Israel

Der ferne Traum von der Metro

Stau in Tel Aviv
Stau in Tel Aviv © dpa / picture alliance / Daniel Karmann
Von Christian Wagner · 30.04.2014
Viele Staus, viele Unfälle, schlechte Luft – das bringt die Verkehrssituation in Tel Aviv auf den Punkt. Die Busse sind chronisch unzuverlässig und nicht jeder kann auf den Elektro-Roller umsteigen.
Bus Nummer 5 biegt ein auf die Dizengov-Straße Richtung Stadtzentrum Tel Aviv. Es ist früh am Morgen, die schläfrigen Fahrgäste müssen sich gut festhalten, um in den Kurven und vor den Haltestellen nicht durch den Bus geschleudert zu werden.
Passagier: "Tel Aviv hat viele Vorzüge, aber der Nahverkehr gehört nicht dazu."
Yossi ist besonders müde, denn er hat die ganze Nacht in einer Bar gearbeitet. Er will nur nach Hause, so schnell es geht. Immerhin ist sein Bus, die Linie 5, heute nicht im Stau steckengeblieben. So genau kann man das nie sagen, weil es ja gar keinen Fahrplan gibt. Auch das macht es so schwierig, in Tel Aviv von einem Ort zum anderen zu kommen, womöglich noch zu einer bestimmten Uhrzeit. Egal ob mit dem Bus oder mit dem Auto.
Nitzan Horowitz: "Der Verkehr in Tel Aviv ist eine Katastrophe. Viele Staus, viele Unfälle, schlechte Luft. Wir geben Unsummen fürs Parken und für immer mehr Straßen aus. Und uns fehlt ein verlässlicher Nahverkehr, rund um die Uhr und an Feiertagen. Aber genau das brauchen wir in Tel Aviv."
Nitzan Horowitz hat versucht, die Tel Avivis für seine Verkehrspolitik zu gewinnen, erfolglos. Im Rennen um das Bürgermeisteramt musste er sich im vergangenen Jahr geschlagen geben. Das Nicht-Vorankommen in Tel Aviv hält er trotzdem für ein wichtiges Thema. Es beschäftigt schließlich jeden, sagt Horowitz.
Auch Emanuel Zolta steckt mit seinem Taxi immer wieder fest auf der Dizengov. Emanuel, oder Mano, ist 71, würde liebend gerne aufhören zu arbeiten, aber das Geld reicht nicht. Also fährt er weiter Taxi, mit viel Geduld und einem dicken Bauch. Den Job hat ihm die Armee damals vermittelt, nach einer schweren Kriegsverletzung. Besonders einträglich ist das Taxifahren nicht. Wie viele Taxen denn eigentlich unterwegs sind in der Stadt? Er weiß es nicht, fragt nach in der Taxizentrale.
3.500 sind es in Tel Aviv. Aber wie alle Busfahrer stellen auch viele Taxifahrer ihr Fahrzeug am Freitag Abend ab. Wer sich dann am Ruhetag Shabat fortbewegen will, ist in Tel Aviv (und noch viel mehr im Rest des Landes) auf sich allein gestellt. Für Manos Geschmack wäre weniger Verkehr besser:
"Vor 40 oder 45 Jahren sind hier am Shabbat, am Samstag, gar keine Autos gefahren. Die Straße war gesperrt und dann sind die Leute mit ihren Kindern mitten auf der Straße spazieren gegangen. Das war schön, ein echtes Vergnügen! Heute gibt's das nicht mehr. Heute ist immer überall Verkehr und keiner stört sich dran."
