"Israel wird tun, was es tun muss"

Moderation: Michael Groth · 11.02.2012
"Iran ist nicht nur das Problem Israels": Die USA und Europa dürften Israel nicht allein lassen, falls es wegen des Atomprogramms zu einem bewaffneten Konflikt mit Teheran kommt, fordert David Harris vom American Jewish Committee.
Deutschlandradio Kultur: Heute mit David Harris, Direktor des American Jewish Committe. Mein Name ist Michael Groth. Guten Tag, Mr. Harris. Hierzulande wird das "American Jewish Committee", der AJC, als Lobby betrachtet, die die Interessen Israels in den USA – und darüber hinaus – vertritt. Trifft das den Kern?

Harris: Das trifft nur einen Teil unserer Arbeit. Es ist komplizierter. Wir sind älter als der Staat Israel. Es geht bis heute um zweierlei: Zunächst helfen und schützen wir Juden, wo immer sie leben. In den Vereinigten Staaten oder andernorts. Und indem wir uns um Juden kümmern, kümmern wir uns um Demokratie und Menschenrechte - überall. Das war unser Ziel im Jahr 1906 und es ist noch immer unser Ziel.

Deutschlandradio Kultur: Das iranische Atomprogramm ist derzeit eines der schwierigsten internationalen Probleme. Der Gesprächsfaden zu Teheran ist abgerissen. Bislang haben Sanktionen keine Wirkung. Wir hören Meldungen, das Israel einen Angriff auf Iran erwägt. Möglicherweise im Sommer.

Ein solcher Angriff könnte nicht ohne Unterstützung und Hilfe der Vereinigten Staaten stattfinden. Sollte Präsident Obama diese Unterstützung und Hilfe bereitstellen?

Harris: Iran ist ein sehr schwieriges Thema. Die Frage, wie wir auf das iranische Atomprogramm reagieren, ist wahrscheinlich die derzeit wichtigste Frage der internationalen Politik. Iran ist nicht nur das Problem Israels. Wer so denkt, macht einen schrecklichen Fehler. Es stimmt natürlich, dass die Führung in Teheran Israel von der Landkarte verschwinden lassen will – und Israel hat die Pflicht, solche Drohungen ernst zu nehmen. Es gab in der Geschichte Drohungen, die nicht ernst genommen wurden – dafür haben die Juden einen hohen Preis gezahlt.

Auch die Vereinigten Staaten und Europa wollen eine iranische Bombe verhindern. Teheran ist nicht zu trauen – und wer glaubt, in Anlehnung an den Kalten Krieg, ein atomar bewaffneter Iran könne am Gebrauch der Bombe gehindert werden, der verkennt den Kern des Regimes.
Wenn Iran die Bombe hat, bedeutet das wahrscheinlich das Ende des Vertrages über die Nicht-Verbreitung von Atomwaffen. Wer kommt dann? Die Türkei, Saudi-Arabien? Die Emirate? Ägypten? Bedenken Sie die Konsequenz. Der nahe Osten ist schon jetzt ein Pulverfass. Und dann noch Atombomben. Kriege könnten durch Missverständnisse entstehen, die Waffen könnten in die Hände von Terroristen gelangen. In meinem Teil der Welt gibt es außerdem die Befürchtung, Iran könne die gefährliche Technologie zum Beispiel nach Venezuela exportieren. Verbindungen gibt es da durchaus.

Deutschlandradio Kultur: Noch mal nachgefragt, Mr. Harris. Sollte Israel eine militärische Aktion erwägen, sollte Obama dann diese Aktion unterstützen und fördern?

Harris: Ich weiß nicht, ob sich Israel entschließt, militärisch einzugreifen. Seit Jahren fordern die Vereinigten Staaten und Europa Teheran auf, sein Atomprogramm offen zu legen bzw. einzustellen. Wenn man nun von dieser Forderung abrückt – so nach dem Motto: wir haben`s versucht und sind gescheitert – dann verliert der Westen seine Glaubwürdigkeit. Für viele Jahre. Israel wird tun, was es tun muss – aber es sollte in einer möglichen Auseinandersetzung nicht allein stehen. Nur weil Europa und Amerika sich vor der Verantwortung drücken, die sie vor Jahren übernommen haben.

Deutschlandradio Kultur: Fürchten Sie manchmal, dass die Unterstützung Amerikas für Israel nachlassen könnte, wenn es um die Alternative geht: Öl oder Freundschaft?

