamoun Wazwaz
Ein Standpunkt von Ofer Waldman · 10.07.2020
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Für Anfang Juli hatte Israel angekündigt, Teile des Westjordanlandes zu annektieren. Geschehen ist seitdem nichts. Wie sollte Deutschland sich verhalten, wenn die Pläne konkreter oder gar umgesetzt werden? Der Publizist Ofer Waldman hat eine Idee.
Niemand weiß genau, was geschieht, wenn Israel Teile des Westjordanlandes annektiert. Nur in einem Punkt scheinen sich alle Beteiligten einig zu sein: Sobald Israel diese Pläne konkretisiert, wird Öl in das lodernde Feuer des Nahostkonflikts gekippt.
Die Stichflammen werden sicherlich auch die hiesige israelbezogene Diskussion erreichen, die sich durch Verhärtung auf allen Seiten auszeichnet. Zuletzt war dies im Feuilletonkrieg über den Fall Achille Mbembe und Felix Klein zu erleben.
Hand aufs Herz: Es ist fast schon vorhersehbar, wie die jeweiligen Reaktionen darauf ausfallen, oder? Die einen werden sagen: Die deutsche Solidarität mit dem Staat der Juden ist unantastbar! Die anderen werden behaupten, die universellen Menschenrechte sind Grundlage deutscher Politik.
Auf deren grobe Verletzung – was die Annexion der palästinensischen Gebiete ja ist – müsse Deutschland entschlossen reagieren.

Lehren aus der Vernichtung der europäischen Juden

Die einen sind also bereit, jede noch so dicke israelische Kröte zu schlucken, während die anderen Israel anprangern, sobald es sich nicht an Internationales Recht hält - ungeachtet der besonderen deutsch-israelischen Beziehungen.
Das Erstaunliche ist dabei jedoch, dass beide Parteien im Grunde aus denselben Motiven handeln: die Lehren aus der Zeit des "Dritten Reiches" und der Shoah, der Vernichtung der europäischen Juden.
Einerseits wird die Shoah als ein deutsches Verbrechen gegen Juden verstanden, andererseits als ein universelles Verbrechen von Menschen gegen Menschen. Auf diesen zwei Auslegungen basieren die Grundsätze deutscher Politik – Solidarität mit dem jüdischen Volk sowie ein bedingungsloses Bekenntnis zu den allgemeinen Menschenrechten.

Unterschiede bei der Auslegung politischer Grundsätze

Jeder dieser Grundsätze ist für sich so absolut, wie ihr Ursprung – das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte – absolut war. Zu welch unterschiedlichen Ergebnissen ihre Auslegung jedoch führt, zeigen der jetzige Bundesaußenminister Heiko Maas und sein Vorgänger Sigmar Gabriel: Beide bezeichnen dieses Erbe als den Ursprung ihres politischen Engagements.
Doch während Maas Israel gegenüber stets versöhnliche Töne anschlägt, sprach Gabriel bei einem Besuch der besetzten Gebiete von "Apartheid", die Israel dort gegen die palästinensischen Bewohner praktiziere.
Die israelischen Annexionspläne drohen nun die Spannung zwischen den beiden Grundsätzen der deutschen Politik ins Extreme zu treiben.
Doch es darf keine Hierarchie zwischen beiden entstehen. Ein deutsches Bekenntnis zu den universellen Menschenrechten ohne Solidarität mit Israel wirkt historisch verlogen, genauso verlogen wie eine Relativierung dieser Rechte zugunsten der israelischen Politik ist.

Schluss mit moralischen Eitelkeiten!

Es ist an der Zeit, dass die Verfechter beider Lager sich auf den gemeinsamen Ursprung ihrer Position besinnen: Mit der fortgesetzten Selbstbefriedigung der eigenen moralischen Eitelkeit kommen wir ebenso wenig weiter wie mit reinen Lippenbekenntnissen zum jeweilig anderen Grundsatz.
Das Gleiche gilt übrigens auch für die festgefahrene Antisemitismusdebatte hierzulande.
Mit der drohenden Annexion des Westjordanlandes wird die israelische Demokratie, die durch die politischen Krisen der letzten Jahre eh erschüttert ist, endgültig aus den Fugen geraten. Denn Ministerpräsident Netanyahu hat zudem bereits angekündigt, er werde den dortigen palästinensischen Anwohnern keine israelische Staatsbürgerschaft gewähren.

Deutsche Solidarität als Korrektiv

Deutschland darf dabei nicht tatenlos zusehen. Das Annexionsvorhaben ist erst durch Donald Trumps sogenannten "Jahrhundertplan" in Gang gekommen. Israel braucht keine schweigende deutsche Solidarität, sondern eine, die als Korrektiv zum Wüten der amerikanischen Weltpolitik agiert.
Dabei wird sich Deutschland weder von den Grundsätzen der universellen Menschenrechte verabschieden noch von seinem besonderen Verhältnis zu Israel. Gerade weil beide Prinzipien gleichrangig sind, sollte Deutschland der israelischen Regierung klarmachen, dass sich Israel mit der Annexion aus der Familie der demokratischen Staaten verabschieden würde - mit all den damit verbundenen Konsequenzen.

Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, ist freier Autor und Journalist. Er war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland erwarb er ein Diplom als Orchestermusiker und spielte unter anderem beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. Derzeit promoviert er an der Hebräischen Universität Jerusalem und der FU Berlin und beschäftigt sich in Vorträgen und Texten mit den deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen und israelisch-arabischen Beziehungen.

Der Publizist und Musiker Ofer Waldmann
© Kai von Kotze
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