Die Alternative: Zwei statt vier Räder
Tatsächlich: So sehr Italiener oder Griechen im Straßenverkehr als Hitzköpfe gelten, so geduldig sind ihre östlichen Mittelmeer-Nachbarn, die Israelis. Sie haben sich wohl einfach daran gewöhnt, dass es auf den Straßen lange dauert. Da kommt es durchaus vor, dass sich während einer Grün-Phase an der Ampel gar nichts bewegt. Dann sind alle Fahrer ins Gespräch vertieft oder beantworten E-mails auf dem Smartphone und die Ampel wird schon wieder rot. Aber die Zahl derer, die dem Stau im Bus, im Taxi oder Auto entfliehen wollen, wächst. Die Alternative: Zwei statt vier Räder. Für Emanuel, den Taxifahrer, eine ernstzunehmende Konkurrenz:
"Die Fahrräder haben uns das Geschäft weggenommen. Es gibt elektrische Fahrräder, es gibt elektrische Roller. Früher, wenn einer von hier zur Kaplan oder Ibn Gvirol wollte, dann hat er ein Taxi genommen. Heute hat er ein Fahrrad oder einen Roller und fährt damit. Braucht keinTaxi. Deswegen haben wir weniger Arbeit."
In dem Einkaufszentrum am Ende der Dizengov-Straße hat gerade wieder einer der Läden aufgemacht, die ausschließlich Elektroräder und elektrische Roller verkaufen. Matan hat hier einen Verkäuferjob gefunden und eigentlich überhaupt keine Zeit:
"Das Geschäft läuft prächtig, jeder will jetzt ein E-Bike haben. So viele Leute würden gerne ihr Auto aufgeben und sich Versicherung und Sprit sparen. Einfach nur fahren, das zählt."
... und keinen Parkplatz suchen. Der Radverkäufer Matan erzählt von Berlin, da gebe es so tolle Radwege. Ansonsten ist er immer Motorrad gefahren, wenn er länger im Ausland gelebt hat. Aber das kannst du in Israel vergessen, sagt er, für ihn viel zu teuer. Immerhin ein Elektro-Rad kann er sich leisten und er kommt damit gut herum in der Stadt.
Das hat auch Cary überzeugt. Für umgerechnet 1500 Euro hat sie vor ein paar Tagen ihr erstes Elektro-Rad erstanden:
"Das ist toll, ich bin echt begeistert. Ich muss auch nur alle drei Tage aufladen. Meistens fahre ich aber auch keine besonders weiten Strecken, nur in der Stadt."
Tempo 30 schafft ihr elektrisch angetriebenes Rad bestimmt, sagt Cary. Aber das ist ihr schon zu schnell, langsamer ist ihr lieber. E-Mobilität, meist noch eine recht theoretische Diskussion, in Tel Aviv dagegen schon Realität.
Und das hört sich dann so an: Anfangs ist der Elektro-Roller etwas kippelig, aber schnell gewöhnt man sich daran, richtig die Balance zu halten, auch wenn der Elektromotor ziemlich ruckartig beschleunigt. Die größeren Roller-Modelle sind sogar so stabil ausgelegt, dass sie zwei Personen transportieren können, die hintereinander auf der Trittfläche stehen.
Vom Roller wieder ins Auto: Unterwegs mit Amnon Oppenheim. Die Anweisungen "rechts abbiegen" oder "danach links halten" lässt er sich im zackigen Kasernen-Ton ansagen. Er findet's lustig, eine Erinnerung an seine Zeit bei der Armee. Die Navigations-Software, die Amnon auf seinem Smartphone verwendet, ist in Israel besonders erfolgreich. Jeder, der sie benutzt, liefert automatisch Daten über die eigene Fahrtrichtung und Geschwindigkeit. Stecken schon viele im Stau, können ihn andere vermeiden. Amnon Oppenheim will mir eine Baustelle zeigen. Er arbeitet für Neta, eine staatliche Planungs- und Baugesellschaft, die die erste Metro-Bahnlinie quer durch Tel Aviv bauen soll. Linderung für die verstopfte Stadt:
"Das ist schon lustig: Wir haben im Büro einen Brief von der damaligen Ministerpräsidentin Golda Meir. Sie hat 1973 ihrem Verkehrsminister Shimon Peres – heute Staatspräsident – geschrieben: Bitte sorgen Sie dafür, dass im Großraum Tel Aviv ein Nahverkehrssystem aufgebaut wird. Also 1973 gab es solche Pläne zum ersten Mal. Und jetzt, 41 Jahre später, warten wir immer noch drauf."