Harris: Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Die Unterstützung für Israel ist nicht nur auf die sogenannte "jüdische Lobby" zurückzuführen. In Europa höre ich das oft: Es gibt diese "jüdische Lobby", die angeblich die amerikanische Israelpolitik lenkt. Das stimmt nicht. Umfragen belegen Jahr für Jahr, dass die Vereinigten Staaten - also nicht nur diese sogenannte "Lobby" - Israel zu ihren Freunden zählen. Warum? Weil die Amerikaner die Demokratie schätzen. Und Israel ist eine Demokratie. Die Amerikaner schätzen auch verlässliche Verbündete; Israel ist ein verlässlicher Verbündeter. Und die Amerikaner mögen den "underdog", der sich gegen eine Übermacht wehrt. Das macht Israel, das von arabischen Nachbarn umgeben ist, seit mehr als 60 Jahren ziemlich erfolgreich.

Darüber hinaus sind die Vereinigten Staaten - im Vergleich zu Europa - sehr religiös. Wir legen Wert auf unsere christlich-jüdische Tradition. Und schließlich spielt Israel eine Rolle im ganz normalen Alltag, das gilt für Wissenschaft, Technik, Medizin und Kommunikation. Ich denke, der Zusammenhalt zwischen Israel und Amerika wird eher stärker – unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt.

Lassen mich einen letzten Punkt machen, weil Sie das Öl erwähnten. Seit 40 Jahren unterstützt der AJC die Suche nach alternativen Energiequellen. Solche Quellen helfen den Vereinigten Staaten, sich von der bizarren Abhängigkeit von einigen Ölproduzenten zu lösen. Die nehmen unser Geld und nutzen es dann, um uns zu schaden. Sich von solchen Ländern in Bezug auf den Energieimport abhängig zu machen, ist schlicht schlechte Außenpolitik.

Deutschlandradio Kultur: In Iran wurde in den 70er-Jahren ein Diktator von der Bevölkerung entmachtet. Die Folgen – bis zum heutigen Tag – zeigen, dass dies erstens die interne Unterdrückung der Opposition nicht beendete und zweitens das Land zu einer internationalen Gefahr wurde.

Nun wurden im Verlauf des vergangenen Jahres einige arabische Diktatoren verjagt – mit ungewissem Ausgang. Betrachten Sie den "arabischen Frühling" mit gemischten Gefühlen?

Harris: Ich bin ein sehr optimistischer Mensch. Und ich bin dafür, die Geschichte mit einem sehr weiten Blick zu betrachten. Als der chinesische Ministerpräsident Tschou En Lai in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach den Folgen der französischen Revolution gefragt wurde, sagte er, es sei zu früh, dies zu beurteilen. Nach fast 200 Jahren!
Aber wenn ich heute – ein Jahr nach dem arabischen Frühling – die Lage beobachte, dann mache ich mir große Sorgen. Natürlich muss man den Mut der Bevölkerung bewundern, die ihre Diktatoren verjagte. Aber in der Politik ist das Gegenteil des Schlechten nicht unbedingt etwas Gutes. Der Schah, den alle für einen Schurken hielten, wurde durch Leute ersetzt, die noch schlimmer waren. Glaubt denn ernsthaft jemand, dass die, die dem Schah folgten, eine bessere Politik machten?

Nun ist Mubarak weg, Gaddafi und Ben Ali sind verschwunden, und ich hoffe, dass auch Assad bald aus Damaskus verschwindet. Leider heißt das nicht, dass das, was folgt, besser ist. Es gibt Hoffnung in Tunesien, aber in Ägypten sehen die Dinge schlecht aus. Von Libyen ganz zu schweigen. Und was in Syrien passiert, wenn Assad weg ist, das weiß heute niemand. Wir müssen natürlich mit den neuen Machthabern in Verbindung bleiben. Sonst geben wir jeden Einfluss auf und gefährden die Ergebnisse, die wir uns wünschen: Demokratie, eine funktionierende Zivilgesellschaft, die Einhaltung der Menschen- und der Minderheitsrechte, eine gleichberechtigte Beteiligung der Frauen. Wenn wir dies nicht erreichen, dann haben wir versagt.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben Ägypten erwähnt. Das klang pessimistisch. Warum?

