Israel im Post-Corona-Alltag

Trotz Impferfolg ein gespaltenes Land

04:17 Minuten
Menschen mit Plakaten: Sie protestieren vor der Knesset gegen Korruption und eine erneute Regierung unter Führung von Benjamin Netanjahu.
Demonstranten protestieren vor der Knesset gegen Korruption und eine erneute Regierung unter Führung von Benjamin Netanjahu. © picture alliance / newscom / UPI Photo / Debbie Hill
Beobachtungen von Ofer Waldman · 13.04.2021
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Israel scheint die Coronapandemie hinter sich zu lassen. Mit Impfquoten von über 50 Prozent kehrt das normale Leben zurück. Gleichzeitig befindet sich das Land seit über zwei Jahren in einem politischen Lockdown. Dessen Ende ist aber nicht absehbar.
Ein sonniger Frühlingstag: Auf dem Spielplatz gegenüber dem Café spielen Schulkinder, zwei ältere Damen sitzen auf einer Bank und schauen ihnen plaudernd zu. Post-Corona-Alltag in Israel.
Ich warte auf einen Kollegen, endlich treffen wir uns vis-à-vis und nicht über Zoom. Er kommt mit dem Fahrrad angefahren, auf seiner Umhängetasche ein Aufkleber – "Niemals!". Er ist ein Relikt aus den Protesten, die bis vor kurzem vor dem Haus von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, wie auch an sämtlichen Brücken und Plätzen Israels stattfanden.

Restaurants haben für Geimpfte geöffnet

In den Protesten entlud sich der Frust über Netanyahus Personenkult, seine Korruption, seine zynische Politik der Spaltung und Hetze. Ich nahm an diesen Protesten ebenfalls teil, und nach der letzten Parlamentswahl Ende März herrschte für einen kurzen Moment der Eindruck, die Vernunft, zumindest unsere Auffassung davon, könnte obsiegen, und Netanyahu würde abgewählt.
Wir geben uns die Hände. Ich hole mein Handy aus der Tasche und zeige der Café-Bedienung meinen grünen Impfpass.
Gleich am ersten Tag, an dem meine Altersgruppe dran war, habe ich mich gegen Corona impfen lassen. Ich gehe zu einem Tisch, merke aber, mein Kollege fehlt. Er ist nicht geimpft. Die Bedienung sagt – tut mir leid, ohne grünen Pass kommt man hier nicht rein. Er lacht höhnisch, murmelt etwas von "Faschismus", während ich an der Theke zwei Kaffees zum Mitnehmen bestelle. Bis diese fertig sind, reibe ich meine Hände mit einer extradicken Schicht Desinfektionsgel ein.

Netanyahu-Befürworter und -Gegner bleiben unversöhnt

Bis vor Kurzem verlief die gesellschaftliche Spaltung Israels entlang sehr klarer Linien. Auf der einen Seite: die Unterstützerinnen und Unterstützer Netanyahus, die die Korruptionsvorwürfe gegen ihn für einen versuchten Staatsstreich von linken Juristen halten, die immer wieder daran scheitern, "König Bibi", wie Netanyahu von seinen Anhängern genannt wird, durch Wahlen zu besiegen.
Auf der anderen Seite – wir, das heißt, die "Vernünftigen", die die Rechtsstaatlichkeit für ein kostbares Gut, Netanyahu im Gegenteil für einen Populisten und eine akute Gefahr für Israels brüchige Demokratie halten.
Der Graben zwischen beiden Lagern ist so unversöhnlich tief, die politische Pattsituation, die er erzeugt, so unerbittlich, dass Israel in den letzten zwei Jahren ganze vier Mal ein neues Parlament wählte, ohne dass ein tragfähiger Kompromiss zwischen beiden Lagern herauskam. Wie soll denn auch ein Kompromiss zwischen Aufklärung und Nationalismus, zwischen demokratischer Vernunft und populistischem Obrigkeitsdenken entstehen?

Die Impfkampagne ist ein Erfolg

Das geht mir durch den Kopf, während mein Kollege die Coronapandemie als "Grippe mit guter PR" verspottet.
Na ja, füge ich leise hinzu, aber die Wissenschaft, die Vernunft sagt etwas anders.
Die Wissenschaft, sagt er, mit dem ich bis vor Kurzem Schulter an Schulter demonstrierte, sei voll und ganz zur Dienerin der politischen Obrigkeit geworden, ein Werkzeug Netanyahus!
Na ja, füge ich noch leiser hinzu, Netanyahu hin oder her, die Impfkampagne ist doch ein Erfolg, schau dir doch mal Europa an.
Ach, sagt er – während um uns Israel aus der Coronastarre auftaut, die Kinder auf der Straße spielen, alte Menschen ihre Familien und Freunde treffen, während aber gleichzeitig die Koalitionsverhandlungen wieder in einer Sackgasse stecken, und die Ankläger Netanyahus sich nur mit Personenschutz auf die Straße trauen – ach, was bist du unvernünftig!
Er will mir eine Hand auf die Schulter legen, aber ich weiche mit verlegenem Lächeln aus.
Wie sagte Brecht einst?
"Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft."

Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, ist freier Autor und Journalist. Er war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland spielte der diplomierte Orchestermusiker u.a. beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. Er wurde an der Hebräischen Universität Jerusalem und der FU Berlin in Germanistik und Geschichtswissenschaft promoviert. Waldman beschäftigt sich in Vorträgen und Texten mit den deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen und israelisch-arabischen Beziehungen.

© Tal Alon
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