Jerusalem hat schon eine Straßenbahn, wenn auch nur eine einzige Linie. Deren Bau wurde immer teurer, die Bauzeit immer länger und Ladenbesitzer wurden in den Ruin getrieben. In Tel Aviv halten einige den Bau der Metro-Bahn deshalb für ein genauso unsinniges Projekt. Zu teuer, zu aufwändig, zu langwierig. Amnon Oppenheim erzählt aber auch von denen, die sich gleich eine richtige U-Bahn wünschen und nicht eine Straßenbahn, die nur auf einem Teil der Strecke im Tunnel verschwindet. Tel Aviv im Jahr 2014 sollte schon längst seine Metro-Bahn haben.
Jahre vergingen ohne Fortschritt
Momentan hoffen die Planer, dass es in acht Jahren soweit ist und die ersten Fahrgäste einsteigen können. Die Bauarbeiten für einen acht Kilometer langen Tunnel unter der Stadt und für die Haltestellen stehen aber noch ganz am Anfang. Die Finanzierung war schwierig, ein Baukonsortium, an dem auch Siemens beteiligt war, kam nicht voran. Schließlich wurde der Auftrag für die Tel Aviver Stadtbahn zurückgezogen und neu vergeben. Jahre sind vergangen ohne sichtbaren Fortschritt. Dabei hat die junge Stadt Tel Aviv durchaus schon Bahn-Erfahrung.
Oppenheim: "Hier, das ist die alte türkische Strecke, so nennen wir sie. Das ist die Bahn aus ottomanischer Zeit, also über 100 Jahre alt. Die Gleise kamen von Jaffa, liefen durch das heutige Tel Aviv und gingen bis nach Jerusalem."
Im Süden von Tel Aviv werden die Gleise auf der alten Bahntrasse liegen. Diese Schneise ist teilweise frei geblieben – für die Planer der Metro-Bahn ein Geschenk. Die vergangenen Jahre haben dort immerhin die Autofahrer einen Parkplatz gefunden. Jetzt tut sich mitten auf der alten türkischen Bahnlinie eine riesige Grube auf. Stahlträger verhindern, dass die betonierten Wände dem Druck des Grundwassers nachgeben und einstürzen. Viel Aufwand wird hier getrieben. Demnächst werden die Tunnelbohrmaschinen in die Grube hinuntergelassen, damit sie sich durch den Untergrund der Stadt fressen können. Acht dieser gigantischen Apparate arbeiten dann parallel, um endlich das Projekt voranzutreiben, das Tel Aviv grundlegend verändern soll.
Oppenheim: "Wir erwarten, dass viele Leute ihr Auto stehen lassen. Denn diese Metro-Bahn ist verlässlich, sicher und schnell. Und sobald die Pläne feststanden, wurde an den künftigen Haltestellen und entlang der Linie kräftig gebaut. Tel Aviv und alle anderen beteiligten Städte werden davon profitieren, das sind Petach Tikva und Ramat Gan genauso wie Bnei Brak und Bat Yam. Die Gebäude steigen im Wert, ganze Stadtviertel werden renoviert. Also ein sehr gutes Projekt, das hilft der gesamten Wirtschaft."
Auf dem Rückweg verfährt sich der Stadtbahn-Planer mit dem Auto hoffnungslos im Gewirr der Einbahnstraßen, Baustellen versperren den Weg und ausgerechnet die sind in der Navigations-App nicht eingetragen. Wir fahren zweimal im Kreis, bis wir den richtigen Ausweg finden.