Harris: Ja, ich bin pessimistisch. Der Fehler, den viele begingen, auch die Medien, ist der: alle sagten, Mubarak war schlecht , und im Umkehrschluss waren die, die gegen ihn protestierten, die Guten. Einige Gute gab es, keine Frage – säkulare Politiker und Demokraten. Aber das war eine Minderheit. Und sie wurden an den Rand gedrängt. Jetzt haben wir eine Auseinandersetzung zwischen dem Militär und den Islamisten. Die Islamisten sind untereinander nochmals zerstritten. Ich denke, weder die Muslimbrüderschaft noch die Salafisten stehen für positive Entwicklungen. Und wenn es dennoch eine Art Partnerschaft zwischen dem Militär und den Islamisten geben sollte, dann ist das für Ägypten keine gute Entwicklung.

Deutschlandradio Kultur: Können Israel, die Vereinigten Staaten oder Europa Einfluss ausüben?

Harris: Israel kann da nichts machen. Aber die Vereinigten Staaten zahlen jedes Jahr rund 1,3 Milliarden Dollar Unterstützung für Ägypten. Das könnte man ja jetzt mit Bedingungen verknüpfen. Soll die Hilfe weitergehen, muss sich Kairo an einige Richtlinien halten.

Man kann die Mitarbeiter von Nicht-Regierungsinstitutionen nicht einfach einsperren, wenn man mit deren Arbeit Probleme hat. Genau das ist in Kairo passiert. So etwas dürfen wir nicht akzeptieren. Genauso wenig die Verfolgung koptischer Christen. Wir sollten unsere Hilfe für Ägypten an den Umgang des Landes mit Minderheiten koppeln. Wir sollten aus der Geschichte lernen. Ein Land zeigt seinen Charakter, indem es zeigt, wie es mit Minderheiten umgeht.

Deutschlandradio Kultur: Dramatisch ist in diesen Tagen die Lage in Syrien – das Land steht am Rand eines Bürgerkrieges. Präsident Assad ermordet die Bevölkerung. Der internationalen Gemeinschaft sind weitgehend die Hände gebunden - auch weil Russland und China mit ihrem Veto eine Resolution gegen Syrien im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhindert haben. Einige Beobachter sehen darin einen Rückfall in den Kalten Krieg. Sie auch?

Harris: Das Veto ist eine Schande. Umso mehr, da genau an jenem Tag Hunderte Syrier in der Stadt Homs getötet wurden, während die Russen und Chinesen sich zum Helfer Assads machten. Für mich stellt sich folgende Frage: Wenn der VN-Sicherheitsrat nicht in der Lage ist, eine Resolution zu verabschieden, gibt es andere Wege, die zu Hilfsaktionen führen?

Die Arabische Liga bemüht sich um Syrien, und Europa und Amerika sind sich einig in ihrer Rücktrittsforderung an Assad. Alle müssen jetzt mehr tun. Sanktionen, der Abbruch diplomatischer Beziehungen – Präsident Assad muss begreifen, dass der Preis für seine Macht immer höher wird. Wir binden unsere Hände, wenn wir alles nur dem Sicherheitsrat überlassen und Russland und China das Veto gestatten. Bei Ereignissen, wie wir sie in Syrien derzeit beobachten, können wir dieses Veto nicht als Entschuldigung für ausbleibendes Handeln nutzen.

Deutschlandradio Kultur: Die Palästinenser fordern einen Sitz in den VN. Bislang ohne Erfolg. Fürchten Sie, das könnte sich ändern, wenn die bilateralen Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinenservertretern weiter ohne Erfolg bleiben?

Harris: Ich glaube das nicht. Es geht um ein Prinzip. Die Möglichkeit bilateraler Gespräche zwischen Israel und den Palästinensern gibt es ja. Israels Angebot liegt auf dem Tisch: Lasst uns reden, ohne Bedingungen. Mit Anderen hatten solche Gespräche Erfolg. Denken Sie an den Friedensvertrag mit Ägypten 1979 oder den Vertrag mit Jordanien 1994. Ich denke, Gespräche zwischen Israel und den Palästinensern könnten eine Vereinbarung schaffen, die auf einer Zwei-Staaten-Lösung basiert.

Offenbar glauben die Palästinenser aber, sie hätten einen bequemeren Weg. Sozusagen um den Verhandlungstisch herum. Direkt zu den Vereinten Nationen, wo sie den Konflikt auf internationaler Ebene behandeln wollen. Dabei verlassen sie sich auf das, was wir die "automatische Mehrheit" der VN nennen. Das sind Nationen, die die Palästinenser "automatisch" - wie Roboter - unterstützen, unabhängig von konkreten Anlässen. 22 arabische Staaten stehen gegen ein Israel; dann die sogenannte "Islamkonferenz" – 57 Nationen – ein Israel; auch die Mehrheit der nicht in Bündnissen verankerten Länder stimmt in der Regel gegen Israel. Präsident Abbas hat sich dennoch getäuscht. Im Sicherheitsrat haben nicht nur die Vereinigten Staaten gegen eine Aufnahme der Palästinenser gestimmt; sieben der 15 Mitglieder des Sicherheitsrates waren dagegen, auch Deutschland. Genug, um den Antrag abzulehnen; es bedurfte nicht mehr des Vetos aus Washington. So wird`s dann wohl bleiben. Das Prinzip bilateraler Verhandlungen darf nicht durch einseitige Aktionen der Palästinenser aufgeweicht werden.

Deutschlandradio Kultur: Wie erklären Sie jungen Amerikanern das heutige Deutschland, die Bundesrepublik im Jahr 2012?

Harris: Das mache ich oft. AJC bringt viele junge amerikanische Juden nach Deutschland. Wir betrachten uns als Brücke zwischen den mehr als sechs Millionen Juden in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland. Was erzählen wir vorher?

Ihr werdet überrascht sein. Überrascht, dass Deutschland eine Demokratie und ein Rechtsstaat ist. Mit der Bundeswehr, einer Armee, die sich an Friedenserhaltung in aller Welt beteiligt. Überrascht auch über die Erinnerungskultur. Ihr werdet ein Verantwortungsbewusstsein finden, das ihr vielleicht nicht erwartet habt. Aber es gibt auch diese Gespenster noch. Es fehlt etwas in Deutschland. Etwas, das für immer verschwunden ist. Das spüren auch die, die lange nach dem Krieg geboren sind.
Die zentrale Botschaft aber ist, dass Deutschland sich zu einem Modell entwickelt hat – einem Modell dafür, wie man für die Vergangenheit Verantwortung übernimmt. Das halten wir beim AJC für vorbildlich.

Deutschlandradio Kultur: Nach einer Studie kann jeder fünfte Deutsche unter Dreißig mit dem Namen "Auschwitz" nichts anfangen. Wir sitzen hier in Berlin, Mr. Harris; es gibt das Holocaust Memorial, das Haus am Wannsee, eine Vielzahl von Gedenk- und Erinnerungsorten. Und dennoch diese Zahl. Was ist da falsch gelaufen?

Harris: Für die meisten Menschen ist es ist extrem schwierig, die Vergangenheit präsent zu halten. Ich bin das Kind Überlebender, der erste der Familie, der in Amerika geboten ist. Bei uns blieb der Krieg und der Holocaust immer in Erinnerung. Die junge Generation in Deutschland und anderen Ländern weiß nicht mehr viel von dieser Geschichte. Das ist die Realität. Wir müssen es schaffen, der heutigen Jugend diesen Teil der Geschichte zu vermitteln – diese Jugend lebt in einer Zeit, in der es kaum noch Überlebende oder Augenzeugen gibt. Übrig bleiben die Gedenkstätten, die Museen, die Bücher, die Ausstellungen. Wir müssen einen Weg finden, das Erinnern zu stärken. Solange es noch diese Überlebenden gibt.

Dabei geht es nicht nur um Geschichte. Der Holocaust lehrt uns, wie schmal der Pfad ist vom Nationalismus zur Dämonisierung bestimmter Gruppen, zur Entrechtung und schließlich zur Vernichtung dieser Menschen. Es geht um Juden, aber es geht auch darum, zu welchen Untaten Menschen fähig sind. Das ist ja nicht vorbei. Wir haben es in Ruanda erlebt und in Kambodscha. "Niemals wieder" sollten wir nicht nur am 27. Januar, dem Holocaustgedenktag, sagen. Das gilt das ganze Jahr. Wenn wir das nicht tun, besteht immer die Gefahr, dass etwas passiert. Was dann beweist, dass wir die Lektionen der Geschichte nicht gelernt haben. Deshalb suchen wir im AJC einen pädagogischen Ansatz, der den jungen Leuten vermittelt: Geschichte spielt eine wichtige Rolle.