Alles soll besser werden mit der Metro-Bahn, aber Nitzan Horowitz, der Parlamentsabgeordnete und gescheiterte Bürgermeisterkandidat bleibt skeptisch. Horowitz hält die Bahn im Tunnel zwar für eine Fehlplanung, aber nun soll diese eine Linie eben gebaut werden. Fertig wird sie ja ohnehin erst in zehn Jahren, befürchtet er. Für das gesamte Nahverkehrsnetz, das entstehen soll, denkt er aber nicht an Schienen, sondern an eigene Spuren für moderne Stadtbusse:
"Ich schlage ein neues System vor, in dem die Busse Vorfahrt bekommen. Wenn du einen Bus nimmst, solltest du wissen, wann er abfährt und wann du am Arbeitsplatz oder in der Schule ankommst. Wenn du heute in Tel Aviv in einen Bus einsteigst, weißt du nicht, ob es zehn Minuten oder eine Stunde dauern wird. So geht das einfach nicht. Wenn die Busse mit den Autos im Stau feststecken, kann sich niemand auf den Nahverkehr verlassen."
Wie der Politiker Horowitz glaubt auch der Stadtplaner Jesse Fox, dass der Bau von Tunnelröhren für Tel Avivs erstes Massentransportmittel nicht der richtige Weg ist. Jesse selbst ist fast ausschließlich mit dem Rad in seiner Stadt unterwegs, weil er die Busse von heute nicht ausstehen kann – und trotzdem setzt er auf den Bus als Transportmittel für Tel Avivs Zukunft:
"Wenn es wirklich darum geht, den Menschen ihre Stadt zurückzugeben, dann ist ein Busnetz das Mittel der Wahl. Eine Metro würde nur den öffentlichen Verkehr in den Untergrund verlegen und die Straße bliebe den Autos überlassen."
Ohne Auto ist man ein Verlierer
Klar, es gibt die Millionenstädte, in denen man noch deutlich schlechter vorankommt. Aber Tel Aviv ist eben nicht der Moloch, der nicht beherrschbar wäre, sondern eine vergleichsweise junge, übersichtliche und geplante Stadt am Meer. Und verwinkelte Altstadtgassen können auch nicht als Erklärung für die Verkehrsprobleme herhalten. Also, woran liegt es, dass Tel Aviv an seinem Straßenverkehr erstickt?
Horowitz: "Die Politiker kennen es nicht anders oder sie sind einfach dumm, zum Teil liegt es am Druck der Lobbygruppen: Auto-Importeure, Straßenbauunternehmen, Parkhausbetreiber und die Taxifirmen. Und das Auto ist Statussymbol: Hast du kein Auto, bist du ein Verlierer."
Jesse: "Also hier im Nahen Osten sind Projekte dieser Größe immer kompliziert. Da reden zu viele Politiker und zu viele Unternehmen mit, die Bürokratie bremst und Koordinieren ist nicht unsere Stärke. Und so wird der Eröffnungstermin für die erste Metro in Tel Aviv immer wieder verschoben, zuerst von 2012 auf 2017, und momentan reden wir vom Jahr 2022 – wohlgemerkt nur für die erste Linie."
Zwischenzeitlich war schon das Budget allein für die Planungsarbeiten ausgereizt. Inzwischen kann die Planungsgesellschaft immerhin wieder Bauaufträge ausschreiben. Mano, der alte Taxifahrer, den nichts aus der Ruhe bringen kann, weiß, dass er den Zeiten der Pferdefuhrwerke nicht hinterhertrauern muss, das hat er auch noch erlebt. Aber es soll sich was verändern in seiner Stadt:
"Früher gab's nur ein paar Autos auf der Straße. Heute fährt jedes Kind mit dem Auto. Hier, schau nur: die Itzchak-Sadé-Straße – voller Autos! Die Metrobahn? Je schneller sie kommt, desto besser. Natürlich bin ich dafür. Wenn die Metro gebaut wird, wird es für mich leichter auf der Straße."
Es würde sich lohnen für die weiße Stadt am Meer. Wenn Tel Aviv seinen Verkehr bändigen könnte, kämen die Vorzüge dieser Stadt wieder zur Geltung: Die Bauhaus-Architektur, die grünen Alleen, das Leben auf der Straße ... Schließlich kann man ja in Tel Aviv fast das ganze Jahr über draußen sein.
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