Deutschlandradio Kultur: In einer anderen Studie heißt es, rund 20 Prozent der Deutschen verhalte sich "latent" antisemitisch. Das entspricht den Zahlen, die in anderen Ländern gemessen werden. Können Sie sich in dieser "Normalität" – wenn es denn eine ist – einrichten?

Harris: Niemals. Weder auf 20 Prozent Antisemitismus, oder auf 20 Prozent Rassismus, oder auf 20 Prozent Fremdenfeindlichkeit, oder auf 20 Prozent Schwulenfeindlichkeit. Nein. Unsere Organisation konzentriert sich seit 1906 auf alle Rechte der sogenannten "Anderen" – der Minderheiten. Frieden und soziale Gerechtigkeit gibt es nur ohne Vorurteile. Es gibt keine andere Chance.

Wir dürfen uns nicht einrichten und sagen: Na ja, 20 Prozent ist nicht so schlecht, das heißt ja, dass 80 Prozent keine Vorurteile haben. Um rassistischen Schrecken zu verbreiten, bedarf es keiner Mehrheiten. Kleine Gruppen können Schreckliches anrichten. Das haben ja gerade diese Leute aus Zwickau bewiesen. Ein Prozent Antisemitismus ist zu viel, ein Rassist ist einer zu viel. Das trifft den Kern unserer Gesellschaft.

Und noch eins: Antisemitismus ist keine jüdische Sache. Das klingt für die Hörer jetzt seltsam. Aber es sind ja die Nicht-Juden, die Antisemitismus verbreiten. Klar, es betrifft die Juden. Aber letztlich kann diese nicht-jüdische Krankheit nur von Nicht-Juden geheilt werden.

Ich könnte ein – in Anführungszeichen – "perfekter Jude" sein. Gegen Antisemitismus wäre ich nicht gefeit. Die Juden sind ein normales Volk. Wir machen normale Dinge, gute und schlechte. Der Antisemitismus macht alle Juden für bestimmte Verhaltensweisen verantwortlich. Eine irrationale Krankheit. Diese Krankheit kann nur bekämpfen, wer sich für Demokratie und Pluralismus einsetzt. Es geht eben nicht um Juden, es geht um uns alle.

Deutschlandradio Kultur: Wir sind in einem amerikanischen Wahljahr. Wie beurteilen Sie die außenpolitische Ignoranz, die Teile der Republikaner verbreiten, die der "Tea Party" nahestehen?

Harris: Zunächst muss ich nochmals bekräftigen: Der AJC ist nicht parteigebunden. Ich werde mich also hier nicht zu den amerikanischen Parteien äußern. Generell kann ich sagen: Vielen Amerikanern fehlt jede internationale Erfahrung. Sie haben keine Pässe, und sie wissen wenig über Geografie und Außenpolitik. Das eigene Land ist groß genug für sie. Wir versuchen, unseren Landsleuten zu vermitteln, dass sie Teil der Welt dort draußen sind. Deshalb sollten sie teilhaben an den Entwicklungen. Aber sie können nicht teilnehmen ohne Kenntnisse. Kenntnisse über die Wirtschaft, die Energie, Kultur – das geht nicht. Wir richten unsere Botschaft an beide Parteien in Washington: Mischt Euch ein. Amerika ist nach wie vor eine globale Führungsmacht. Dies sollten wir nicht aufgeben. Wollen wir, dass Russland und China den Lauf der Dinge lenken? Denken Sie an Syrien. Wollen wir eine Welt, in der Menschenrechtsverletzungen ignoriert werden? Amerika muss nach wie vor eine wichtige internationale Rolle spielen.

Das gilt vor allem für die transatlantische Verbindung. Auch darum kümmern wir uns im American Jewish Committee. Unsere europäischen Freunde sind in fast allen Fragen die besten Partner. Das ist mir ein persönliches Anliegen. Ich habe in Europa gelebt, meine Kinder haben hier gelebt, sie haben europäische Pässe, meine Frau übrigens auch.

Also, die Brücke zwischen den Vereinigten Staaten und Europa steht. Aber auch hier gilt: ohne Arbeit, ohne Engagement kann man so etwas nicht fortsetzen. Das gilt für beide großen Parteien in Amerika. Beide müssen wissen, dass Außenpolitik wichtig ist, und dass Europa im Zentrum dieser Außenpolitik stehen sollte.

Deutschlandradio Kultur: Deutschlandradio Kultur. Sie hörten "Tacheles" mit David Harris. Er ist Direktor des American Jewish Committee.
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